Entscheidungsstichwort (Thema)

Ersatzzeit. Verschleppung. Kinder

 

Leitsatz (amtlich)

Ein anerkannter Heimkehrer, der zu einer Zeit geboren worden ist, in der seine deutschen Eltern aus Deutschland verschleppt waren, kann eine Ersatzzeit wegen Verschleppung zurückgelegt haben, solange ihm die Ausreise nach Deutschland untersagt war (Fortführung von BSG SozR 3-2200 § 1252 Nr 2).

 

Normenkette

AVG § 28 Abs. 1 Nr. 2 (= RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 2), § 29 Abs. 1 Nr. 5 (= RVO § 1252 Abs. 1 Nr. 5); SGB VI § 250 Abs. 1 Nr. 2

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 16.04.1993; Aktenzeichen L 4 An 2113/90)

SG Konstanz (Urteil vom 13.09.1990; Aktenzeichen S 6 An 453/89)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. April 1993 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die Höhe einer Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU).

Die am 14. September 1958 in K.… geborene Klägerin wohnt seit dem 30. Mai 1988 in der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist Inhaberin eines Ausweises für Vertriebene und Flüchtlinge A… sowie einer Heimkehrerbescheinigung, in der festgestellt ist, daß sie Heimkehrerin iS des § 1 Abs 3 des Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer (Heimkehrergesetz – HKG) vom 19. Juni 1950 (BGBl I S 221) und während der Verschleppung ihrer Eltern geboren ist.

Ihre Eltern und deren Familien waren deutscher Abstammung und lebten bis 1943 in deutschen Siedlungsgebieten in der U.… Sodann wurden sie in den W.… umgesiedelt und gelangten im Frühjahr 1945 auf der Flucht in den Kreis E.… Dort wurden sie von sowjetischen Truppen gefangengenommen und gegen ihren Willen in ein Lager nach S.… im U.… verbracht. Bis 1956 unterstanden sie der Lagerkommandantur. 1947 hatten die Eltern der Klägerin geheiratet. Der Vater starb 1965, die Mutter 1984. Sowohl die Eltern als auch die Klägerin selbst hatten Ausreiseanträge gestellt, die – bis auf den letzten Ausreiseantrag der Klägerin – stets abgelehnt worden waren.

Die Klägerin kann seit dem 9. April 1987 wegen eines Herzleidens keiner Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit mehr nachgehen. Ihren Antrag vom 14. Oktober 1988, ihr eine Rente wegen EU zu gewähren, lehnte die beklagte Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) durch den streitigen Bescheid vom 24. Januar 1989, bestätigt durch den Widerspruchsbescheid vom 31. März 1989, ab, weil die Wartezeit, nämlich eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten, nicht erfüllt sei. Auch die im Klageverfahren von der BfA anerkannten glaubhaft gemachten Beitragszeiten führten nur zu einer Versicherungszeit von 58 Monaten. Während des Berufungsverfahrens bewilligte die Beklagte mit Bescheid vom 16. Juli 1992 der Klägerin eine Rente wegen EU ab 1. Januar 1992, weil nach den Vorschriften des Rentenreformgesetzes 1992 die erforderliche Wartezeit aufgrund des Fortfalls der Fünf/Sechstel-Kürzung nunmehr erfüllt sei.

Das Sozialgericht (SG) Konstanz hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 13. September 1990). Das Landessozialgericht Baden-Württemberg (LSG) hat das Urteil des SG und den Bescheid vom 24. Januar 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 1989 aufgehoben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 16. Juli 1992 verurteilt, der Klägerin Rente wegen EU bereits ab 1. Oktober 1988 zu gewähren und dabei eine weitere glaubhaft gemachte Beitragszeit sowie für den Zeitraum vom 14. September 1972 bis zum 30. April 1987 die nicht bereits mit Beitrags- oder Kindererziehungszeiten belegten Zeiten als Ersatzzeiten unter Beibehaltung der Fünf/Sechstel-Kürzung der Beitragszeiten zu berücksichtigen. Im übrigen hat es die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Das LSG ist hinsichtlich der Berücksichtigung von Ersatzzeiten wegen Verschleppung folgender Ansicht: Gemäß § 300 Abs 2 Sechstes Buch Sozialgesetzbuch (SGB VI) sei das im Oktober 1988 gültige Recht, also § 28 Abs 1 Nr 2 Angestelltenversicherungsgesetz (≪AVG≫ = § 1251 Abs 1 Nr 2 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫), anzuwenden. Aufgrund der Heimkehrerbescheinigung stehe die Heimkehrereigenschaft der Klägerin bindend fest. Der hiervon unabhängig zu prüfende Verschleppungstatbestand liege vor. Zwar sei die Klägerin selbst weder interniert noch gegen ihren Willen in ein anderes Staatsgebiet verbracht worden. Nach der Rechtsprechung des 5. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 25. Februar 1992 (SozR 3-2200 § 1252 Nr 2) reiche aber für das Vorliegen einer Internierung oder Verschleppung iS der Ersatzzeittatbestände eine Internierung oder Verschleppung der Eltern aus, weil Kinder insofern das Schicksal ihrer Eltern teilten. Die Eltern der Klägerin seien Deutsche gewesen, die von einer Besatzungsmacht gegen ihren Willen aus E.… in den U.… verbracht worden seien. Die Klägerin habe von Geburt an das Verschleppungsschicksal ihrer Eltern geteilt. Der 5. Senat des BSG (aaO) habe klargestellt, daß die faktische Beendigung der Internierung nicht gleichzeitig auch die Verschleppung beende, diese könne durchaus bis zur späteren Aussiedlung in die Bundesrepublik Deutschland fortbestanden haben. Dies treffe auf die Klägerin zu, weil ihre Eltern und später sie selbst stets versucht hätten, eine Ausreisegenehmigung zu erhalten. Durch deren Versagung sei sie an der Ausreise bzw “Rückkehr” gehindert worden, so daß ihre Verschleppung bis zum Zeitpunkt ihrer Ausreise nicht beendet worden sei. Anders als bei dem in § 28 Abs 1 Nr 3 AVG genannten “Festgehaltenwerden” komme es für die Verschleppung nicht auf individualisierte Ausreisebehinderungen an. Habe nämlich zu irgendeinem Zeitpunkt eine Verschleppung stattgefunden, so werde dieser Zustand erst dann beendet, wenn die von der Verschleppung betroffene Person nicht mehr daran gehindert wird, den ausländischen Staat, in den sie verschleppt wurde, wieder zu verlassen.

Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 28 Abs 1 Nr 2 AVG. Das Berufungsgericht habe verkannt, daß das Merkmal der Verschleppung stets in der Person des Versicherten selbst gegeben sein müsse. Die Klägerin sei nicht verschleppt worden. Schon deshalb sei bei wortgetreuer Auslegung der Ersatzzeittatbestand nicht erfüllt. Ferner sei der Verschleppungsbegriff ein zweigliedriges Tatbestandsmerkmal. Zum einen müsse der Betroffene gegen seinen Willen in ein ausländisches Staatsgebiet verbracht worden sein, zum anderen müsse er an der Rückkehr gehindert worden sein. Die Klägerin sei offensichtlich nicht gegen ihren Willen in das fremde Staatsgebiet verbracht worden. Die bloße Ausreiseverhinderung reiche nicht aus. Wortlaut und Sprachlogik stünden also der Auffassung des Berufungsgerichts entgegen. Das Urteil des 5. Senats des BSG vom 25. Februar 1992 (aaO) sei zur Wartezeitfiktion des § 1252 Abs 1 Nr 5 RVO (= § 29 Abs 1 Nr 5 AVG) ergangen; dort lasse sich die Einbeziehung der Kinder aus dem Gesetzeszweck begründen. § 29 Abs 1 Nr 5 AVG spreche ausdrücklich von der Verschleppung iS des § 1 Abs 3 und 4 HKG; deshalb sei es durchaus gerechtfertigt, daß das BSG die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Verschleppungstatbestand bei Kindern insoweit übernommen habe. § 28 Abs 1 Nr 2 AVG nehme hingegen nicht konkret auf das HKG Bezug. Daher sei eine unterschiedliche rechtliche Beurteilung angezeigt. Ersatzzeiten seien nämlich ihrem Wesen nach Zeiten, in denen mit Rücksicht auf die im Gesetz festgelegten besonderen Tatbestände und die mit diesen verbundenen außergewöhnlichen Umstände von dem Versicherten eine Beitragsleistung in der Regel nicht zu erwarten gewesen sei (Hinweise auf BSG SozR 2200 § 1251 Nr 6; SozR Nr 58 zu § 1251 RVO; SozR Nr 13 zu § 1251 RVO). Dieser Grundsatz lasse es nicht zu, die Auffassung zu vertreten, daß Kinder das rechtliche Schicksal ihrer Eltern teilten. Mangels widerwilliger Verbringung in ein fremdes Staatsgebiet könne eine Verschleppung iS des § 28 Abs 1 Nr 2 AVG nicht gegeben sein. Ein ungeborenes Kind könne nicht verschleppt werden. Dem nachgeborenen Kind könne die Verschleppung der Eltern nicht zugerechnet werden. Außerdem bildeten die Ersatzzeittatbestände einen abgeschlossenen Katalog, der nicht ausdehnend ausgelegt werden dürfe. Die Bezugnahme des LSG auf die Rechtsprechung des BSG zum Ersatzzeittatbestand des § 28 Abs 1 Nr 3 AVG vermöge die unzulässige Ausdehnung nicht zu rechtfertigen. Dort stelle das Gesetz nicht auf die Verschleppung ab. Vielmehr werde der Stellung der nachgeborenen Kinder durch das Merkmal des “Festgehaltenwerdens” Rechnung getragen. Entgegen der Ansicht der Klägerin könne ihr aber auch keine Ersatzzeit nach Nr 3 aaO zuerkannt werden, weil sie nur dem allgemeinen Ausreiseverbot, aber keiner speziellen Ausreisebehinderung wegen ihrer deutschen Volkszugehörigkeit unterworfen gewesen sei.

Die Beklagte beantragt schriftsätzlich sinngemäß,

das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. April 1993 abzuändern und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Konstanz vom 13. September 1990 insoweit zurückzuweisen, als die Beklagte unter Aufhebung bzw Änderung der angefochtenen Bescheide vom 24. Januar 1989 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 31. März 1989 und des Bescheides vom 16. Juli 1992 verurteilt worden ist, bei der Gewährung der Rente wegen Erwerbsunfähigkeit ab 1. Oktober 1988 die Zeit vom 14. September 1972 bis zum 30. April 1987 als Ersatzzeit der Verschleppung zu berücksichtigen, soweit diese Zeiträume nicht bereits mit Beitrags- oder Kindererziehungszeiten belegt sind.

Die Klägerin beantragt,

die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 16. April 1993 zurückzuweisen.

Sie hält dieses Urteil für im Ergebnis zutreffend, meint aber, daß vorrangig eine Ersatzzeit nach § 28 Abs 1 Nr 3 AVG vorliege. Wegen des weiteren Vorbringens der Klägerin wird auf deren Schriftsätze vom 10. August 1993 (Bl 33 bis 52 der BSG-Akte), vom 21. Oktober 1993 (Bl 58 bis 59 der BSG-Akte) und vom 11. Januar 1994 (Bl 80 bis 81 der BSG-Akte) Bezug genommen.

Die Beklagte hat im Revisionsverfahren durch Bescheid vom 27. Dezember 1993 der Klägerin Rente wegen EU ab 1. Oktober 1988 bewilligt.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Beklagten ist unbegründet. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist nur noch die Frage, ob die Beklagte gemäß ihrer Verurteilung durch das LSG bei der Feststellung der Höhe der Rente wegen EU, die der Klägerin ab Oktober 1988 zu gewähren ist, “in der Zeit vom 14. September 1972 bis 30. April 1987 die nicht bereits mit Beitrags- oder Kindererziehungszeiten belegten Zeiten als Ersatzzeiten der Verschleppung zu berücksichtigen” hat. Die Begrenzung der Revision auf die Frage der Anrechnung von Ersatzzeiten ist zulässig, weil hinsichtlich der Überprüfung ihrer Art nach unterschiedliche Versicherungszeiten für abgegrenzte Zeiträume im revisionsrechtlichen Sinne teilbare Streitgegenstände vorliegen.

Das Berufungsgericht hat – entgegen der Ansicht der Beklagten – in Ergebnis und Begründung zutreffend entschieden, daß die Klägerin vom 14. September 1972 bis zum 30. April 1987 eine – worüber nicht gestritten wird: in dem im Berufungsurteil genannten Umfange anzurechnende – Ersatzzeit wegen Verschleppung zurückgelegt hat. Das LSG hat das Gesetz und die höchstrichterliche Rechtsprechung hierzu zutreffend ausgelegt und angewendet. Den Ausführungen des Berufungsgerichts ist im wesentlichen nichts hinzuzufügen.

Gemäß § 28 Abs 1 Nr 2 AVG (= § 1251 Abs 1 Nr 2 RVO; vgl § 250 Nr 2 SGB VI) werden für die Erfüllung der Wartezeit als Ersatzzeit ua Zeiten der Internierung oder der Verschleppung angerechnet, wenn der Versicherte Heimkehrer iS des § 1 HKG ist. Die letztgenannte Voraussetzung ist durch die Heimkehrerbescheinigung bindend festgestellt. Die Klägerin ist auch in den noch umstrittenen Zeiten verschleppt gewesen. Hierfür reicht jedenfalls aus, daß der Heimkehrer zu einer Zeit geboren worden ist, in der seine deutschen Eltern aus Deutschland verschleppt waren (BSG SozR 3-2200 § 1252 Nr 2 mwN), solange ihm die Ausreise nach Deutschland untersagt war. Nach den tatsächlichen Feststellungen des Berufungsgerichts, die den Senat binden (§§ 163, 164 Abs 2 Satz 3 SGG), sind die Eltern der Klägerin Deutsche gewesen, die von der sowjetischen Besatzungsmacht gegen ihren Willen aus Deutschland in den U.… verbracht wurden und die auch nach Beendigung der Lagerzeit durch das allgemeine Ausreiseverbot (und durch Ablehnung der Ausreiseanträge) daran gehindert wurden, nach Deutschland zurückzukehren. Die Klägerin wurde in dieser Zeit geboren und seit ihrer Volljährigkeit auch selbst auf gleiche Weise in der Sowjetunion festgehalten. Sie hat also für die Zeit nach Vollendung ihres 14. Lebensjahres bis zum Ende der Verhinderung ihrer Ausreise nach Deutschland den Tatbestand einer Verschleppungsersatzzeit erfüllt. Dieser kommt – wie das LSG gleichfalls richtig gesehen hat – gegenüber zeitgleich zurückgelegten Beitrags- und Kindererziehungszeiten subsidiär zur Anwendung.

Die Einwendungen der Beklagten gegen das Urteil des Berufungsgerichts überzeugen nicht:

Die Berücksichtigung solcher während der Verschleppung der Eltern geborenen Kinder hält sich im Rahmen einer wortgetreuen Auslegung des Gesetzes, dessen Text nur von “Zeiten der Verschleppung” spricht. Für den hiermit gemeinten Regelfall hat das BSG (vgl SozR 3-2200 § 1252 Nr 2 mwN auch zum folgenden) auf die widerwillige Verbringung in fremdes Staatsgebiet und auf die Rückkehrverhinderung abgestellt. Damit sind für die wichtigsten Anwendungsfälle der Vorschrift im Wege richterlicher Auslegung die Grundvoraussetzungen einer Zeit der Verschleppung umschrieben. Hingegen ist vornehmlich nach Sinn und Zweck des Gesetzes zu beurteilen, ob der im Gesetz verwendete Ausdruck “Zeiten der Verschleppung” auch die Zeiten meint, die ein von verschleppten Eltern während der Zeit ihrer Verschleppung geborenes Kind im Verschleppungsgebiet ohne Ausreisemöglichkeit verbracht hat. Der 5. Senat des BSG hat dies geklärt. Er hat die vom BSG zuvor für den Regelfall aufgestellten Auslegungshilfen (Interpretamente) nicht als abschließend qualifiziert, sondern um die Erkenntnis ergänzt, daß – jedenfalls in Fällen der vorliegenden Art – Kinder von Verschleppten selbst Zeiten der Verschleppung zurückgelegt haben können.

Zutreffend ist das LSG von der Anwendbarkeit der Rechtsprechung des 5. Senats des BSG (aaO) ausgegangen. Entgegen der Ansicht der Beklagten setzt auch § 29 Abs 1 Nr 5 AVG voraus, daß der Versicherte Zeiten der Verschleppung zurückgelegt hat (“während … der Verschleppung”). Dabei hat der Hinweis auf § 1 Abs 3 (und 4) HKG lediglich erläuternde und klarstellende Bedeutung in dem Sinne, daß es sich bei der Internierung oder Verschleppung nur darum handeln darf, daß Deutsche wegen ihrer Volkszugehörigkeit oder ihrer Staatsangehörigkeit oder in ursächlichem Zusammenhang mit den Kriegsereignissen außerhalb des Bundesgebietes und des Landes Berlin interniert oder in ein ausländisches Staatsgebiet verschleppt worden sind. Dasselbe gilt für § 28 Abs 1 Nr 2 AVG, der die Verbindung zwischen Verschleppung oder Internierung und dem HKG dadurch herstellt, daß die Grundvoraussetzungen der Heimkehrereigenschaft (hier: nach § 1 Abs 3 HKG) während der Zeiten der Internierung oder Verschleppung vorgelegen haben müssen. § 29 Abs 1 Nr 5 AVG knüpft hieran nur zusätzlich die Rechtsfolge der Wartezeitfiktion, falls der Versicherte während der Zeit der Internierung oder Verschleppung berufs- oder erwerbsunfähig geworden oder gestorben ist. Ist also während der Zeit der Erfüllung des Ersatzzeittatbestandes des § 28 Abs 1 Nr 2 AVG (und vermutungshalber deswegen) sogar der Versicherungsfall eingetreten, gilt nach § 29 Abs 1 Nr 5 AVG die Wartezeit als erfüllt. Insoweit konsumiert diese Vorschrift den § 28 Abs 1 Nr 2 AVG.

Mit dem von der Beklagten angesprochenen “Wesen der Ersatzzeiten” ist die Einbeziehung der Kinder von Verschleppten durchaus vereinbar. Als deutsche Staatsangehörige oder Deutsche iS Art 116 des Grundgesetzes (GG) hätten sie ab Vollendung des 14. Lebensjahres die Möglichkeit gehabt, durch Ausübung einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung Beiträge zur deutschen Rentenversicherung zu zahlen. Diese Möglichkeit, die allen deutschen Kindern mit der Geburt offensteht, wurde ihnen durch die Verschleppung ihrer Eltern genommen. Hier realisiert sich genau derjenige Schaden, dessentwegen die Ersatzzeittatbestände als soziale Entschädigung im Gewande der Sozialversicherung geschaffen worden sind.

Es kann dahingestellt bleiben, ob es sich bei dieser Gesetzesauslegung um eine – wie die Beklagte meint – “extensive Interpretation” handelt. Denn eine ausdehnende Auslegung der Ersatzzeittatbestände ist nicht etwa deshalb gesetzwidrig, weil § 28 Abs 1 Nrn 1 bis 6 AVG einen abschließenden Katalog der Ersatzzeiten enthält. Zwar mag eine als abschließend zu verstehende gesetzliche Aufzählung von rechtserheblichen Umständen grundsätzlich (wenn auch nicht notwendig: immer) einer analogen Anwendung einzelner in der Aufzählung enthaltener Tatbestände entgegenstehen. Ob jedoch die aufgelisteten Umstände einschränkend oder ausdehnend auszulegen sind, ergibt sich jeweils erst vor allem aus Sinn und Zweck des Gesetzes unter Berücksichtigung seines Regelungszusammenhangs.

Nach alledem war die Revision der Beklagten gegen das zutreffende Urteil des LSG zurückzuweisen.

Da der Bescheid vom 27. Dezember 1993 gemäß § 171 Abs 2 SGG als mit der Klage vor dem SG angefochten gilt, sind die Akten diesem Gericht zuzuleiten.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und Abs 4 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI921729

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge