Leitsatz (redaktionell)

Die Ablehnung eines Zugunstenbescheides nach KOVVfG § 40 Abs 1 unter Berufung auf die Bindung des früheren Bescheides ist eine Ermessensentscheidung der Verwaltung. Diese Ermessensentscheidung kann von den Gerichten nur daraufhin nachgeprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

 

Normenkette

KOVVfG § 40 Abs. 1 Fassung: 1960-06-27; SGG § 54 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1953-09-03

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 2. August 1962 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger erhält Versorgung nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 80 v.H. wegen

"1. Verlust des linken Beines,

2. Verlust des 5. Fingers links mit einem Teil seines Mittelhandknochens, Teilverlust des 3. und 4. Fingers links, Bewegungseinschränkung des 2. und 4. Fingers der linken Hand,

3. Kopfschwartenarbe."

Anträge auf Erhöhung der Rente blieben nach amtsärztlichen Begutachtungen erfolglos (Bescheide vom 17. März 1951 und 8. Oktober 1958).

Die Klage gegen den Bescheid vom 8. Oktober 1958 hat der Kläger zurückgenommen, nachdem das Sozialgericht (SG) von der Medizinischen Universitätsklinik des Bürgerhospitals Saarbrücken (Prof. Dr. von B und Dr. B) das Gutachten vom 3. August 1959 eingeholt und den praktischen Arzt Dr. R als Gerichtsarzt gehört hatte.

Im November 1959 beantragte der Kläger gemäß § 40 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VerwVG) die Neufestsetzung seiner Rente nach einer MdE um 90 v.H., "weil der Gerichtsarzt Dr. R ausgeführt habe, die anerkannten Schädigungsleiden seien offenbar von vornherein zu niedrig berechnet worden." Durch Bescheid vom 30. November 1959 lehnte der Beklagte nach Anhörung des ärztlichen Dienstes die Erteilung eines neuen Bescheides ab und hielt an der Rechtskraft seines Bescheides vom 8. Oktober 1958 fest. Der Widerspruch blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29. Februar 1960), weil nach dem Gutachten des Prof. Dr. von B auch bei günstiger Beurteilung die MdE mit 80 v.H. einzuschätzen sei.

Auf die Klage hat das SG als Sachverständigen den Dr. med. G gehört und hat durch Urteil vom 21. September 1961 unter Aufhebung der Verwaltungsbescheide den Beklagten verpflichtet, "dem Kläger in einem Zugunstenbescheid Rente nach einer MdE um 90 v.H. ab 1. November 1959 zu bewilligen", weil nach dem Gutachten des Dr. G die MdE mit 90 v.H. einzuschätzen sei und kein Zweifel daran bestehe, daß die früheren Bescheide zum Schaden des Klägers unrichtig gewesen seien.

Der Beklagte hat die vom SG zugelassene Berufung eingelegt und sich auf das Gutachten von Prof. Dr. von B bezogen. Durch Urteil vom 2. August 1962 hat das Landessozialgericht (LSG) unter Aufhebung des Urteils des SG die Klage gegen die Verwaltungsbescheide abgewiesen. Es hat ausgeführt, bei Abwägung der Gutachten des Prof. Dr. von B und des Gerichtsarztes Dr. G könne letzterem nicht der Vorzug gegeben werden. Das SG habe zu Unrecht einen Ermessensfehler des Beklagten angenommen. Durch die Bescheiderteilung habe auch nicht etwa der Beklagte auf die Rechtskraft des früheren Bescheides verzichtet, sondern habe die beantragte Ermessensentscheidung ablehnen dürfen. Es hat die Revision zugelassen, weil im Zusammenhang mit § 150 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) über eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden gewesen sei.

Der Kläger hat Revision eingelegt und beantragt,

unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG vom 21. September 1961 zurückzuweisen,

hilfsweise,

die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Er rügt mit näherer Begründung eine Verletzung des § 128 SGG und eine unrichtige Anwendung des § 40 Abs. 1 VerwVG, weil nach dem Gutachten des Gerichtsarztes Dr. G die MdE mit 90 v.H. einzuschätzen sei.

Der Beklagte beantragt,

die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

Der Kläger hat die zugelassene Revision (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Das gemäß § 164 SGG zulässige Rechtsmittel ist nicht begründet.

Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, hat der Beklagte durch den Bescheid vom 30. November 1959 an der bindenden Wirkung des Bescheides vom 8. Oktober 1958 festgehalten und nach § 40 VerwVG die Erteilung eines neuen Bescheides abgelehnt. Hierin hat das LSG zu Recht keine neue, auf erneuter Sachprüfung beruhende Regelung des Versorgungsrechtsverhältnisses erblickt. Nach § 40 Abs. 1 VerwVG kann die Verwaltungsbehörde jederzeit zugunsten des Berechtigten einen neuen Bescheid erteilen. Das Berufungsgericht hat den Bescheid vom 30. November 1959 zutreffend als eine echte Ermessensentscheidung der Verwaltung angesehen. Dies stimmt mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts - BSG - (BSG 15, 12 f; 19, 287 f; SozR VerwVG § 40 Bl. Ca 6 Nr. 6), der sich der Senat anschließt, überein. Diese Ermessensentscheidung kann gemäß § 54 Abs. 2 Satz 2 SGG von den Gerichten nur daraufhin nachgeprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht ist.

Bei der gerichtlichen Nachprüfung ist von folgenden Erwägungen auszugehen: Jede Verwaltung hat die aus ihrer öffentlichen Aufgabe und Funktion entspringende Pflicht, in ihrem Bereich für einen dem Gesetz entsprechenden Zustand zu sorgen und gesetzwidrige Zustände zu vermeiden oder zu beseitigen; es ist gleichgültig, ob sich dies zugunsten oder zuungunsten des Berechtigten auswirkt (vgl. Forsthoff, Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 8. Aufl. S. 239 ff). Sodann ist die Entstehungsgeschichte des § 40 VerwVG zu berücksichtigen. Wie sich aus der Begründung des Entwurfs zu diesem Gesetz ergibt (§§ 40 bis 44, Deutscher Bundestag, 2. Wahlperiode 1953, Drucks. Nr. 68, 14), sollte der Verwaltung wegen der Vielzahl der in der Nachkriegszeit notwendig gewordenen und unter unzulänglichen Verhältnissen getroffenen Entscheidungen in geeigneten Fällen ein Abgehen von der Bindungswirkung gestattet werden. Besteht aber diese Möglichkeit und widerspricht eine zum Nachteil des Berechtigten getroffene, bindend gewordene Regelung der später geklärten Sachlage, so soll die Verwaltung von dem bindenden Bescheid abrücken. Sie handhabt ihr Ermessen fehlerhaft, wenn sie die Unrichtigkeit der früheren Regelung erkennt, trotzdem sich auf die Bindung an den früheren Bescheid beruft und mit dieser rein formalistischen Begründung dem Berechtigten eine günstigere Rechtsposition versagt.

Da also der gerichtlichen Nachprüfung des Bescheides vom 30. November 1959 diese engen Grenzen gezogen sind, konnte das Gutachten des Gerichtsarztes Dr. G nicht berücksichtigt werden, weil es nach Erlaß des Bescheides erstattet worden ist, mithin der Verwaltung nicht hat vorliegen können. Die Rüge einer Überschreitung der Grenzen des Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung wegen Abweichens von diesem Gutachten kann demgemäß nicht durchgreifen.

Das Berufungsgericht hat auch zutreffend entschieden, daß die Verwaltung ihr Ermessen nicht fehlerhaft gehandhabt hat. Ihr standen außer den Gutachten der Versorgungsärzte und des Gerichtsarztes Dr. R dasjenige des Prof. Dr. von B zur Verfügung. Dieser hatte beim Kläger einen eingehenden Befund mitgeteilt und hatte u.a. den Zustand und die Funktionstüchtigkeit der linken Hand genau beschrieben; seinen Ausführungen hatte sich der Gerichtsarzt Dr. R in vollem Umfange sowohl in seinem schriftlichen Gutachten als auch in seinen protokollierten mündlichen Ergänzungen hierzu angeschlossen. Wenn die Verwaltung an dem sorgfältig begründeten Gutachten des Prof. Dr. von B festgehalten und von einer erneuten ärztlichen Untersuchung und Begutachtung abgesehen hat, hat sie ihr Ermessen nicht fehlerhaft gehandhabt. Sie konnte von dem - auch durch frühere ärztliche Gutachten - gesicherten Befund ausgehen und sich die Einschätzung der MdE um 80 v.H. durch die ärztlichen Sachverständigen zu eigen machen. Zu den ärztlichen Feststellungen, welche Gesundheitsstörungen vorliegen, wie sie die körperlichen und geistigen Kräfte oder die Gebrauchsfähigkeit einzelner Organe und Glieder beeinflussen und wie sie mit schädigenden Ereignissen zusammenhängen, hat der Kläger weder im Verwaltungs- noch im gerichtlichen Verfahren vorgetragen, die ärztlichen Gutachten seien insoweit unrichtig. Auch hinsichtlich der Beurteilung der weiteren Frage, in welchem Maße die durch die Schädigungen verursachten Gesundheitsstörungen einschließlich ihrer physiologischen und funktionellen Folgen die Erwerbsfähigkeit des Klägers mindern, hat dieser nicht geltend gemacht, warum die Verwaltung bei eigener sachlicher Überprüfung zu einer höheren MdE als 80 v.H. hätte gelangen müssen. Hierbei kommt es darauf an, inwieweit die gegebenenfalls mit Hilfe ärztlicher Begutachtung festzustellenden körperlichen und seelischen Beeinträchtigungen des Beschädigten seine Fähigkeit, erwerbstätig zu sein, herabsetzen. Die MdE ist nach der Beeinträchtigung im allgemeinen Erwerbsleben zu beurteilen und unter besonderen Umständen mit Rücksicht auf den Beruf höher zu bewerten. Die Verwaltung hat, wenn es sich um den Grad der MdE handelt, nach welchem die Höhe der Rente eines Beschädigten zu bemessen ist, alle Umstände in Betracht zu ziehen, die dafür bestimmend sind, wie sich die als Schädigungsfolgen anerkannten Gesundheitsstörungen auf die Fähigkeit des Beschädigten auswirken, seine Arbeitskraft im allgemeinen Erwerbsleben, gegebenenfalls in seinem Beruf, nutzbringend zu verwerten. Hierbei sind vor allem die allgemeinen Lebensverhältnisse, die sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten sowie die Technik der Arbeitsvorgänge zu berücksichtigen. Da - wie bereits ausgeführt - keine Umstände vom Kläger geltend gemacht worden und auch sonst ersichtlich sind, welche Zweifel an der Richtigkeit der Einschätzung des Prof. Dr. von B mit 80 v.H. begründen könnten, hat das Berufungsgericht zutreffend entschieden, daß die Verwaltung ihr Ermessen nicht fehlerhaft gehandhabt hat, als sie unter Berufung auf dessen Gutachten an der bindenden Festsetzung der Rente nach einer MdE um 80 v.H. festgehalten hat. Das angefochtene Urteil ist frei von Rechtsirrtum, so daß das Rechtsmittel des Klägers erfolglos bleiben mußte.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.

Da die Voraussetzungen der §§ 165, 153 Abs. 1, 124 Abs. 2 SGG erfüllt waren, konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2304822

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