Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 14.10.1960)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. Oktober 1960 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Rechtsstreit betrifft die Frage, ob der Besuch einer kaufmännischen Privatschule nach Abschluß einer Lehre als Einzelhandelskaufmann als Berufsausbildung i. S. des § 1267 Abs. 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzusehen ist.

Der am 24. Oktober 1938 geborene Kläger bezog bis zur Vollendung seines 18. Lebensjahres Waisenrente aus der Versicherung seines im letzten Weltkrieg gefallenen Vaters. Vom 1. April 1933 bis 31. März 1956 hatte er in einem Papiereinzelhandelsgeschäft die Lehre als Einzelhandelskaufmann durchgemacht. Anschließend leistete er Wehrdienst in der Bundeswehr. Um fehlende Kenntnisse und Fertigkeiten in Buchführung, Kurzschrift und Maschineschreiben, zu erwerben und dadurch bessere Berufsaussichten im Großhandel und in der Industrie zu haben, besuchte er vom 1. Oktober 1958 bis 31. März 1959 einen kaufmännischen Lehrgang an der Prager-Schule in Göttingen, einer kaufmännischen Privatschule. Der Lehrgang umfaßte 27 Unterrichtsstunden in der Woche.

Den am 18. September 1958 gestellten Antrag des Klägers, ihm Waisenrente für die Zeit vom 1. Oktober 1958 bis 31. März 1959 zu gewähren, lehnte die Beklagte durch Bescheid vom 3. Januar 1959 mit der Begründung ab, der Nachweis, daß es sich bei dem Lehrgang in der Prager-Schule um eine Schul- oder Berufsausbildung handle, sei nicht erbracht; es könne sich bei dem Lehrgang nur um eine berufliche Fortbildung handeln, da die Berufsausbildung bereits am 31. März 1956 abgeschlossen genesen sei.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides verurteilt, dem Kläger Waisenrente für die Zeit vom 1. Oktober 1958 bis zum 31. März 1959 zu gewähren, und die Berufung zugelassen (Urteil vom 23. Februar 1960). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten gegen dieses Urteil zurückgewiesen und die Revision zugelassen (Urteil vom 14. Oktober 1960).

Gegen dieses Urteil hat die Beklagte Revision eingelegt. Sie rügt, das LSG habe den Begriff „Berufsausbildung” i. S. des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO verkannt. Zwar sei die Möglichkeit gegeben, nach abgeschlossener Berufsausbildung eine auf die Ausübung eines anderen Berufs gerichtete Ausbildung zu beginnen und während ihrer Dauer grundsätzlich auch Waisenrente zu beziehen. Der sechsmonatige Kursus in der Prager-Schule in Göttingen stelle aber keine Ausbildung für einen anderen als den in dreijähriger Lehrzeit erlernten Beruf dar. Abgesehen davon, daß der Besuch eines kurzen Lehrgangs einer kaufmännischen Privatschule nicht zur Ausübung eines anderen Berufs befähigen würde, führe das angefochtene Urteil selbst an, daß der Kläger durch den Besuch des Lehrgangs habe wettbewerbsfähiger werden sollen. Die Frage der Wettbewerbsfähigkeit und damit die eines möglichen höheren Verdienstes dürfe aber mit der Berufsausbildung nicht verkoppelt werden. Die Bewährung im erlernten Beruf müsse jedem selbst überlassen bleiben. Die Revision rügt weiterhin, die Vorinstanz habe den Sachverhalt auch insofern nicht vollständig ermittelt, als sie nicht festgestellt habe, ob der Kläger mit der abgeschlossenen Einzelhandelslehre auch im Großhandel eine kaufmännische Tätigkeit hätte aufnehmen können. Sofern hierfür noch gewisse Lücken beständen, sei es Sache des kaufmännischen Gehilfen, durch eigene Fortbildung und Verbesserung der Kenntnisse für deren Schließung zu sorgen. Der Besuch des sechs Monate dauernden Kurses der Privatschule stelle sich daher nicht als Berufsausbildung, sondern als Fortbildung und Vervollkommnung im erlernten Beruf dar.

Die Beklagte beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Hildesheim vom 23. Februar 1960 die Klage abzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält die Revision für unbegründet.

Der zulässigen Revision mußte der Erfolg versagt bleiben.

Der Senat ist den Entscheidungen der Vorinstanzen beigetreten, daß der Kläger sich während des Besuches der kaufmännischen Privatschule in Göttingen vom 1. Oktober 1958 bis 31. März 1959 in Berufsausbildung befunden hat, so daß ihm für diese Zeit die Waisenrente zu gewähren ist.

Nach § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO wird nach dem Tode des Versicherten seinen Kindern über die Vollendung des 18. Lebensjahres hinaus Waisenrente längstens bis zur Vollendung des 25. Lebensjahres für ein unverheiratetes Kind gewährt, das sich in Schul- oder Berufsausbildung befindet. Eine Berufsausbildung i. S. dieser Vorschrift liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) wie schon des früheren Reichsversicherungsamts (RVA) vor, wenn die Ausbildung einem zukünftigen, gegen Entgelt auszuübenden Beruf dient und die Zeit und Arbeitskraft des Kindes ausschließlich oder überwiegend beansprucht (vgl. BSG 9, 196; 14, 285: 18, 115; BSG in SozR RO § 1267 Bl. Aa 12 Nr. 12; 11. Senat, Urteil vom 1. Juli 1964 – 11/1 RA 170/59 –; RVA in EuM 25, 338; AN 1931 S. 38 und 169). Diese Voraussetzungen sind bei dem sechsmonatigen kaufmännischen Lehrgang an der Prager-Schule in Göttingen erfüllt.

Daß der Kläger eine lehre als Einzelhandelskaufmann bereits erfolgreich abgeschlossen hatte, steht der Annahme nicht entgegen, die Ausbildung zu einem anderen Beruf als „Berufsausbildung” i. S. des § 1267 Abs. 1 Satz, 2 RVO zu bewerten. Der Begriff „Berufsausbildung” ist durch das Gesetz selbst nicht dahin eingeschränkt, daß eine Berufsausbildung nur bei der Ausbildung für einen einzigen Beruf angenommen und nach Ausbildung zu diesem Beruf eine weitere Ausbildung zu einem weiteren Beruf nicht als „Berufsausbildung” angesehen werden könne (RVA AN 1931 S. 38, 169; vgl. auch EuM 25, 338). Der Einwand der Beklagten, der sechsmonatige kaufmännische Lehrgang sei deshalb nicht als Berufsausbildung i. S. des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO anzusehen, weil er keine Ausbildung für einen anderen als den vom Kläger bereits erlernten Beruf, sondern nur eine berufliche Fortbildung in dem bereits erlernten Beruf des Einzelhandelskaufmanns darstelle, ist unbegründet. Ob es wirklich zutrifft, daß die Weiterbildung, Fortbildung und Vervollkommnung in dem erlernten Beruf, nachdem die Berufsausbildung einen gewissen Abschluß erreicht hat, keine Berufsausbildung i. S. des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO ist, wenn der bisherige Beruf weiter ausgeübt werden soll, brauchte der Senat nicht zu entscheiden. In dem vorliegenden Fall hat es sich jedenfalls bei dem Besuch der kaufmännischen Schule durch den Kläger nicht um eine bloße Weiterbildung, Fortbildung und Vervollkommnung in seinem Beruf als Einzelhandelskaufmann gehandelt. Zwar erlangte der Kläger durch seine Teilnahme an dem sechsmonatigen kaufmännischen Lehrgang nicht die Befähigung eines gelernten Kaufmanns im Großhandel oder eines gelernten Industriekaufmanns, die nach ihren Berufsbildern andere Berufe als die des Einzelhandelskaufmanns sind (vgl. Stemme 1955, Lehr- und Anlernberuf in Industrie und Handel; Decken, Berufslexikon S. 378, 382, 383). Jedoch ist die Auffassung der Beklagten nicht zutreffend, daß der kurze Lehrgang den Kläger nicht zu einem anderen Beruf befähigt hatte. Außer den gelernten Kräften gibt es in diesen Berufen auch Kräfte mit geringerer Vorbildung. Der Kläger wollte nach Abschluß seiner Lehre als Einzelhandelskaufmann und Ableistung seines Wehrdienstes durch den Besuch des kaufmännischen Lehrgangs seine Kenntnisse und Fähigkeiten in dem erlernten Beruf nicht ergänzen und auffrischen, um in diesem erlernten Beruf eine Anstellung zu finden, sondern er strebte danach, im Großhandel oder in der Industrie die Beschäftigung eines kaufmännischen Angestellten zu erhalten, bei der besondere Kenntnisse und Fähigkeiten in Buchführung, Kurzschrift und Maschineschreiben vorausgesetzt werden. Nach dem Wehrdienst in der Bundeswehr hat der Kläger sich bemüht, im Großhandel oder in der Industrie eine Stelle zu bekommen. Ohne die verlangten Kenntnisse in Buchführung, Maschineschreiben und Stenographie hat er jedoch keine Anstellung finden können. Die Ausbildung in der kaufmännischen Privatschule sollte dem Kläger also die Kenntnisse und Fähigkeiten vermitteln, die für den von ihm gewählten Beruf im Großhandel oder in der Industrie gefordert wurden. Die Tätigkeit als kaufmännischer Angestellter im Großhandel oder in der Industrie ist aber ein anderer Beruf als der des kaufmännischen Angestellten im Einzelhandel, wenn die sich ständig wandelnden und ständig im Fluß befindlichen Bedürfnisse und die fortgeschrittene berufliche Spezialisierung des modernen wirtschaftlichen Lebens berücksichtigt werden. Ob der Kläger allenfalls auch schon auf Grund seiner abgeschlossenen Einzelhandelslehre im Großhandel oder in der Industrie eine kaufmännische Tätigkeit hätte aufnehmen können, ist nicht entscheidend. Mit begründeter Aussicht auf Erfolg konnte er sich um eine Beschäftigung im Großhandel oder in der Industrie nur bemühen, nachdem er zuvor Kenntnisse in Buchhaltung, Kurzschrift und Maschineschreiben durch einen Lehrgang oder auf andere Weise erlangt hatte. Schließlich ist es auch nicht erheblich, ob der Kläger sich die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten durch eigene Fortbildung hätte aneignen können, also auch neben einer ganz- oder halbtägigen Erwerbstätigkeit in seinem erlernten Beruf. Eine solche Möglichkeit steht der Annahme, daß eine Berufsausbildung i. S. des § 1267 Abs. 1 Satz 2 RVO gegeben ist, nicht entgegen, wenn sich die Waise einer weiteren Ausbildung auf einer kaufmännischen Privatschule tatsächlich unterzieht, die ihre Zeit und Arbeitskraft überwiegend beansprucht.

Da demnach der Besuch der kaufmännischen Privatschule trotz beendigter Lehrzeit als Ausbildung für einen künftig auszuübenden Beruf anzusehen ist und Zeit und Arbeitskraft des Klägers überwiegend beanspruchte, hat das Berufungsgericht mit Recht angenommen, daß die Teilnahme an dem Lehrgang eine Berufsausbildung war und dem Kläger für diese Zeit Waisenrente zusteht.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Unterschriften

Raack, Dr. Dapprich, Schmidthals

 

Fundstellen

Dokument-Index HI929552

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge