Orientierungssatz
1. § 152 Abs 1 AFG schließt die Anwendung des § 44 Abs 2 S 2 SGB 10 im Arbeitsförderungsrecht nicht aus (Festhaltung an BSG vom 24.2.1987 - 11b RAr 25/86 = SozR 1300 § 44 Nr 26).
2. Pflichtgemäßes Ermessen bei der Rücknahme eines rechtswidrigen nicht begünstigenden Verwaltungsaktes.
Normenkette
AFG § 152 Abs 1; SGB 10 § 44 Abs 2 S 2
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 17.10.1986; Aktenzeichen L 6 Ar 18/86) |
SG Speyer (Entscheidung vom 18.12.1985; Aktenzeichen S 1 Ar 402/84) |
Tatbestand
Streitig ist, inwieweit die Beklagte einen Kürzungsbescheid zurücknehmen muß oder im Ermessenswege zurücknehmen kann und wie sie gegebenenfalls das Ermessen auszuüben hat.
Die Arbeitsverwaltung gewährte der im Jahr 1959 geborenen Klägerin, einer staatlich geprüften Gymnastiklehrerin, durch Bescheid vom 7. Oktober 1981 "unter dem Vorbehalt, daß die Leistungen an das ab 1. Januar 1982 geltende Recht angepaßt werden", Förderungsleistungen für die Umschulung zur Arbeits- und Beschäftigungstherapeutin in der Zeit von Oktober 1981 bis September 1984. Das Unterhaltsgeld (Uhg) betrug zunächst - entsprechend dem bis Ende 1981 geltenden Recht - 80 vH des maßgebenden Arbeitsentgelts. Mit Bescheid vom 30. Dezember 1981 setzte das Arbeitsamt wegen der Gesetzesänderung durch das am 1. Januar 1982 in Kraft getretene Arbeitsförderungs-Konsolidierungsgesetz (AFKG) das Uhg für die Zeit ab 1. Januar 1982 von 80 auf 68 vH herab.
Am 4. Mai 1984 beantragte die Klägerin die Nachzahlung der gekürzten Beträge. Das Arbeitsamt bewilligte mit Bescheid vom 6. Juni 1984 für die Zeit ab 4. Mai 1984 Uhg nach dem Leistungssatz von 75 vH, lehnte aber die Zahlung des höheren Uhg für die Vergangenheit ab. Der Widerspruch blieb erfolglos.
Mit der Klage hat die Klägerin beantragt, den Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts über den Antrag auf rückwirkende Gewährung des höheren Uhg zu entscheiden. Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 18. Dezember 1985 dem Antrag entsprochen und die Berufung zugelassen. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten als unbegründet zurückgewiesen und die Revision zugelassen. In den Entscheidungsgründen ist ausgeführt: Der Kürzungsbescheid vom 30. Dezember 1981 sei rechtswidrig, weil der Zusatz im Bewilligungsbescheid nicht den gesetzlichen Anforderungen genüge. Bei der Ablehnung einer rückwirkenden Erhöhung des Uhg habe die Beklagte nicht, wie nach § 44 Abs 2 Satz 2 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB 10) erforderlich, ihr Ermessen ausgeübt. Deshalb habe das SG zu Recht den Bescheid vom 6. Juni 1984 aufgehoben und die Beklagte zum Erlaß eines neuen Bescheides verpflichtet. Zur (künftigen) ermessensfehlerfreien Entscheidung kämen unterschiedliche Ergebnismöglichkeiten in Betracht. Für die rückwirkende Korrektur seien als Zeitpunkt der Rückwirkung der Erlaß der Urteile des Bundessozialgerichts (BSG) vom 20. Oktober und 7. Dezember 1983 in Erwägung zu ziehen. Es sei aber auch nicht auszuschließen, daß die Beklagte bei pflichtgemäßem Ermessen zum Ergebnis komme, die Rückwirkung könne wegen besonderer Interessenlage der Klägerin bereits ab 1. Januar 1982 erfolgen. Eine "Reduzierung des Ermessens auf Null" sei hier nicht gegeben.
Mit der Revision trägt die Beklagte vor, im Rahmen des § 152 Abs 1 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) finde § 44 Abs 2 SGB 10 keine Anwendung, weshalb für die Vergangenheit kein Raum für eine Ermessensentscheidung bestehe. Sie beantragt, die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich auf die Begründung des angefochtenen Urteils.
Nachdem der Senat in den Urteilen vom 24. Februar 1987 - 11b RAr 24 bis 26/86 - (SozR 1300 § 35 Nr 3, § 44 Nr 26 und § 35 Nr 4) ua entschieden hatte, daß § 152 Abs 1 AFG die Anwendung des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 im Arbeitsförderungsrecht nicht ausschließt, hat die Beklagte auf Anfrage des Senatsvorsitzenden sich im Hinblick auf eine gütliche Beendigung des Rechtsstreits bereit erklärt, über den Nachzahlungsantrag der Klägerin unter Zugrundelegung dieser Urteile eine neue Entscheidung zu treffen. Eine Rücknahme der Revision hat sie abgelehnt, weil das angefochtene Urteil ihr Ermessen gegenüber dem ihr vom BSG eingeräumten Spielraum - im Sinn einer rückwirkenden Korrektur des Kürzungsbescheides - einenge. Die Klägerin hat das Angebot der Beklagten abgelehnt.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet. Die Vorinstanzen haben zu Recht die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides verurteilt, in dem diese über die beantragte Rücknahme des Kürzungsbescheides gemäß § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden hat.
Daß im Arbeitsförderungsrecht § 152 Abs 1 AFG nicht die Anwendung des § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 ausschließt, hat der Senat in den Urteilen vom 24. Februar 1987 (SozR 1300 § 35 Nrn 3 und 4 sowie § 44 Nr 26) mit eingehender Begründung entschieden. Dieser Rechtsauffassung, an der festzuhalten ist, tritt die Beklagte nicht mehr entgegen.
Der sonach anwendbare § 44 Abs 2 Satz 2 SGB 10 setzt in Verbindung mit dem vorangegangenen Satz 1 voraus, daß der nicht begünstigende Verwaltungsakt, um dessen Rücknahme es geht, rechtswidrig ist. Das ist hier zu bejahen. Der Vorbehalt der "Anpassung" genügt nicht den Anforderungen des Art 1 § 2 Nr 3 Buchst a AFKG an den Hinweis auf die Änderungen in diesem Gesetz. Das hat der 7. Senat des BSG in den Urteilen vom 20. Oktober 1983 (SozR 4150 Art 1 § 2 Nr 1) und vom 7. Dezember 1983 - 7 RAr 22/83 - (AuB 84, 220) entschieden. Der erkennende Senat hat sich in den drei erwähnten Urteilen dieser Rechtsauffassung angeschlossen.
Die Arbeitsverwaltung mußte deshalb über die beantragte Rücknahme des Kürzungsbescheides nach pflichtgemäßem Ermessen befinden. Das hat sie nicht getan. Sie hat vielmehr noch im Widerspruchsbescheid vom 3. Juli 1984 erklärt, eine Rücknahme (des Kürzungsbescheides) auch für die Vergangenheit sei "nicht möglich", damit aber unklar gelassen, ob ihre Erwägungen dem Zweck der ihr erteilten Ermessensermächtigung entsprochen haben (vgl § 54 Abs 2 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
Das Unterlassen der Ermessensentscheidung macht den angefochtenen Bescheid und den Widerspruchsbescheid rechtswidrig. Die Vorinstanzen haben die Bescheide zu Recht aufgehoben.
Das Ermessen des Arbeitsamtes ist nicht in dem Sinn geschrumpft (vgl BSGE 30, 144, 150), daß nur noch eine vollständig rückwirkende Korrektur des Kürzungsbescheides in Betracht käme. Das hat das LSG ausgeführt, und die Beteiligten haben dem nicht widersprochen. Unter diesen Voraussetzungen haben wegen Fehlens der Spruchreife die Vordergerichte zutreffend die Beklagte zur Erteilung eines neuen Bescheides unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts verurteilt (§ 131 Abs 2 und 3 SGG; BSGE 7, 46, 50; 44, 231, 235).
Die Revision beanstandet, daß das LSG, indem es der Beklagten Weisungen zum Inhalt der Ermessensentscheidung gegeben hat, in unzulässiger Weise zu weitgehende Rechtsauffassungen zu beachten aufgetragen habe. Das ist jedoch nicht der Fall.
Die Ausführungen in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils sind entgegen der Revision nicht dahin aufzufassen, daß das LSG eine rückwirkende Korrektur des Kürzungsbescheides auf jeden Fall vorschreiben und der Beklagten nur die Dauer der Rückwirkung (ab 1. Januar 1982, 20. Oktober 1983 oder 7. Dezember 1983) anheimstellen wolle. Das angefochtene Urteil wird getragen von der Rechtsansicht, daß über den Antrag der Klägerin auf rückwirkende Änderung des Kürzungsbescheides, da eine Ermessensschrumpfung nicht eingetreten ist, in Anwendung pflichtgemäßen Ermessens hätte entschieden werden müssen, aber - im Bescheid vom 6. Juni 1984 - ohne Ermessensanwendung entschieden worden ist. Diese rechtlichen Argumente des LSG reichten aus, um das Aufhebungs- und Bescheidungsurteil zu rechtfertigen. Auf die Frage, welchen Inhalt die künftig vorzunehmende Ermessensentscheidung der Beklagten haben müsse, kam es nicht an; das LSG behandelt diese Frage auch nicht zur Rechtfertigung seiner Entscheidung, sondern bei der Erwägung, welche Ergebnismöglichkeiten bei der künftigen Entscheidung in Betracht kommen. Darin kommt eine Verurteilung zur rückwirkenden Korrektur, wobei nur die Bestimmung des Zeitpunktes im Ermessen steht, jedenfalls nicht mit der erforderlichen Deutlichkeit zum Ausdruck.
Die Revision der Beklagten war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen