Leitsatz (amtlich)
Die Frage, ob das Verfahren des LSG, an einem wesentlichen Mangel leidet, ist vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des LSG, aus zu beurteilen, nicht vom Standpunkt des Revisionsgerichts aus.
Normenkette
SGG § 162 Abs. 1 Nr. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 4. Februar 1955 wird insoweit als unbegründet zurückgewiesen, als sie sich gegen die Verwerfung der Berufung richtet. Soweit die Revision sich gegen die Zurückweisung der Berufung wendet, wird das Urteil aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I.
Die Klägerin wurde am 16. Februar 1895 geboren. Ihr Mann starb am 30. Dezember 1944. Am 4. April 1947 beantragte sie Witwenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Die Versicherungsanstalt Berlin lehnte den Antrag mit Bescheid vom 13. August 1947 ab, da die Klägerin nicht erwerbsunfähig sei. Der Bescheid wurde rechtskräftig.
Am 14. Juli 1950 beantragte die Klägerin erneut Witwenrente wegen Erwerbsunfähigkeit. Darauf bewilligte ihr die Versicherungsanstalt Berlin die Rente ab 1. August 1950, entzog sie ihr aber wieder durch Bescheid vom 21. Januar 1952 ab 1. März 1952 mit der Begründung, von diesem Zeitpunkt an sei sie nicht mehr erwerbsunfähig. Ihre Beschwerde wies der Beschwerdeausschuß am 5. Dezember 1952 zurück. Auf ihre weitere Beschwerde verurteilte der Bezirksberufungsausschuß die Versicherungsanstalt Berlin am 14. Oktober 1953 zur Zahlung der Witwenrente über den Monat Februar 1952 hinaus. Gleichzeitig wies er ihren Antrag, die Versicherungsanstalt Berlin zur Zahlung der Rente von April 1947 an und zur Erstattung der infolge der Rentenentziehung für die Zeit von März 1952 bis Oktober 1952 freiwillig geleisteten Krankenversicherungsbeiträge mit 8 mal 9,- DM = 72,- DM zu verurteilen, als unbegründet zurück. Gegen die Ablehnung dieses Antrags legte die Klägerin Beschwerde bei dem Spruchausschuß des Sozialversicherungsamts Berlin ein. Diese Beschwerde ging nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes am 1. Januar 1954 als Berufung auf das Landessozialgericht Berlin über. Das Landessozialgericht Berlin wies die Berufung mit Urteil vom 4. Februar 1955 hinsichtlich des Anspruchs auf Erstattung von 72,- DM Krankenversicherungsbeiträgen unter Hinweis auf das Urteil des Reichsversicherungsamts vom 14. Juli 1944, A.N. 1944 S. II 268, als unbegründet zurück, im übrigen verwarf es die Berufung nach §§ 146, 153 SGG als unzulässig. Die Revision wurde nur insoweit zugelassen, als die Berufung als unzulässig verworfen wurde. Mit Schriftsatz vom 17. März 1955 legte die Klägerin Revision ein; sie beantragte, das Urteil des Landessozialgerichts aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Zur Begründung führte sie aus, soweit das Landessozialgericht die Berufung verworfen habe, rüge sie die unrichtige Anwendung der §§ 143, 146, 215 und 218 SGG; ihre Beschwerde sei nach dem alten Verfahrensrecht zugelassen gewesen, deshalb müsse auch die Berufung zulässig sein. Soweit das Landessozialgericht die Berufung zurückgewiesen habe, rüge sie einen wesentlichen Mangel des Verfahrens. Die Beiträge, die sie während des Streits um die Rechtmäßigkeit des Entziehungsbescheides vom 21. Januar 1952 freiwillig zur Aufrechterhaltung ihrer Krankenversicherung bezahlt habe, müsse der Träger der Rentnerkrankenversicherung nach Aufhebung dieses Bescheides ihr erstatten. Daß das Landessozialgericht diesen Versicherungsträger nicht nach § 75 Abs.2 SGG beigeladen und auch nicht nach § 106 SGG darauf hingewirkt habe, ihren Antrag auf Erstattung der Beiträge gegen den Träger der Rentnerkrankenversicherung umzustellen, sei ein wesentlicher Mangel des Verfahrens des Landessozialgerichts. Da die Beiladung im Revisionsverfahren nicht möglich sei, müsse das Urteil des Landessozialgerichts aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden.
Die Beklagte, auf die inzwischen die Aufgaben der Rentenversicherung der Angestellten übergegangen waren, beantragte, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, sie als unbegründet zurückzuweisen. Sie führte aus, bei Überleitungsfällen richte sich die Zulässigkeit der Berufung nach dem Sozialgerichtsgesetz, weil in ihm auch die Überleitung selbst geregelt sei. Soweit das Landessozialgericht die Berufung als unzulässig verworfen habe, sei die Entscheidung durch § 146 SGG gerechtfertigt; soweit es die Berufung als unbegründet zurückgewiesen habe, sei die Revision unzulässig, weil ein Verfahrensmangel nicht vorliege.
II.
Soweit das Landessozialgericht die Berufung als unzulässig verworfen hat, ist die Revision statthaft, weil das Landessozialgericht sie zugelassen hat (§ 162 Abs.1 Nr.1 SGG). Sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet (§ 164 SGG). Die Revision ist daher zulässig.
Die Revision ist jedoch insoweit unbegründet.
Mit dem Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes am 1. Januar 1954 ist die Beschwerde, die von der Klägerin beim Spruchausschuß des Sozialversicherungsamts Berlin eingelegt worden ist, nach § 218 Abs.6 SGG als Berufung auf das Landessozialgericht übergegangen. In solchen Fällen ist, wie der erkennende Senat in dem Urteil vom 29. November 1955, Az. 1 RA 43/54, ausführlich dargelegt hat, für die Frage der Zulässigkeit der Berufung das Recht des Sozialgerichtsgesetzes maßgebend. Das bedeutet, daß die Berufung nur zulässig ist, wenn keine Ausschließungsgründe im Sinne der §§ 144 bis 149 SGG vorliegen (ebenso die Urteile des Bundessozialgerichts vom 16.6.1955, 8 RV 223/54, und vom 20.9.1955, 9 RV 78/54). Im vorliegenden Fall ist die Berufung der Klägerin nach § 146 SGG unzulässig. Nach dieser Vorschrift können in Angelegenheiten der Rentenversicherung Urteile mit der Berufung nicht angefochten werden, wenn sie nur die Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffen. Dies ist hier der Fall, denn die Klägerin beantragt in diesem Verfahren erstmals in dem Schriftsatz vom 8. Januar 1953, es möge ihr die Rente, die ihr ab 1. August 1950 bewilligt ist, noch nachträglich für die Zeit von der Stellung des Antrags auf Rente im April 1947 bis zum 1. August 1950, mithin eindeutig für längst abgelaufene Zeiträume, bewilligt werden. Nach § 146 SGG ist aber in solchen Fällen die Berufung ausgeschlossen; die Berufung könnte allerdings trotzdem nach § 150 Nr.1 SGG zulässig sein, wenn das Sozialgericht sie im Urteil zuließe, weil es sich um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung handelt. Da aber zur Zeit der Entscheidung des Bezirksberufungsausschusses die Sozialgerichte noch nicht errichtet waren und auch keine dem § 150 Nr.1 SGG entsprechende Vorschrift in Kraft gewesen ist, ist vom Landessozialgericht selbst zu entscheiden gewesen, ob die Berufung zuzulassen ist, weil es sich um eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung handelt (vgl. die Urteile des Bundessozialgerichts vom 16.6.1955, 8 RV 461/54, vom 20.9.1955, 9 RV 78/54 und vom 13.10.1955, 1 RA 17/54 und den Beschluß vom 20.10.1955, 1 RA 40/54). Mit Recht hat das Landessozialgericht angenommen, daß der Fall des § 150 Nr.1 SGG nicht gegeben ist; die Rechtssache berührt nur Ansprüche des Klägers und hat keine darüber hinausgehende Bedeutung. Die Berufung ist deshalb vom Landessozialgericht insoweit zu Recht als unzulässig verworfen worden; die Revision ist insoweit nach § 170 Abs.1 S.1 SGG als unbegründet zurückzuweisen.
III.
Auch soweit das Landessozialgericht die Berufung als unbegründet zurückgewiesen hat, ist die Revision form- und fristgerecht eingelegt und rechtzeitig begründet; sie ist nach § 162 Abs.1 Nr.2 SGG statthaft, wenn der Verfahrensmangel, der von der Klägerin gerügt ist, auch tatsächlich vorliegt. Daß nicht nur die Rüge, sondern das tatsächliche Vorliegen des wesentlichen Verfahrensmangels Voraussetzung für die Statthaftigkeit der Revision ist, hat der 8. Senat des Bundessozialgerichts in dem Urteil vom 14. Juli 1955, 8 RV 177/54, näher ausgeführt; den Darlegungen dieses Urteils schließt sich der erkennende Senat an. Zu ergänzen ist nur, daß die Frage, ob das Verfahren des Landessozialgerichts an einem wesentlichen Mangel leidet, vom sachlich-rechtlichen Standpunkt des Landessozialgerichts aus zu beurteilen ist (ebenso für den gleichgelagerten Fall des § 539 ZPO das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 9. Juli 1955, NJW 1955 S. 1358 sowie Baumbach-Lauterbach, ZPO, 23. Auflage, Anm.1 B zu § 539 und Stein-Jonas, 18. Auflage, Anm. I 1 zu § 539 ZPO). Im vorliegenden Fall ist nun das Landessozialgericht zwar davon ausgegangen, daß es für den Erstattungsanspruch der Klägerin darauf ankomme, ob zwischen der Krankenversicherungsanstalt Berlin und der Klägerin auf Grund ihrer Rentenberechtigung ein Versicherungsverhältnis auch in der Zeit von März 1952 bis Oktober 1952 bestanden habe. Damit ist es aber auch davon ausgegangen, daß die Krankenversicherungsanstalt Berlin hinsichtlich des Erstattungsanspruchs der Klägerin als leistungspflichtig "in Betracht kommt" im Sinne des § 75 Abs.2 SGG. Daß das Landessozialgericht trotzdem die Krankenversicherungsanstalt Berlin nicht beigeladen hat, stellt eine Verletzung des § 75 Abs.2 SGG dar und läßt die Rüge, das Verfahren des Landessozialgerichts leide an einem wesentlichen Mangel, als berechtigt erscheinen. Die Revision ist deshalb statthaft (§ 162 Abs.1 Nr.2 SGG).
Die Beiladung der Krankenversicherungsanstalt Berlin, die das Landessozialgericht zu Unrecht unterlassen hat, kann indes in Revisionsverfahren nicht mehr nachgeholt werden (§ 168 SGG). Das Urteil des Landessozialgerichts muß deshalb, soweit es die Berufung der Klägerin als unbegründet zurückgewiesen hat, aufgehoben werden; gleichzeitig ist die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Berlin zurückzuverweisen (§ 170 Abs.2 SGG).
IV.
Die Entscheidung über die Kosten bleibt dem Schlußurteil vorbehalten.
Fundstellen