Verfahrensgang
SG Düsseldorf (Urteil vom 21.04.1967) |
Tenor
Das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 21. April 1967 und der Bescheid der Beklagten vom 2. März 1966 werden teilweise aufgehoben. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger auch für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 30. November 1961 Waisenrente zu gewähren.
Im übrigen wird die Sprungrevision des Klägers zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Gründe
Der im Jahre 1946 geborene Kläger lebte von der zweiten Eheschließung seiner Mutter – im Januar 1954 – an im Haushalt seines Stiefvaters, des in der Invalidenversicherung versicherten Schlossers Werner F. Dieser starb am 6. November 1955. Die beklagte Landesversicherungsanstalt gewährte der Witwe Hinterbliebenenrente vom 1. Dezember 1955 an. In dem Antragsvordruck – ausgefüllt am 19. November 1955 – war die Rentenart „Waisenrente” gestrichen.
Am 10. Dezember 1965 beantragte die Mutter des Klägers – erstmalig – für ihn die Waisenrente aus der Versicherung des Stiefvaters. Die Beklagte bewilligte die Rente durch Bescheid vom 2. März 1966, jedoch erst vom 1. Dezember 1961 an; für die vorangegangene Zeit lehnte sie die Leistung ab.
Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben mit dem Antrag, die Beklagte auch für die Zeit vom 1. Dezember 1955 bis 30. November 1961 zur Rentengewährung zu verurteilen. Demgegenüber hat sich die Beklagte auf Verwirkung des Anspruchs berufen.
Das Sozialgericht (SG) Düsseldorf hat die Klage mit folgender Begründung abgewiesen: Die Beklagte habe den Rentenanspruch für die Zeit vor Dezember 1961 mit Recht nicht als verjährt angesehen; denn die den Lauf der Verjährungsfrist auslösende Fälligkeit des Anspruchs sei erst mit der Antragstellung im Dezember 1965 eintreten. Der Anspruch sei jedoch verwirkt, weil der Antrag schuldhaft zu spät erstellt worden sei. Das Verschulden treffe die Mutter des Klägers als dessen gesetzliche Vertreterin; es sei dem Kläger anzurechnen. Der Tatbestand der Verwirkung sei dadurch erfüllt worden, daß in dem Vordruck des Antrags auf Hinterbliebenenrente die Rentenart „Waisenrente” durchgestrichen und der Anspruch zehn Jahre lang nicht erhoben worden sei. Hieraus habe die Beklagte mit Recht gefolgert, daß Waisenrente nicht begehrt werde. Sie stelle aufgrund von Satzungsvorschriften alljährlich Rechnungsabschlüsse auf (§§ 1338, 1358 der Reichsversicherungsordnung –RVO–), die sich im Zusammenhang mit ihrem Finanzgebahren auswirkten; es komme nicht darauf an, daß die Rentenleistungen im Einzelfall möglicherweise gering seien. Die im Privatrecht für die Annahme von Verwirkung zu fordernden „besonderen Umstände”, aufgrund deren die verspätete Geltendmachung eines Anspruchs als Verstoß gegen Treu und Glauben empfunden werde, brauchten auf dem Gebiet der Rentenversicherung nicht vorzuliegen. Schon die Pflicht und die Praxis des Versicherungsträgers, mit regelmäßigen Rechnungsabschlüssen zu einer ordentlichen Haushaltsführung beizutragen, führten nach Ablauf einer gewissen Zeit zu besonderen Umständen, die den Tatbestand der Verwirkung vollendeten. Der Grund, aus welchem der Anspruch nicht oder verspätet erhoben worden sei, berühre demnach die Frage der Verwirkung nicht; denn die Folgen auf Seiten des Versicherungsträgers seien vom Grund der Nichtmeldung unabhängig. Im vorliegenden Falle sei allerdings das Stammrecht auf die Waisenrente nicht verwirkt, und die Ansprüche auf die Einzelleistungen seien es nur zum Teil. Die Vierjahresfrist, die in § 29 Abs. 3 RVO für die Verjährung vorgesehen sei, bilde einen brauchbaren Anhalt zur Festsetzung des Zeitpunktes, von dem an Verwirkung noch nicht angenommen zu werden brauche. Der angefochtene Bescheid sei daher im Ergebnis richtig.
Das SG hat die Berufung zugelassen.
Der Kläger hat mit schriftlicher Einwilligung der Beklagten Sprungrevision eingelegt und zur Begründung vorgetragen:
Das angefochtene Urteil stehe im Widerspruch zur Rechtsprechung aller obersten Gerichtshöfe des Bundes. Danach gehöre zur Erfüllung des Begriffs der Verwirkung die „illoyale” Verzögerung der Rechtsausübung. Der bloße Zeitablauf sei nicht geeignet, Verwirkung eintreten zu lassen. Im vorliegenden Falle könne von einem gegen Treu unf Glauben verstoßenden Verhalten des Klägers keine Rede sein. Der Anspruch sei nur deswegen nicht alsbald angemeldet worden, weil die Mutter des Klägers angenommen habe, Stiefkinder hätten keinen Anspruch auf Hinterbliebenenrente. Zu der Zeit, als der Antrag auf Witwenrente, gestellt worden sei, sei diese Meinung auch gerechtfertigt gewesen; denn erst das Kindergeldergänzungsgesetz (KGEG) vom 23. Dezember 1955 (BGBl I 841) habe den Waisenrentenanspruch für eheliche Stiefkinder eingeführt, wenn auch mit Rückwirkung vom 1. Januar 1955 an. Andererseits habe die Beklagte nicht gewußt, daß ein rentenberechtigter Stiefsohn des Versicherten vorhanden sei. Deshalb habe sie sich auch nicht darauf einstellen können, daß sie von einer bestimmten Zeit an nicht mehr in Anspruch genommen werde.
Der Kläger beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Bescheides der Beklagten vom 2. März 1966 die Beklagte zu verurteilen, ihm Waisenrente auch für die Zeit vom 1. Dezember 1955 bis 30. November 1961 zu zahlen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurück zuweisen.
Sie pflichtet der Begründung des angefochtenen Urteils bei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–).
Die Sprungrevision ist zulässig; sie ist größtenteils begründet, im übrigen unbegründet.
Der Versicherungsfall, aus dem der Kläger den mit der Klage geltend gemachten Anspruch auf Waisenrente herleitet, ist am 6. November 1955, also vor dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) – 1. Januar 1957 –, eingetreten. Für Rentenansprüche aus solchen Versicherungsfällen sind nach Art. 2 § 5 ArVNG die bis zum Inkrafttreten dieses Gesetzes geltenden Vorschriften maßgebend, soweit in §§ 6 ff ArVNG nichts anderes bestimmt ist. Nach Art. 2 § 20 ArVNG gilt der die Gewährung von Waisenrente betreffende § 1267 RVO aF auch für vor dem 1. Januar 1957 eingetretene Versicherungsfälle. Diese Vorschrift begründet einen Waisenrentenanspruch für die Kinder eines verstorbenen Versicherten, wobei als Kinder ua die in seinen Haushalt aufgenommenen Stiefkinder gelten (§ 1262 Abs. 2 Nr. 2 RVO). Der Kläger erfüllt demnach, was auch die Beklagte nicht in Zweifel zieht, die Anspruchsvoraussetzungen für die Waisenrente nach neuem Recht. Für den Beginn der Leistung ist Art. 2 § 25 ArVNG maßgebend. Nach Absatz 1 Satz 1 dieser Vorschrift gilt bei Versicherungsfällen vor dem Inkrafttreten des ArVNG § 1290 RVO nF, wenn der Antrag auf Rente erst nach dem Inkrafttreten des Gesetzes gestellt ist, mit der Haßgabe, daß die Leistung frühestens mit dem Inkrafttreten des Gesetzes beginnt. Der Kläger hat also nach Art. 2 § 25 ArVNG keinen Rentenanspruch für die Zeit vor dem 1. Januar 1957, weil er den Rentenantrag erst später gestellt hat; von diesem Tage an waren dagegen, weil die Anspruchsvoraussetzungen für die Waisenrente schon damals gegeben waren, die gesetzlichen Leistungserfordernisse erfüllt (§ 1290 Abs. 1 Satz 1 RVO).
Zu einem anderen Ergebnis führt auch nicht die Anwendung der Vorschriften; die vor dem 1. Januar 1957 gegolten haben, auf diese frühere Zeit. Nach § 1258 RVO aF hatten nach dem Tode des Versicherten seine Kinder – dazu gehörten auch eheliche Stiefkinder (Absatz 2 Nr. 2 aaO) – Anspruch auf Waisenrente bis zum vollendeten achtzehnten Lebensjahr. Die Leistung begann jedoch, wenn sie nach dem Ende des auf die Erfüllung der Anspruchsvoraussetzungen folgenden Monats beantragt worden war, erst mit dem Ablauf des Antragsmonats (§ 1286 Abs. 1 RVO aF). Der hiernach für den Beginn der Leistung maßgebende Antrag bildete nach altem Recht wie das Bundessozialgericht (BSG) – in Übereinstimmung mit dem Schrifttum – entschieden hat, ein gesetzliches Tatbestandsmerkmal, das nicht noch nachträglich erfüllt werden konnte (BSG 21, 129, 130; vgl. auch BSG SozR Nr. 2 zu § 1545 RVO; Kommentar zur Reichsversicherungsordnung, Viertes und Fünftes Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, 5. Aufl., Stand 1956, § 1286 RVO, Anm. 4; Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und der Angestellten, § 1290 RVO Anm. III, 2). Da die Waisenrente, die der Kläger beansprucht, nicht vor dem 1. Januar 1957 beantragt worden ist, konnte die Leistung nach altem Recht nicht früher beginnen.
Hiernach ist der Klageanspruch für die Zeit vor dem 1. Januar 1957 unbegründet.
Für die Folgezeit hängt die Entscheidung davon ab, ob der Zeitablauf von zehn Jahren zwischen dem Eintritt des Versicherungsfalles und der Antragstellung der Durchsetzung des Anspruchs entgegensteht.
Die – vom SG verneinte – Frage, ob der Rentenanspruch des Klägers für die streitige Zeit verjährt ist, bedarf keiner Prüfung, weil die Beklagte sich nicht auf Verjährung berufen, ja sogar ausdrücklich betont hat, daß sie dies nicht tun wolle. Ohne Berufung auf den Ablauf der Verjährungsfrist ist dieser rechtliche Gesichtspunkt bei Ansprüchen auf Leistungen des Versicherungsträgers nach feststehender Rechtsprechung nicht zu beachten; nur bei der Anforderung von Beitragsrückständen (§ 29 Abs. 1 RVO) wird die Verjährung von Amts wegen berücksichtigt (RVA in AN 1919, 281, BSG 6, 283, 288; 8, 218, 222; 22, 173, 176).
Das SG hat den Waisenrentenanspruch des Klägers mit Recht unter dem Gesichtspunkt der Verwirkung materieller Rechte geprüft; das Ergebnis, zu dem es in dieser Frage gelangt ist, ist jedoch unrichtig. Das Wesensmerkmal des auf Sondergebieten des bürgerlichen Rechts zu einem besonderen Rechtsinstitut entwickelten Rechtsgedankens der Verwirkung liegt in einer mit der Wahrung von Treu und Glauben nicht zu vereinbarenden Illoyalität im Verhalten des Berechtigten. Von einem illoyalen Verhalten in diesem Sinne spricht man, wenn ein Recht erst ungewöhnlich spät geltend gemacht oder ausgeübt wird und besondere Umstände hinzutreten, die in Verbindung mit der langen Untätigkeit des Berechtigten in dem Verpflichteten den Eindruck erweckt haben, als werde jener von seinem Recht keinen Gebrauch mehr machen. Hat sich dann der Verpflichtete im Vertrauen hierauf so eingerichtet, daß es für ihn einen unbilligen zusätzlichen Nachteil bedeuten würde, wenn er gleichwohl noch in Anspruch genommen würde, so liegt ein Fall der wegen Verstoßes gegen Treu und Glauben unzulässigen Rechtsausübung, und zwar der Sonderfall der Verwirkung vor. Dieser Rechtsgedanke hat auch im öffentlichen Recht Eingang gefunden und ist vom BSG wiederholt auf dem Gebiet der Sozialversicherung, namentlich bei der Beurteilung von Leistungsansprüchen gegen einen Versicherungsträger, als anwendbar bezeichnet worden (vgl. insbes. BSG 7, 199 mit zahlreichen Nachweisen und BSG 23, 62). Bei der Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall hat das SG dem Merkmal der Illoyalität im Verhalten des Berechtigten zu wenig Beachtung geschenkt. Es hat zwar nicht verkannt, daß ein selbst jahrelanges Untätigbleiben des Berechtigten für sich allein zur Annahme von Verwirkung nicht ausreicht, daß vielmehr weitere Umstände hinzutreten müssen, welche die späte Rechtsausübung als mit der Wahrung von Treu und Glauben nicht vereinbar erscheinen lassen. Das SG meint jedoch, solche „besonderen Umstände” brauchten im Rentenversicherungsrecht nicht im Verhalten des Berechtigten zu liegen; schon die Pflicht und die Praxis des Versicherungsträgers, mit regelmäßigen Rechnungsabschlüssen zum einer ordentlichen Haushaltsführung beizutragen, führten nach Ablauf einer gewissen Zeit zu den besonderen Umständen, die den Verwirkungstatbestand vollendeten. Dem ist nicht zu folgen. Auf das Verhalten des Berechtigten kommt es in erster Linie an, wenn ihm der Vorwurf gemacht werden soll, er habe durch sein illoyales („gegensätzliches”) Verhalten in dem Verpflichteten den Eindruck erweckt, daß er nicht mehr in Anspruch genommen werde (vgl. BGHZ 25, 47, 51). Diesen Überlegungen hat das BSG in den angeführten Entscheidungen, vor allem in BSG 7, 199, 201 (vgl. auch SozR Nr. 48 zu § 77 SGG), unmißverständlich. Ausdruck verliehen. Sie stehen im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, das ebenfalls vornehmlich das Verhalten des Berechtigten kritisch würdigt (BVerwG, DVBl 1958, 468 und 1966, 600 = ZLA 1966, 151).
Unterzieht man das hiernach in erster Linie entscheidungserhebliche Verhalten des Klägers bzw. seiner gesetzlichen Vertreterin einer rechtlichen Würdigung, so ergibt sich, daß auf seiner Seite die Voraussetzungen der Verwirkung nicht erfüllt sind. Daß die Waisenrente nicht bereits im November 1955 zugleich mit der Witwenrente beantragt, vielmehr im Antragsvordruck die Rentenart „Waisenrente” durchgestrichen worden ist, läßt keinerlei Schlüsse zum Nachteil des Klägers zu. Damals waren nämlich Stiefkinder nicht waisenrentenberechtigt; sie wurden es erst wieder durch die in § 13 Nr. 5 KGEG vom 23. Dezember 1955 enthaltene Änderung des § 1258 RVO aF, nachdem die Waisenrentenberechtigung von Stiefkindern nach § 1259 Abs. 2 Nr. 6 RVO idF des Gesetzes zur Änderung der Reichsversicherungsordnung und des Angestelltenversicherungsgesetzes vom 25. Juni 1926 (RGBl I 311) durch die Vierte Verordnung des Reichspräsidenten zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zum Schutze des inneren Friedens vom 8. Dezember 1931 (Fünfter Teil, Kapitel IV, Abschn. 1, § 1 Abs. 2) aufgehoben worden war. Von dem Kläger bzw. seiner Mutter als gesetzlicher Vertreterin konnte also nur erwartet werden, daß der Antrag auf Waisenrente alsbald nach der Verkündung des KGEG (28. Dezember 1955) gestellt worden wäre. Nach dem vom SG festgestellten Sachverhalt besteht jedoch kein Anhalt dafür, daß die Antragstellung aus anderen Gründen als aus Gesetzesunkenntnis bis zum Jahre 1965 unterblieben ist. Dies reicht aber, wie bereits in BSG 23, 62, 66 ausgesprochen worden ist, für sich allein nicht aus, die späte Geltendmachung des Rentenanspruchs mit der Wahrung von Treu und Glauben als nicht vereinbar erscheinen zu lassen.
Fehlt es hiernach schon an einem von der Rechtsordnung zu mißbilligenden Verhalten des Klägers, so kann unentschieden bleiben, ob die Beklagte, obwohl sie von dem anspruchsbegründenden Sachverhalt bis zum Jahre 1965 keine Kenntnis gehabt hat, durch die lange Untätigkeit des Klägers in den Glauben versetzt worden ist, sie werde von ihm nicht mehr auf Rentenzahlung in Anspruch genommen werden. Aus demselben Grunde bedarf es nicht der Beantwortung der – in BSG 7, 202 bei einem vergleichbaren Sachverhalt verneinten – Frage, ob die späte Antragstellung im Hinblick auf das vom SG in den Vordergrund gestellte Haushaltsgebaren der Beklagten zu unverhältnismäßigen und ihr deshalb nicht zumutbaren Belastungen geführt hat.
Hiernach müssen unter Zurückweisung der Sprungrevision im übrigen das angefochtene Urteil und der Bescheid der Beklagten teilweise aufgehoben und die Beklagte für die Zeit vom 1. Januar 1957 bis 30. November 1961 zur Rentengewährung verurteilt werden.
Die Kostenentscheidung ergeht in Anwendung des § 193 Abs. 1 und 4 SGG.
Unterschriften
Schmitt, Dr. Ecker, Müller
Fundstellen