Leitsatz (amtlich)
1. Für die Beurteilung, ob eine konkrete Gefahr, arbeitslos zu werden, besteht (Vorabentscheidung des EuGH vom 4.6.1987, Rechtssache 375/85), ist regelmäßig auf den Zeitpunkt abzustellen, zu dem die berufliche Fortbildungsmaßnahme beantragt wird.
2. Eine derartige Gefahr besteht nicht, wenn der Antragsteller von Arbeitslosigkeit weder unmittelbar bedroht noch Arbeitslosigkeit in absehbarer Zeit zu erwarten ist.
Normenkette
AFG § 46 Abs 1 S 1 Fassung: 1979-07-23; EWGV 1408/71 Art 4 Abs 1 Buchst g; EWGV 1408/71 Art 67
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten, ob die Beklagte eine berufliche Fortbildung des Klägers zu fördern hat.
Der 1941 geborene Kläger ist italienischer Staatsangehöriger. Seit 1964 arbeitete er in der Bundesrepublik Deutschland im Fernsehreparaturgewerbe, ab Juli 1975 als Technikergeselle. In der Zeit vom 14. Februar 1977 bis 30. Juni 1980 übte er den Beruf versicherungspflichtig in Italien aus; von August bis September 1980 wieder in Deutschland. Ab 6. Oktober 1980 besuchte er hier einen Vorbereitungslehrgang für die Meisterprüfung im Radio- und Fernsehtechnikerhandwerk, den er am 14. Juli 1981 mit Erfolg abschloß. Anschließend arbeitete er als angestellter Radio- und Fernsehtechnikermeister bei der Firma weiter, bei der er schon seit 1973 beschäftigt war.
Die Förderung der Lehrgangsteilnahme lehnte die Beklagte aufgrund von § 46 Abs 1 und 2 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) ab (Bescheid vom 28. Oktober 1980). Widerspruch, Klage und Berufung hatten keinen Erfolg. Nach der Ansicht des Landessozialgerichts (LSG) stellt die in Italien ausgeübte Beschäftigung keine beitragspflichtige Beschäftigung iS des § 46 Abs 1 AFG dar. Mit Hilfe des Rechtes der Europäischen Gemeinschaften (EG) könne sie als solche nicht berücksichtigt werden, insbesondere nicht gemäß Art 67 der Verordnung Nr 1408/71 des Rates zur Anwendung der Systeme der Sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern - EWGV 1408/71 - vom 14. Juni 1971 iVm Art 4 Abs 1 Buchst g, aber auch nicht gemäß Art 7 EWGV 1612/68. Darüber, daß die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen zu einer Förderung nach § 46 Abs 2 AFG weder vorlägen noch geltend gemacht würden, bestehe zwischen den Beteiligten Einigkeit (Urteil vom 27. Juni 1984).
Auf die vom Kläger eingelegte Revision hat das Bundessozialgericht (BSG) mit Beschluß vom 15. Oktober 1985 gemäß Art 177 Abs 1 und 3 des EWG-Vertrages (EWGV) vom 25. März 1957 den Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) zur Vorabentscheidung über die Auslegung des Art 67 Abs 1 EWGV 1408/71 angerufen. Es hat dem EuGH folgende Frage vorgelegt:
"Gilt Art 67 Abs 1 EWGV 1408/71 iVm Art 4 Abs 1 Buchst g auch für Leistungsansprüche, die ein Mitgliedstaat zwar nicht wegen bestehender Arbeitslosigkeit gewährt, mit denen er jedoch einer künftigen Arbeitslosigkeit vorbeugen will, so daß bei der Förderung einer beruflichen Fortbildung nach § 46 Abs 1 AFG als "Beitragspflicht begründende Beschäftigung" auch die in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegten Versicherungszeiten zu berücksichtigen sind?"
Der EuGH hat mit Urteil vom 4. Juni 1987 (Rechtssache 375/85) auf die vorgelegte Frage für Recht erkannt und entschieden:
Artikel 67 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 4 Absatz 1 Buchstabe g der Verordnung Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 gilt für Leistungen zur Förderung der beruflichen Fortbildung eines in Arbeit stehenden Arbeitnehmers, sofern für ihn eine konkrete Gefahr, arbeitslos zu werden, besteht.
Der Kläger hält nach dieser Entscheidung an seinem Begehren fest, die Teilnahme an dem Meisterkursus zu fördern; das LSG habe festzustellen, ob damals eine konkrete Gefahr, arbeitslos zu werden, bestand.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet.
Wie der EuGH in der eingeholten Vorabentscheidung für Recht erkannt hat, gilt Art 67 Abs 1 iVm Art 4 Abs 1 Buchst g EWGV 1408/71 für Leistungen zur Förderung der beruflichen Fortbildung eines in Arbeit stehenden Arbeitnehmers, sofern für ihn eine konkrete Gefahr besteht, arbeitslos zu werden. An diese Entscheidung ist der erkennende Senat gebunden. Die nach Maßgabe des Art 177 EWGV ergangenen Urteile des EuGH sind für alle mit demselben Ausgangsverfahren befaßten staatlichen Gerichte verbindlich (EuGH, Urteil vom 4. Juni 1969, Rechtssache 29/68 in Sammlung 1969, 165, 178; BVerfG, Beschluß vom 25. Juli 1979 - 2 BvL 6/77; Beschluß vom 8. April 1987 - 2 BvR 687/85 -); dies folgt aus Sinn und Zweck der Art 177 und 164 EWGV sowie aus dem Begriff der "Vorabentscheidung" (Groeben/Boeckh/Thiesing, Komm zum EWG-Vertrag, Anm V zu Art 177).
Da der für die begehrte Förderung maßgebliche § 46 Abs 1 AFG (in der hier anzuwendenden Fassung des 5. Änderungsgesetzes vom 23. Juli 1979, BGBl I 1189) voraussetzt, daß die Antragsteller innerhalb der dort genannten Rahmenfristen von drei bzw fünf Jahren vor Beginn der Fortbildungsmaßnahme mindestens zwei Jahre lang eine die Beitragspflicht begründende Beschäftigung ausgeübt haben und dieses Erfordernis nach innerstaatlichem Recht hier nicht gegeben ist, weil mit einer "die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung" nur nach dem AFG beitragspflichtige Inlandsbeschäftigungen gemeint sind, kann der Kläger die gesetzliche Norm nur erfüllen, wenn seine versicherungspflichtigen Beschäftigungszeiten in Italien nach dem Recht der EG mitzuberücksichtigen sind. Hierfür kommt als Grundlage allein der Art 67 Abs 1 EWGV 1408/71 in Betracht. Auf Art 7 Abs 3 EWGV 1612/68 vermag sich der Kläger nicht zu berufen. Er wird im Rahmen des § 46 Abs 1 AFG nicht anders behandelt als deutsche Arbeitnehmer, bei denen Beschäftigungszeiten in anderen Mitgliedstaaten ebenfalls nicht berücksichtigt werden. Wie der EuGH bereits entschieden hat (Urteil vom 24. April 1980, Rechtssache 110/79), soll die EWGV 1612/68 nicht Ansprüche aufgrund in anderen Mitgliedstaaten zurückgelegter Versicherungszeiten schaffen, wenn diese nach innerstaatlichen Bestimmungen nicht bestehen.
Art 67 Abs 1 (iVm Art 4 Abs 1 Buchst g) EWGV 1408/71 kann gemäß der Vorabentscheidung des EuGH dem Begehren des Klägers indes nicht zum Erfolg verhelfen. Danach wären die italienischen Zeiten nur zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, "sofern für ihn eine konkrete Gefahr, arbeitslos zu werden, besteht". Dies ist jedoch nicht der Fall.
Was zunächst die Wahl der Gegenwartsform im Urteilsspruch des EuGH angeht, so kann sie hier nicht bedeuten, daß eine derartige Gefahr derzeit gegeben sein müßte. Aus dem Urteilsspruch in Verbindung mit Ziffer 13 der Entscheidung geht vielmehr hervor, daß grundsätzlich auf den Zeitpunkt abzustellen ist, zu dem eine Leistung zur Förderung der beruflichen Fortbildung beantragt wird; er wird als Regelzeitpunkt anzunehmen sein. Dies schließt allerdings nicht aus, im Einzelfall (s hierzu Ziffer 13 der Entscheidung) die Beurteilung auch über einen längeren Zeitraum zu erstrecken, wobei die Antragstellung in der Regel den Beginn und die letzte Verwaltungsentscheidung den Endzeitpunkt darstellen dürfte. Auch könnte der Beginn der Maßnahme für den Beurteilungszeitraum noch von Bedeutung sein, jedenfalls dann, wenn er vor der das Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung liegt (vgl hierzu BSGE 48, 88 = SozR 2200 § 1236 Nr 14, Leitsatz 1; SozR aaO Nr 16). Ob unter bestimmten Umständen ein noch späterer Zeitpunkt - bis hin zu dem der Entscheidung in der zweiten gerichtlichen Tatsacheninstanz - in Betracht kommen könnte, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Denn der Kläger war in den Zeiten bis zur Antragstellung und nach dem Abschluß der Fortbildungsmaßnahme nicht in einer konkreten Gefahr, arbeitslos zu werden.
Daß der Kläger nach der Rückkehr aus Italien wieder in eine versicherungspflichtige Beschäftigung bei seinem früheren deutschen Arbeitgeber eingetreten ist und sie bis zum Beginn des Meisterkurses innehatte, hat das LSG bindend (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-) festgestellt. Konkrete Anhaltspunkte dafür, daß er den Arbeitsplatz verlieren sollte, sind aus den Feststellungen nicht zu entnehmen. Im gesamten Verfahren ist vom Kläger auch niemals vorgetragen worden, daß hiermit zu rechnen gewesen sei. Im Anschluß an die Fortbildung hat der Kläger, wie er in der letzten mündlichen Verhandlung vor dem LSG zu Protokoll erklärt hat, bei derselben Firma weiterhin gearbeitet, nunmehr als Radio- und Fernsehtechnikermeister. Von einem jetzt drohenden Verlust des Arbeitsplatzes ist weder in der Niederschrift die Rede noch anderswo; das LSG hat im Urteil Gegenteiliges nicht festgestellt. Unterstrichen werden diese Tatsachen durch die Revisionsbegründung (S 3 Nr 2 erster Absatz), in der sich der Kläger als einen nichtarbeitslosen und nicht unmittelbar von Arbeitslosigkeit bedrohten Arbeitnehmer bezeichnet hat, der im Besitz des ersten beruflichen Abschlusses die weitere Förderung beansprucht habe. In der Stellungnahme zum Urteil des EuGH hat er das nicht in Frage gestellt. Darin bringt der Kläger zwar den allgemein gehaltenen Hinweis vor, das Berufungsgericht werde zu prüfen haben, ob bei ihm "damals" eine konkrete Gefahr der Arbeitslosigkeit bestanden habe - etwa eine Kündigung, ein befristetes Arbeitsverhältnis oder die Zugehörigkeit zu einer gefährdeten Berufsgruppe -, legt aber nicht dar, inwiefern und wodurch eine dahingehende Prüfung, insbesondere im Hinblick auf die Revisionsbegründung, veranlaßt sei.
Angesichts dieser Umstände war der Senat in der Lage, abschliessend in der Sache zu entscheiden, denn der insgesamt als festgestellt zu erachtende Sachverhalt im Verein mit dem zu berücksichtigenden Vortrag läßt den rechtlichen Schluß zu, daß für den Kläger iS der Vorabentscheidung des EuGH keine konkrete Gefahr, arbeitslos zu werden, bestand. Weder war er von Arbeitslosigkeit bereits unmittelbar bedroht noch war Arbeitslosigkeit auch nur in absehbarer Zeit zu erwarten (vgl § 44 Abs 2 Satz 2 Nrn 2 und 4 AFG). Darüber, daß der Anspruch auf § 46 Abs 2 AFG nicht gestützt werden könne, gingen die Beteiligten vor dem LSG ohnehin einig.
Die Revision war hiernach zurückzuweisen, damit verbleibt es bei der Abweisung der Klage.
Die Entscheidung über die Kosten folgt aus § 193 SGG. Sie schließt die im Verfahren vor dem EuGH entstandenen außergerichtlichen Kosten mit ein.
Fundstellen