Leitsatz (redaktionell)

1. Hilflosigkeit liegt vor, wenn der Beschädigte infolge der Schädigung nicht nur beim An- und Auskleiden fremder Hilfe, sondern auch zur Teilnahme am Straßenverkehr einer belebten Großstadt ständig einer Begleitperson bedarf.

2. Die Beurteilung der Hilflosigkeit iS des BVG § 35 ist keine rein medizinische, sondern eine Tatfrage, die in jedem Einzelfall unabhängig von der medizinischen Auffassung geprüft werden muß.

3. Hilflosigkeit liegt schon dann vor, wenn eine Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß. Bei einem Gehbehinderten kann die Teilnahme am Straßenverkehr eine ständige Bereitschaft dieser Hilfskraft auch dann erfordern, wenn der Beschädigte keine berufliche Tätigkeit ausübt.

4. Nach der klaren Vorschrift des BVG § 35 sind allein der persönliche Leidenszustand des Beschädigten und seine Hilflosigkeit maßgebend; es kann nicht entscheidend sein, daß er verheiratet ist.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 Fassung: 1957-07-01

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen in Essen vom 11. Juli 1957 aufgehoben. Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 23. November 1955 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger ist im Jahre 1943 durch Granatsplitter im Nacken an der Halswirbelsäule verletzt worden. Er bezog auf Grund des Einsatz-Fürsorge- und Versorgungsgesetzes vom 6. Juli 1939 gemäß Bescheid vom 2. Oktober 1944 Rente wegen Arbeitsverwendungsunfähigkeit, eine Berufszulage, Versehrtengeld nach Stufe III und Versehrtenzulage; ein Antrag auf Gewährung von Pflegezulage war abgelehnt worden, weil nach ärztlichem Gutachten keine Hilfslosigkeit bestand. Nach dem Jahre 1945 erhielt der Kläger Rente auf Grund der Sozialversicherungsdirektive (SVD) Nr. 11 und später der SVD Nr. 27 nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) um zuletzt 100 %. Im Umanerkennungsbescheid auf Grund des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) vom 2. März 1951 wurden die Bezeichnung der Schädigungsfolgen mit "Lähmungserscheinungen nach Halsmarkschädigung infolge Granatsplitterverletzung der Halswirbelsäule" und die Rente eines Erwerbsunfähigen beibehalten.

Am 26. März 1952 beantragte der Kläger die Gewährung einer Pflegezulage, nachdem zuvor gelegentlich in den ärztlichen Gutachten aus Anlaß von Nachuntersuchungen die Frage der Pflegebedürftigkeit behandelt, aber vom Versorgungsamt hierüber nie durch Bescheid förmlich entschieden worden war. Nach Einholung eines Gutachtens von dem Facharzt für Neurologie Dr. Sp und Stellungnahmen des ärztlichen Dienstes des Versorgungsamts blieben der Antrag und der Einspruch erfolglos, weil der Kläger zwar beim An- und Auskleiden fremde Hilfe brauche, auch im öffentlichen Straßenverkehr einer Begleitperson bedürfe, aber wegen dieser Behinderung nur für einzelne Verrichtungen des täglichen Lebens und nicht dauernd auf fremde Hilfe angewiesen sei.

Der Kläger hat Berufung nach altem Recht eingelegt, die nach dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage auf das Sozialgericht übergegangen ist. Dieses hat nach Einholung eines Gutachtens von dem Sachverständigen Dr. K durch Urteil vom 23. November 1955 den Beklagten verurteilt, Pflegezulage in Höhe von 50,- DM vom 1. März 1952 bis 31. Juli 1953 und in Höhe von 60,- DM ab 1. August 1953 zu gewähren. Auf die Berufung des Beklagten hat das Landessozialgericht durch Urteil vom 11. Juli 1957 unter Abänderung des Urteils des Sozialgerichts die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen. Es hat die Berufung für zulässig gehalten, weil es sich um die erstmalige Feststellung der Pflegezulage gehandelt habe. Für den Kläger könne die Notwendigkeit einer jederzeit bereitstehenden fremden Hilfe auch unter Berücksichtigung der Tatsache nicht anerkannt werden, daß er in einer Großstadt lebe, deren Straßenverkehr besondere Gefahren mit sich bringe.

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 23. November 1955 zurückzuweisen, hilfsweise, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des § 35 BVG.

Der Beklagte beantragt,

die Revision des Klägers zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Revision ist infolge Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und daher zulässig.

Wie das Bundessozialgericht in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, muß das Revisionsgericht vor einer Untersuchung der Begründetheit des Rechtsmittels auf Grund der geltend gemachten Revisionsgründe von Amts wegen prüfen, ob irgendwelche unverzichtbaren Prozeßvoraussetzungen fehlen. Zu diesen gehört auch die Zulässigkeit der Berufung (BSG. 2 S. 225, 3 S. 126 und 281). In seinen Ausführungen über diese Prozeßvoraussetzung hat das Landessozialgericht nicht berücksichtigt, daß der Kläger nach dem Einsatzfürsorge- und Versorgungsgesetz die Gewährung von Pflegezulage im Jahre 1944 beantragt hatte und daß dieser Antrag durch Bescheid vom 2. Oktober 1944 abgelehnt worden ist. Dies gibt zu Bedenken keinen Anlaß. Denn nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts hat das BVG die älteren Versorgungsgesetze aufgehoben; es führt nicht die Versorgung nach früherem Recht fort; die alten Entscheidungen sind daher hinfällig geworden (BSG. 1 S. 215, 3 S. 257). Nach dem staatsrechtlichen Zusammenbruch wäre für den Kläger die Gewährung einer Pflegezulage erstmalig nach der SVD Nr. 27 möglich gewesen, als die Kriegsopferversorgung nach den Grundsätzen der Unfallversicherung durchgeführt wurde. Zur Zeit der Gültigkeit der SVD Nr. 27 aber hat der Kläger einen solchen Antrag nicht gestellt. Auch später bei der Umanerkennung ist über die Pflegezulage nicht entschieden worden. Insbesondere hat die Versorgungsverwaltung nicht auf die alte ablehnende Entscheidung vom 2. Oktober 1944 zurückgegriffen. Mithin betraf der Antrag vom 26. März 1952 die erstmalige Gewährung der Pflegezulage.

Das Bundessozialgericht hat in ständiger Rechtsprechung entschieden, daß es sich in derartigen Fällen nicht um eine Neufeststellung der Versorgungsbezüge wegen Änderung der Verhältnisse, sondern vielmehr um die Erstfeststellung über einen Teil der Versorgungsbezüge handelt (BSG. 3 S. 274, 8 S. 97 und 132, SozR. SGG § 148 Bl. Da 6 Nr. 17). Infolgedessen hat hier das Landessozialgericht zu Recht angenommen, daß die Berufung zulässig war.

Die Revision ist auch begründet.

Das Landessozialgericht hat hier entschieden, daß der Kläger nicht hilflos ist. Dies trifft nicht zu. Nach § 35 BVG wird Pflegezulage gewährt, solange der Beschädigte infolge der Schädigung so hilflos ist, daß er nicht ohne fremde Wartung und Pflege bestehen kann. Der Begriff der Hilflosigkeit ist im Gesetz nicht erläutert. Er ist dahin zu verstehen, daß derjenige Beschädigte hilflos im Sinne des § 35 BVG ist, der für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden - nicht nur für einzelne - Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens ganz oder in erheblichem Umfang fremder Hilfe dauernd bedarf; dabei ist nicht erforderlich, daß die Hilfe tatsächlich fortwährend geleistet wird. Es genügt schon, daß die Hilfskraft ständig in Bereitschaft sein muß (BSG. 8 S. 97 (99)). Hierfür hat das Berufungsgericht festgestellt, daß der Kläger zum An- und Auskleiden auf fremde Hilfe angewiesen ist, daß der Straßenverkehr der Großstadt, in der er lebt, besondere Gefahren für einen Gehbehinderten mit sich bringt und der Kläger zu einer regelmäßigen Bewegung im Großstadtverkehr ohne Begleitung außerstande ist. Gegen diese Feststellungen sind Revisionsrügen nicht vorgebracht worden. Sie binden nach § 163 SGG das Revisionsgericht.

Es mag zutreffen, wie der Sachverständige Dr. K ausgeführt hat, daß der Kläger in ländlichen Bezirken ohne Gefahr ausgehen kann. Im vorliegenden hat der Kläger seinen Wohnsitz in D, - einer Großstadt, deren Straßenverkehr besondere Gefahren für einen Gehbehinderten mit sich bringt - und das Berufungsgericht hat seine Entscheidung zutreffend auf Meiderich als Wohnsitz abgestellt. Die Folgerungen, welche das Landessozialgericht aus seinen vorerwähnten Feststellungen gezogen hat, sind jedoch nicht frei von Rechtsirrtum. Zu Unrecht ist in dem angefochtenen Urteil das Verlassen der Wohnung wegen der fehlenden Erwerbstätigkeit ausschließlich im Hinblick auf die Erholung an der frischen Luft behandelt worden. Das Berufungsgericht hat hierbei nicht berücksichtigt, daß nach der klaren Vorschrift des § 35 BVG allein der persönliche Leidenszustand des Beschädigten und seine Hilflosigkeit maßgebend sind; es kann nicht entscheidend sein, daß er verheiratet ist (BSG. 8 S. 100). Deshalb darf nicht davon ausgegangen werden, daß er - etwa im Hinblick auf Hilfsmöglichkeiten seitens seiner Familienangehörigen - keine Besorgungen zu machen und die Wohnung zu diesen Zwecken nicht zu verlassen brauche. Vielmehr muß es darauf abgestellt werden, daß der Kläger - wenn die Stellung in seiner Lebensführung unberücksichtigt bleibt - zur Fristung seines Lebens die lebensnotwendigen Dinge, insbesondere Nahrungsmittel, einkaufen und Gaststätten aufsuchen müßte, falls er die Hauptmahlzeit nicht in seiner Wohnung zubereiten könnte. In beiden Fällen müßte er sich, obwohl er nicht erwerbstätig ist, während der allgemeinen Geschäftszeiten im Straßenverkehr bewegen und könnte nicht auf die Zeiten verwiesen werden, die nur einen geringen Straßenverkehr aufweisen. Zwar kann von den Kriegsbeschädigten erwartet werden, daß sie ihre Beschäftigung und ihre Lebensgewohnheiten möglichst weitgehend ihren Verletzungen anpassen und dadurch zusätzliche Leistungen der Allgemeinheit vermeiden. Dies findet aber eine Grenze dort, wo diese Rücksichtnahme über das Erträgliche und Zumutbare hinausgeht. Eine Rücksichtnahme, wie sie das Landessozialgericht von dem Kläger erwartet, würde aber die Grenzen überschreiten und müßte als nicht mehr zumutbar betrachtet werden, weil dann der Kläger entsprechend den oben dargelegten Grundsätzen nicht mehr selbst die zur Fristung des Lebens notwendigen Dinge einkaufen könnte. Vorliegend kommt also zu der - die Pflegezulage allein nicht begründenden - Notwendigkeit von Hilfe beim An- und Auskleiden noch die Hilfe als Begleitung im Straßenverkehr hinzu. Dies hat das Landessozialgericht nicht berücksichtigt und ist zu einer unrichtigen Anwendung des § 35 BVG gekommen. Seine Entscheidung konnte deshalb nicht aufrechterhalten werden.

Nach § 170 Abs. 2 Satz 1 SGG hat der Senat in der Sache selbst entschieden. Ob ein Zustand der Hilflosigkeit im Sinne des § 35 BVG besteht, ist keine rein medizinische, sondern eine Tatfrage; sie muß in jedem Einzelfall unabhängig vor der medizinischen Auffassung geprüft werden (BSG. 8 S. 99). Nach den das Bundessozialgericht bindenden Feststellungen über die maßgebenden Verhältnisse benötigt der Kläger fremde Hilfe zum An- und Auskleiden und für die Bewegung im Straßenverkehr. Entgegen der im Einspruchsbescheid niedergelegten Ansicht des Landesversorgungsamts muß sich die für den Kläger notwendige Begleitperson bei dem Umfang des Verkehrs in einer Großstadt und bei den vielfältigen Gelegenheiten, die eine Bewegung im Straßenverkehr auch für einen nicht mehr Berufstätigen erfordern, so oft am Tage für einen Ausgang bereithalten, daß dies zusammen mit der Hilfe beim An- und Auskleiden ihre ständige Bereitschaft erheischt. Dies hat das Sozialgericht in seinem Urteil vom 23. November 1955 im Ergebnis zutreffend beurteilt. Da dieses Urteil der Sach- und Rechtslage entspricht, war die Berufung hiergegen, wie geschehen, zurückzuweisen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2325566

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