Entscheidungsstichwort (Thema)
Kostenentscheidung im Vorverfahren
Leitsatz (amtlich)
Ist im sozialgerichtlichen Verfahren die Gebühr des Rechtsanwalts nach dem Gegenstandswert zu berechnen (§ 116 Abs 2 BRAGebO), so darf die sich für das Vorverfahren ergebende Gebühr nicht aufgrund des von der Rechtsprechung für das Vorverfahren entwickelten Gebührenrahmens (BSG vom 7.12.1983 - 9a RVs 5/82 = SozR 1300 § 63 Nr 2, BSG vom 22.3.1984 11 RA 16/83 = SozR 1300 § 63 Nr 3, BSG vom 22.3.1984 11 RA 58/83 = SozR 1300 § 63 Nr 4) gekürzt werden.
Orientierungssatz
Die Kostenentscheidung ist im Widerspruchsbescheid oder im Abhilfebescheid zu treffen. Wenn der Abhilfebescheid bzw der Widerspruchsbescheid von der Ausgangsbehörde erlassen wurde, kann eine fehlende Kostenentscheidung einschließlich der Entscheidung über die Zuziehung eines Rechtsanwaltes in dem Verwaltungsakt über die Festsetzung der Kosten nachgeholt werden.
Normenkette
SGB 10 § 63 Abs 2; BRAGebO § 116 Abs 2, §§ 118-119, 116 Abs 1
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist, ob die Rechtsanwaltsgebühren für das Vorverfahren auch dann niedriger als für das Gerichtsverfahren anzusetzen sind, wenn letztere nach dem Streitwert berechnet werden.
Der von der Klägerin selbst betriebene Antrag auf Gewährung eines Arbeitsentgeltzuschusses für einen Schwerbehinderten nach Maßgabe des 4. Sonderprogramms des Bundes und der Länder zum Abbau der Arbeitslosigkeit Schwerbehinderter und zur Förderung des Ausbildungsplatzangebotes für Schwerbehinderte wurde von der beklagten Bundesanstalt für Arbeit (BA) abgelehnt (Bescheid vom 28. Februar 1984). Der Prozeßbevollmächtigte der Klägerin, Rechtsanwalt S., legte in deren Namen Widerspruch ein und begründete dies nach Akteneinsicht. Das Arbeitsamt (AA) bewilligte daraufhin die Leistung und hob den Bescheid vom 28. Februar 1984 auf (Bescheid vom 28. September 1984). Der Prozeßbevollmächtigte machte einen Kostenanspruch von 866,40 DM geltend (Gebühr: 720,-- DM; Auslagenpauschale: 40,-- DM; Mehrwertsteuer: 106,40 DM). Die Beklagte setzte den Kostenerstattungsanspruch auf 592,80 DM fest, da nach dem Urteil des Bundessozialgerichts (BSG) vom 7. Dezember 1983 (SozR 1300 § 63 Nr 2) die Gebühren für das Vorverfahren in Angelegenheiten der Sozialgerichtsbarkeit um 1/3 geringer anzusetzen seien als die im Gerichtsverfahren, so daß sich die aus dem Gegenstandswert von 25.816,20 DM auf 720,-- DM berechnete Gebühr auf 480,-- DM mindere (Bescheid vom 12. November 1984; Widerspruchsbescheid vom 14. Januar 1985).
Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. Juni 1985). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, der Klägerin die Kosten des Vorverfahrens nach ihrer Kostenberechnung zu erstatten (Urteil vom 14. Februar 1986).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte Verletzung der §§ 116 und 118 der Bundesgebührenordnung für Rechtsanwälte (BRAGebO). Der § 63 Sozialgesetzbuch - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) habe als § 61 des Regierungsentwurfs vorgesehen, daß die Gebühren im Vorverfahren "bis zur Höhe der erstattungsfähigen Kosten im ersten Rechtszug" erstattungsfähig seien; die Formulierung sei im Gesetzgebungsverfahren zur Vermeidung überhöhter Anwaltsgebühren gestrichen worden (BT-Drucks VIII/4022 S 83). Das sei nicht nur in den Fällen einer Rahmengebühr zu berücksichtigen, sondern auch in den Fällen der Streitwertgebühren.
Die Beklagte beantragt, das Urteil des LSG insoweit aufzuheben, als die Beklagte verurteilt wurde, die zu erstattenden Kosten des Vorverfahrens nach einer höheren Gebühr als 640,-- DM zu berechnen, und die Berufung der Klägerin insoweit zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Beide Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
Entscheidungsgründe
Die Revision war zurückzuweisen. Das LSG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, die Kosten nach Maßgabe der Kostenrechnung der Klägerin zu erstatten.
Die Beklagte hat nach § 63 SGB 10 der Klägerin Gebühren und Auslagen des im Vorverfahren bevollmächtigten Rechtsanwalts zu erstatten. Der Widerspruch der Klägerin war erfolgreich iS dieser Vorschrift. Der unmittelbar an die Klägerin gerichtete Bewilligungsbescheid vom 28. September 1984 ist zwar kein Widerspruchsbescheid, obgleich er auch dem Prozeßbevollmächtigten der Klägerin mit der Erläuterung bekanntgegeben wurde, mit dem beigefügten Bescheid sei dem Widerspruch "stattgegeben" worden. Es handelt sich vielmehr um einen Abhilfebescheid iS des § 85 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), obgleich im Bescheid nur auf den Antrag und nicht auch auf den Widerspruch Bezug genommen wird. Der Qualifizierung als Abhilfebescheid steht nicht entgegen, daß das AA weisungsgemäß den Widerspruch dem Landesarbeitsamt (LAA) vorgelegt hat mit einer Stellungnahme, die nach ihrem Gesamtgehalt eine Abhilfe ablehnt. Die Abhilfemöglichkeit wird mit einer solchen internen verwaltungsmäßigen Entschließung nicht verwirkt (anderer Auffassung wohl Peters/Sautter/Wolff, SGG Kommentar, § 85 Anm 2 auf S 302/1). Es ist deshalb unerheblich, daß das AA die Leistung erst bewilligte auf die Weisung des LAA, dem Widerspruch stattzugeben und eine Durchschrift des Abhilfebescheides zu übersenden. Unter diesen Umständen ergibt das Fehlen einer Kostenentscheidung nicht, daß die Behörde keinen Abhilfebescheid erlassen, sondern eine Erledigung auf sonstige Weise bewirken wollte.
Ein Widerspruch ist nicht nur dann erfolgreich, wenn die Widerspruchsbehörde dem Widerspruch entspricht, sondern auch, wenn die Ausgangsbehörde den Widerspruch für begründet erachtet und einen Abhilfebescheid erläßt (SozR 1300 § 63 Nr 3; BVerwG, Buchholz 316 § 80 Nr 10, das eine Erledigung zugunsten des Widerspruchsführers in sonstiger Weise allerdings nicht genügen läßt).
Unerheblich ist, daß die Beklagte erst bei der Kostenfestsetzung und nicht schon im Abhilfebescheid die Zuziehung eines Rechtsanwalts anerkannt (SozR 1300 § 63 Nr 4) und die Kostenentscheidung getroffen hat. Der § 63 SGB 10 unterscheidet zwar zwischen der Kostenentscheidung und der Kostenfestsetzung; hat ein Ausschuß oder Beirat die Kostenentscheidung getroffen, obliegt die Kostenfestsetzung der Behörde, bei der der Ausschuß oder Beirat gebildet ist. Die Kostenentscheidung ist im Widerspruchsbescheid, wenn dem Widerspruch abgeholfen wird, im Abhilfebescheid zu treffen, auch wenn dies in § 63 SGB 10 nicht ausdrücklich gesagt wird (zum Abhilfebescheid VG Düsseldorf, JurBüro 1984, 55 = AnwBl 1984, 321). In der Kostenentscheidung ist nach § 63 Abs 3 Satz 2 SGB 10 auch zu bestimmen, ob die Zuziehung eines Rechtsanwalts notwendig war. Eine fehlende Kostenentscheidung kann einschließlich der Entscheidung über die Zuziehung eines Rechtsanwalts jedenfalls dann in dem Verwaltungsakt über die Festsetzung der Kosten nachgeholt werden, wenn der Abhilfebescheid bzw der Widerspruchsbescheid auch von der Ausgangsbehörde erlassen wurde. Ob dies auch gilt, wenn das Vorverfahren durch einen Widerspruchsbescheid erfolgreich abgeschlossen wurde, der von einer anderen Behörde als der Ausgangsbehörde oder von einer selbständigen Widerspruchsstelle erlassen wurde (verneinend wohl BVerwG, Beschluß vom 29. Oktober 1986 - 6 B 144.85 - DÖV 1987, 599), kann dahinstehen.
Gemäß § 63 Abs 2 SGB 10 sind "die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren" erstattungsfähig. Damit ist der gesetzliche Vergütungsanspruch gemeint, der sich für die Tätigkeit eines Rechtsanwalts in dem (dem Rechtsstreit vorausgehenden) Vorverfahren nach § 118 iVm § 119 BRAGebO richtet. In § 118 BRAGebO ist bestimmt, daß der Rechtsanwalt 5/10 bis 10/10 der vollen Gebühr als Geschäftsgebühr, Besprechungsgebühr und Beweisaufnahmegebühr erhält; die volle Gebühr muß dabei nach dem Gegenstandswert errechnet (§ 7) und der Tabelle zu § 11 entnommen werden. Eine solche Gebührenberechnung ist in den dem SGB 10 unterfallenden Verwaltungsverfahren dann angemessen, wenn auch im nachfolgenden Gerichtsverfahren die Gebühren gemäß § 116 Abs 2 BRAGebO nach dem Gegenstandswert berechnet werden; anders verhält es sich nur in den Angelegenheiten, für die dem Rechtsanwalt im Verfahren vor den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit nach § 116 Abs 1 BRAGebO nur Rahmengebühren zustehen (SozR 1300 § 63 Nr 3). Die Voraussetzungen des § 116 Abs 2 BRAGebO, nach dem ua bei Verfahren zwischen Arbeitgebern und der BA sich die Gebühr nach dem Gegenstandswert berechnet, sind unzweifelhaft erfüllt. Desgleichen hat das LSG zutreffend und von der Revision nicht angegriffen die Geschäftsgebühr auf der Grundlage des Gegenstandswertes von 25.816,20 DM und einer 7,5/10 Gebühr als Mittelwert des in § 118 BRAGebO genannten Gebührenrahmens auf 720,-- DM berechnet.
Die Beklagte meint zu Unrecht, die für das Vorverfahren anfallende Gebühr dürfe 2/3 der für das Gerichtsverfahren erster Instanz anfallenden Gebühr nicht überschreiten, so daß 2/3 der im Gerichtsverfahren anfallenden 10/10 Gebühr, also eine 6,6/10 Gebühr maßgebend sei, was die Geschäftsgebühr auf 640,-- DM begrenze. Die von der Beklagten angeführten Gesetzesmaterialien zu § 63 SGB 10 lassen nicht darauf schließen, daß die Gebühren eines Rechtsanwalts im Vorverfahren geringer sein sollen als die Gebühren im Verfahren vor den Sozialgerichten. Wenn der Gesetzgeber die im Gesetzentwurf noch vorgesehene Begrenzung der erstattungsfähigen Kosten im Vorverfahren auf die im ersten Rechtszug erstattungsfähigen Kosten "zur Vermeidung überhöhter Anwaltsgebühren" gestrichen hat (BT-Drucks 8/4022 S 83 zu § 61), so wird damit nicht eine neue, tiefere Begrenzung eingeführt, sondern es verbleibt beim Gebührenrecht, also bei den §§ 118, 116 BRAGebO.
Darüber hinaus geht die Beklagte bei der von ihr angenommenen Kürzung um 1/3 zu Unrecht davon aus, daß im ersten Rechtszug nach § 116 Abs 2 BRAGebO nur eine 10/10 Gebühr entstanden wäre. Nach der genannten Bestimmung sind die Vorschriften des 3. Abschnitts sinngemäß anzuwenden; es entstehen also die Prozeßgebühr, die Verhandlungsgebühr und unter Umständen die Beweisgebühr. Die insoweit unterschiedliche Regelung der anfallenden Gebühren trägt dem Unterschied zwischen Gerichtsverfahren und Vorverfahren ausreichend Rechnung.
Demgemäß geht auch die Rechtsprechung zur Erstattung der Kosten des Vorverfahrens im Zuständigkeitsbereich der Verwaltungsgerichtsbarkeit von der Mittelgebühr des § 118 BRAGebO aus (BVerwGE 62, 196 und ständige Rechtsprechung, zB Urteil vom 7. Juni 1985 - 6 C 63/83 -; vom 16. August 1983 - 6 B 22/83 -). Dort wird erörtert, ob nicht in Normalfällen die Mittelgebühr für das Verwaltungsverfahren angemessen und für das Vorverfahren eine höhere 10/10 Gebühr zugrunde zu legen ist.
Die Beklagte kann sich auch nicht auf die Rechtsprechung des BSG berufen, nach der der Rechtsanwalt für seine Tätigkeit im Vorverfahren in den Fällen des § 116 Abs 1 BRAGebO eine Rahmengebühr von 25,-- bis 305,-- DM erhält; die gesetzliche Regelung, nach der der Rechtsanwalt in den Fällen des § 116 Abs 1 BRAGebO im Gerichtsverfahren eine Rahmengebühr, im Vorverfahren aber eine meist höhere Gebühr nach dem Gegenstandswert erhalte, sei lückenhaft; zur Schließung der Gesetzeslücke seien die im Gesetz für die einzelnen Gerichtsinstanzen angegebenen Gebührenrahmen um einen weiteren Gebührenrahmen für das Vorverfahren zu ergänzen, der auf etwa 2/3 des für die erste Instanz geltenden Rahmens festzusetzen sei (SozR 1300 § 63 Nr 2, Nr 3, Nr 4 und ständige Rechtsprechung, zuletzt Urteil vom 24. Juli 1986 - 7 RAr 86/84 - RV 1986, 200). Hieran ist trotz des erhobenen Vorwurfs der Eigenmächtigkeit und der fehlenden Gesetzesgrundlage (Schmidt, AnwBl 1985, 635; Diemer, AnwBl 1985, 653) festzuhalten, zumal der Vorschlag, den gesetzlichen Gebührenrahmen für das Verfahren erster Instanz auch für das Vorverfahren anzuwenden, eher den Vorwurf der Eigenmächtigkeit verdient, da der Gesetzgeber bei Kenntnis der Gesetzeslücke schwerlich für die erste Instanz und für das Vorverfahren denselben Gebührenrahmen bestimmt hätte. Allerdings weist schon der erhobene Vorwurf der Eigenmächtigkeit darauf hin, daß diese Rechtsprechung nur bei einem dringenden Bedürfnis auf weitere Gebiete erstreckt werden kann. In den Fällen des § 116 Abs 2 BRAGebO fehlt es indes an einer solchen Gesetzeslücke. Hier richten sich die Gebühren für das Vorverfahren und für das Gerichtsverfahren nach dem Gegenstandswert, so daß für das Vorverfahren nach § 118 BRAGebO und für das Gerichtsverfahren nach dem 3. Abschnitt der BRAGebO verfahren werden kann, ohne das dies zu untragbaren Ergebnissen führt. Das Ergebnis entspricht vielmehr im Gegenteil der Billigkeit. Die Vorschriften über den Gebührenanspruch nach dem Streitwert für Vorverfahren und Gerichtsverfahren sind in sich ausgewogen.
Die Klägerin ist nur im Widerspruchsverfahren von einem Rechtsanwalt vertreten worden. Der geltend gemachte Gebührenanspruch ist damit in vollem Umfang im Vorverfahren entstanden. Der Senat braucht daher nicht auf die Schwierigkeiten einzugehen, die sich bei einer Vertretung im Verwaltungsverfahren und im Vorverfahren daraus ergeben, daß nach § 119 BRAGebO das gesamte Verwaltungsverfahren einschließlich des Vorverfahrens als eine Angelegenheit behandelt wird.
Die Revision der Beklagten ist daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG zurückzuweisen.
Fundstellen