Entscheidungsstichwort (Thema)
Verfolgter. Vertriebener. Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis. Auswanderung. ursächlicher Zusammenhang. Vermutung
Orientierungssatz
1. Bei Verfolgten, die dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hatten, spricht eine (einfache) Vermutung für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verlassen der Heimat und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, wenn sie das Vertreibungsgebiet vor dem 1.10.1953 verlassen haben (vgl BSG 29.8.1984 1 RJ 14/83 = SozR 5070 § 20 Nr 8).
2. Die Vermutung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen der Heimat vor dem 1.10.1953 ist nicht widerlegt, wenn der Verfolgte - ua - auch wegen der Entwurzelung in der europäischen Heimat nach dem Tode der meisten Angehörigen infolge der nationalsozialistischen Verfolgung nach Israel ausgewandert ist (vgl BSG 29.10.1985 5b RJ 6/85).
Normenkette
FRG § § 1, 15 Abs 1 Fassung: 1960-02-25, § 15 Abs 2 Fassung: 1960-02-25; BVFG §§ 1, 6; WGSVG § 20 Fassung: 1977-06-27
Verfahrensgang
LSG Berlin (Entscheidung vom 11.02.1983; Aktenzeichen L 1 An 24/81) |
SG Berlin (Entscheidung vom 28.10.1980; Aktenzeichen S 16 An 1553/78) |
Tatbestand
Der Kläger begehrt von der beigeladenen Landesversicherungsanstalt die Anerkennung von Beitragszeiten, die er von 1933 bis 1939 in Rumänien zurückgelegt hat.
Der 1904 in C./Rumänien geborene Kläger war von 1933 bis 1939 in seinem Heimatort als selbständiger Installateur tätig. Er leistete Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung in Rumänien. Während des Krieges hatte er unter Verfolgungsmaßnahmen des nationalsozialistischen Regimes zu leiden. Er ist als Verfolgter anerkannt. Im Dezember 1947 wanderte er von Rumänien nach Israel aus. Dort lebt er heute. Er hat die israelische Staatsangehörigkeit.
Im November 1975 beantragte der Kläger bei der beklagten Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) die Feststellung von Versicherungszeiten, die Gewährung von Altersruhegeld und die Zulassung der Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen. Die Beklagte lehnte die Anträge ab (Bescheid vom 6. Oktober 1977; Widerspruchsbescheid vom 5. April 1978). Das Sozialgericht (SG) hat die Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz zum Rechtsstreit beigeladen. Es hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Oktober 1980). Rumänische Beitragszeiten seien zugunsten des Klägers nicht anrechenbar, weil es an dem erforderlichen Kausalzusammenhang zwischen der vom Kläger behaupteten Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen Rumäniens fehle.
Vor dem Landessozialgericht (LSG) hat der Kläger nur noch beantragt, die Beklagte, hilfsweise die Beigeladene, zu verurteilen, die in Rumänien von 1933 bis 1939 zurückgelegten Beitragszeiten als Beitragszeiten nach § 15 Fremdrentengesetz (FRG) anzuerkennen und ihm hierüber Versicherungsunterlagen herzustellen. Das LSG hat mit Urteil vom 11. Februar 1983 die Beigeladene entsprechend dem Antrag des Klägers verurteilt und im übrigen die Berufung zurückgewiesen. Es hat, da der Kläger Rumänien vor 1953 verlassen hat, einen Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit des Klägers zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen Rumäniens als unwiderleglich vermutet angesehen.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beigeladene eine Verletzung des § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) durch das Berufungsgericht.
Die Beigeladene beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 28. Oktober 1980 zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte schließt sich dem Antrag der Beigeladenen an.
Der Kläger beantragt, die Revision der Beigeladenen gegen das angefochtene Urteil zurückzuweisen, hilfsweise, den Rechtsstreit an das LSG zurückzuverweisen.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Beigeladenen, die vom LSG anstelle der Beklagten verurteilt worden ist (§ 75 Abs 5 Sozialgerichtsgesetz -SGG-) ist das Urteil des LSG aufzuheben und die Sache ist zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Der Kläger begehrt von der Beklagten lediglich noch die "Anerkennung" von Beitragszeiten, die er in Rumänien zurückgelegt hat und die die Beigeladene wie Zeiten behandeln soll, die im Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt wurden. Klagen mit einem solchen Antrag auf "Anerkennung" sind vom BSG als Klagen auf Verurteilung des Versicherungsträgers zur Eintragung der betreffenden Zeiten in Versicherungskarten behandelt worden (vgl BSG SozR 2200 § 1412 Nr 3 mwN, dort zu Ersatz- und Ausfallzeiten; vgl auch § 11 Abs 2 Versicherungsunterlagenverordnung -VuVO-). Die Eintragung von Versicherungs-, Ersatz- oder Ausfallzeiten durch den Versicherungsträger in Versicherungskarten ist ein Verwaltungsakt. Das Begehren ist - wie es der Kläger richtig getan hat - mit der kombinierten Anfechtungs- und Verpflichtungsklage zu verfolgen (BSG aaO).
Ob die Klage begründet ist, läßt sich aufgrund der bisherigen Feststellungen nicht entscheiden. Nach § 15 FRG stehen Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich. Daß der Kläger in Rumänien von 1933 bis 1939 bei einem rumänischen Träger der Rentenversicherung Pflichtversicherungszeiten zurückgelegt hat, hat das LSG geklärt. Diese Feststellung wird von den Beteiligten nicht angegriffen. Die Handwerkerversicherung in Rumänien war in dieser Zeit auch eine "gesetzliche Rentenversicherung" im Sinne des § 15 Abs 2 FRG. Seit dem rumänischen Gesetz vom 7. April 1933 waren die Handwerker-Arbeitgeber pflichtversichert (Koch/Hartmann, Die Rentenversicherung im Sozialgesetzbuch, Zwischenstaatliches Sozialversicherungsrecht, Band II, Stichwort "Rumänien" Einführung S B 9). Da der Kläger pflichtversicherter selbständiger Handwerker gewesen ist, sind seine in Rumänien zurückgelegten Zeiten der Handwerkerversorgung zuzuordnen (§ 20 Abs 3 Satz 2 FRG). Nach § 1 Abs 1 Handwerkerversicherungsgesetz -HwVG- gehört die Versicherung der Handwerker zur Rentenversicherung der Arbeiter. Das LSG hat damit zu Recht die Beigeladene und nicht die Beklagte als zuständig angesehen.
Die Anwendung des § 15 FRG zugunsten des Klägers setzt aber voraus, daß der Kläger zu dem durch das FRG begünstigten Personenkreis des § 1 FRG gehört. Da der Kläger nicht Deutscher ist, könnte er nur einem Vertriebenen gleichgestellt sein (§§ 1 Buchst a FRG; 1, 6 Bundesvertriebenengesetz -BVFG-, 20 WGSVG). Nach § 1 Buchst a FRG gilt das FRG für Vertriebene. Vertriebene sind ua deutsche Volkszugehörige, die durch Vertreibung ihren Wohnsitz außerhalb der Grenzen des deutschen Reiches verloren haben. Rumänien gehört zu den in § 1 BVFG erfaßten Vertreibungsgebieten. Deutscher Volkszugehörigkeit ist nur, wer sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat, sofern dieses Bekenntnis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird (§ 6 BVFG). Für die Verfolgten des nationalsozialistischen Regimes, zu denen der Kläger gehört, genügt es nach § 20 WGSVG jedoch, wenn sie dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört haben. Denn den Verfolgten war ein Bekenntnis zum deutschen Volkstum unter den Bedingungen der Verfolgung nicht möglich und später war es aus verständlichen Gründen von ihnen nicht zu erwarten. Daß der Kläger - jedenfalls vor der Verfolgung, was ausreichend ist (BSG SozR 5070 § 20 Nr 2) - zum deutschen Sprach- und Kulturkreis gehört hat, ist vom LSG für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG) festgestellt worden.
Auch als Verfolgter muß er jedoch seines (kulturellen) Deutschtums wegen seine ehemalige Heimat verlassen haben. Die Eigenschaft als Verfolgter ersetzt lediglich die Eigenschaft "Deutscher", nicht aber den Vertreibungstatbestand. Ebenso wie Deutsche, die die Vertreibungsgebiete, etwa Rumänien, verlassen haben, werden Verfolgte, die sich vom Deutschtum abgewandt haben, nur dann durch das FRG begünstigt, wenn sie ihrer Eigenschaft als Deutschsprachige wegen vertrieben wurden (vgl BSG - Urteil vom 30. Mai 1985 - 11a RA 34/84 - mwN). Den Verfolgten darf es indes nicht zum Nachteil gereichen, wenn sie sich vor dem Verlassen des Vertreibungsgebietes wegen der Verfolgungsmaßnahmen vom deutschen Volkstum oder vom deutschen Sprach- und Kulturkreis abgewandt haben. Bei ihnen muß daher die frühere Zugehörigkeit maßgebend bleiben (BSG aaO).
Eine Vertreibung wegen der früheren Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum oder zum deutschen Sprach- und Kulturkreis ist auch im Falle des Klägers durchaus möglich. Der Kläger kann als Deutschsprachiger Nachteilen deshalb ausgesetzt gewesen sein, weil er - obwohl selbst Verfolgter - die Sprache derer sprach, die nach dem Krieg Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt waren. Nach der Rechtsprechung des BSG spricht bei Verfolgten, die dem deutschen Sprach- und Kulturkreis angehört hatten, eine (einfache) Vermutung für den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Verlassen der Heimat und der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis, wenn sie das Vertreibungsgebiet vor dem 1. Oktober 1953 verlassen haben (BSG - Urteil vom 29. August 1984 - 1 RJ 14/83 - SozR 5070 § 20 Nr 8 mwN). Der 12. Senat des BSG hatte zwar in seiner Entscheidung vom 16. Februar 1982 - 12 RK 56/80 - (SozR 5070 § 20 Nr 4) von einer "unwiderleglichen" Vermutung gesprochen; er hat jedoch auf Anfrage des 1. Senats mitgeteilt, für die Annahme einer "Unwiderleglichkeit" sei kein Raum, wenn eindeutige Anhaltspunkte für ein Verlassen des Vertreibungsgebietes nur aus allgemein politischen Gründen oder wegen krimineller Delikte vorlägen (vgl BSG SozR 5070 § 20 Nr 8 S 29). Dieser Auffassung ist beizutreten. Da das LSG seine Entscheidung auf die Unwiderleglichkeit der Vermutung gestützt hat, ist sie aufzuheben. Die Sache ist zurückzuverweisen, damit das LSG in tatsächlicher Hinsicht klärt, ob im Falle des Klägers die Vermutung widerlegt ist.
Dabei ist jedoch zu beachten, daß eine möglicherweise vorhandene Nichtübereinstimmung des Klägers mit der kommunistischen Wirtschafts-, Sozial- und Regierungsform und dem auf dem Kläger wegen seiner Deutschsprachigkeit lastenden Vertreibungsdruck sich keineswegs gegenseitig ausschließen. Haben mehrere Bedingungen in annähernd gleichem Maße auf den Erfolg hingewirkt, so ist jede von ihnen (Mit-)Ursache im Rechtssinne. Jedes in diesem Sinne wesentlich auf Vertreibungsgründen beruhende Verlassen des Vertreibungsgebietes ist Vertreibung (BSG SozR 5070 § 20 Nr 7 S 24). Es entspricht der Lebenserfahrung, daß eine Reihe gewichtiger Gründe zusammenkommen müssen, ehe der schwerwiegende Entschluß gefaßt wird, die Heimat zu verlassen. Dabei ist die besondere Situation der Verfolgten zu berücksichtigen. Die Verfolgung hatte nicht nur für die Zeit in ihr Leben eingegriffen, während der sie andauerte, sondern sie bestimmte auch wesentlich ihr Verhalten danach. Die Verfolgten hatten durch die nationalsozialistischen Gewaltmaßnahmen ihre Existenzgrundlage verloren und standen deshalb nach dem Ende der Verfolgungszeit vor der Aufgabe, sich eine neue Existenz aufzubauen. Sie waren zudem sowohl durch die Verfolgung, als auch durch die Vertreibung der Deutschen vereinsamt, zu denen sie eigentlich (kulturell) gehört hatten, obwohl von den damaligen politischen Vertretern der Deutschen die Verfolgung ausgegangen war. Wie der Senat mit dem zur Veröffentlichung bestimmten Urteil vom heutigen Tage in der Sache 5b RJ 6/85 bereits entschieden hat, ist deshalb die Vermutung eines ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Zugehörigkeit zum deutschen Sprach- und Kulturkreis und dem Verlassen der Heimat vor dem 1. Oktober 1953 nicht widerlegt, wenn der Verfolgte - ua - auch wegen der Entwurzelung in der europäischen Heimat nach dem Tode der meisten Angehörigen infolge der nationalsozialistischen Verfolgung nach Israel ausgewandert ist.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen