Leitsatz (amtlich)
Abweichungen um 5 % von der Schätzung der MdE durch die Vorinstanz sind jedenfalls dann zulässig, wenn es sich darum handelt, ob die für den Anspruch auf Rente maßgebende Grenze erreicht ist ( Vergleiche RVA 1928-02-10 Ia 4516.27 = EuM 22, 220; Vergleiche RVA 1938-06-02 Ia 5256.37 = EuM 43, 117).
Normenkette
RVO § 559a Abs. 3 S. 1 Fassung: 1939-02-17
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 7. Oktober 1954 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat die außergerichtlichen Kosten des Klägers zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Kläger erlitt am 26. Mai 1952 einen Arbeitsunfall, der eine Verletzung des linken Auges zur Folge hatte. Die Beklagte gewährte ihm zunächst durch Bescheid vom 29. Dezember 1952 mit Wirkung vom 14. August 1952 eine vorläufige Rente in Höhe von 25 v. H. der Vollrente.
Durch Bescheid vom 26. Juni 1953 entzog die Beklagte die Rente mit Ablauf des Monats Juli 1953. Zur Begründung führte sie aus: Das Sehvermögen habe sich gebessert; es handele sich um eine unkomplizierte Linsenlosigkeit, für die nach der ständigen Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts (RVA.) nur eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE.) von 10 bis 15 v. H. anerkannt werden könne.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Berufung beim Oberversicherungsamt (OVA.) Dortmund eingelegt und zur Begründung vorgebracht: Sein Sehvermögen habe sich nicht gebessert. Mit dem verletzten Auge könne er, wenn das gesunde Auge verdeckt sei, nur einen blassen Schimmer wahrnehmen. Es sei ihm auch nicht möglich, mit beiden Augen gleichzeitig zu sehen, da sich dann zwei undeutliche Bilder ergäben. Die Augenverletzung bedeute für ihn eine wesentliche MdE. Er könne nicht mehr, wie früher, feinste Arbeiten verrichten und sei bei der Arbeit im Akkord benachteiligt, weil er nicht mehr mit der gleichen Schnelligkeit wie früher arbeiten könne. Der Ausfall des Auges habe auch bereits zwei Unfälle zur Folge gehabt, die auf das mangelnde Sehvermögen zurückzuführen seien. Einmal habe er sich die Kuppe des Daumens abgeschliffen und bei dem zweiten Mal eine Schleifverletzung zwischen Daumen und Zeigefinger zugezogen.
Das OVA. Dortmund hat ein Gutachten eines Augenfacharztes beigezogen. Dieser weist darauf hin, daß ein Benutzen beider Augen zu gemeinsamem Sehen nicht möglich sei; das linke Auge sei praktisch blind; gegenüber einem völlig erblindeten Auge bestehe aber der Vorteil des vergrößerten Gesichtsfeldes. Außerdem bilde das verletzte Auge eine Reserve für den Fall, daß das rechte Auge verloren gehe. Eine Gewöhnung an das einäugige Sehen sei noch nicht eingetreten. Es bestehe ein stark gestörtes Tiefenschätzungsvermögen. Die MdE. schätzt er auf 20 v. H.
Die Beklagte hat demgegenüber erneut darauf hingewiesen, daß eine unkomplizierte Linsenlosigkeit, wenn die Sehschärfe des linsenlosen Auges mit Starglas mindestens 5/10 beträgt, nach der jahrzehntelangen Rechtsprechung des RVA. mit 10 v. H. bewertet werde. Die Einschätzung auf 20 v. H. sei offenbar die Auswirkung eines Beschlusses der rheinisch-westfälischen Augenärzte vom Jahre 1952 (Klinisches Monatsblatt für Augenheilkunde 1952 S. 120).
Das Sozialgericht (SG.) Dortmund, auf das die Berufung des Klägers nach § 215 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) übergegangen ist, hat mit Urteil vom 30. März 1954 die Klage abgewiesen. Zur Begründung führt das SG. aus: Der Kläger sei zwar bei vielen Arbeiten auf den Gebrauch nur eines Auges angewiesen, weil durch die Benutzung eines Starglases Doppelbilder verursacht würden; das könne jedoch nicht zur Festsetzung der MdE. auf 20 v. H. führen. Der Kläger habe gegenüber den Einäugigen den Vorteil des erhaltenen Gesichtsfeldes, und das linke Auge bedeute mit Starglas eine Reserve für den Fall, daß dem rechten Auge etwas zustoße. Nach allgemeinen Erfahrungen sei auch anzunehmen, daß eine gewisse Gewöhnung eingetreten sei, auch wenn das ursprüngliche Tiefenschätzungsvermögen nicht wiederhergestellt sei.
Gegen dieses Urteil hat der Kläger Berufung beim Landessozialgericht (LSG.) Nordrhein-Westfalen eingelegt. Zur Begründung hat er erneut darauf hingewiesen, daß das linke Auge praktisch blind sei. Die Besserstellung gegenüber einem völligen Augenverlust bestehe lediglich darin, daß noch ein schwacher Lichtschimmer wahrgenommen werden könne und dadurch ein besseres Gesichtsfeld gegeben sei. Diese geringfügige Sehfähigkeit könne jedoch wirtschaftlich nicht verwertet werden. Er sei also praktisch einseitig blind. Der Umstand, daß das linke Auge eine Reserve für den Fall der Beschädigung des rechten Auges bilde, dürfe nicht berücksichtigt werden, da nur zu entscheiden sei, in welchem Ausmaße er jetzt behindert sei.
Das LSG. hat mit Urteil vom 7. Oktober 1954 das Urteil des SG. Dortmund vom 30. März 1954 und den Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 1953 aufgehoben und die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. August 1953 bis 31. Mai 1954 eine vorläufige Teilrente von 25 v. H., und ab 1. Juni 1954 eine Dauerrente von 20 v. H. der Vollrente zu gewähren. Die Revision hat das LSG. zugelassen.
Gegen dieses Urteil, das am 30. Oktober 1954 zugestellt worden ist, hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 26. November 1954 (beim Bundessozialgericht eingegangen am 29. November 1954) Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 22. Dezember 1954 (beim Bundessozialgericht eingegangen am 27. Dezember 1954) begründet.
Sie beantragt,
die Klage insoweit abzuweisen, als die Gewährung einer Dauerrente von 20 v. H. der Vollrente für die Zeit vom 1. Juni 1954 an infrage steht, insoweit das Urteil des LSG. abzuändern, die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG. Dortmund zurückzuweisen und den Bescheid der Beklagten vom 26. Juni 1953 dahin abzuändern, daß dem Kläger auch für die Zeit vom 1. August 1953 bis einschließlich 31. Mai 1954 eine vorläufige Rente in Höhe von 25 v. H. der Vollrente zu gewähren ist.
Hilfsweise beantragt sie,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG. zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist zugelassen (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG) und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG).
Sie ist jedoch unbegründet.
Die Revision ficht das Urteil des LSG. nur insoweit an, als es die Beklagte verurteilt hat, dem Kläger vom 1. Juni 1954 an eine Dauerrente von 20 v. H. der Vollrente zu gewähren. Diese Feststellung einer Dauerrente durch das Berufungsgericht beruht auf §§ 559 a, 1585 Reichsversicherungsordnung (RVO.). Die Revision rügt jedoch nicht, daß das LSG. diese Vorschriften, insbesondere den Begriff "Minderung der Erwerbsfähigkeit" rechtlich unrichtig ausgelegt und angewendet habe. Das Urteil läßt auch keinen derartigen Rechtsirrtum erkennen (vgl. hierzu BSG. 1 S. 174 (178)).
Die Revision wendet sich ausschließlich gegen die Schätzung der MdE. des Klägers. Die Schätzung des Grades der MdE. durch eine Tatsacheninstanz beruht auf der Ausübung des Rechts, nach der freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen richterlichen Überzeugung zu entscheiden (§ 128 SGG). Soweit die tatsächlichen Grundlagen, von denen die Schätzung ausgeht, von der Revision nicht mit zulässigen und begründeten Rügen angegriffen werden (vgl. § 163 SGG), kann eine solche Schätzung in der Revisionsinstanz nur daraufhin nachgeprüft werden, ob die gesetzlichen Grenzen für die Ausübung des richterlichen Ermessens überschritten worden sind (vgl. für § 287 der Zivilprozeßordnung (ZPO) : Stein-Jonas-Schönke-Pohle, ZPO, 18. Aufl., Anm. III 4 zu § 287; Baumbach-Lauterbach, ZPO, 24. Aufl. Anm. 3 A zu § 287). Die Schätzung selbst kann das Revisionsgericht dagegen nicht durch eine eigene Schätzung ersetzen.
Die Revision ist der Auffassung, daß die komplikationslose Linsenlosigkeit eines Auges bei ausreichender Sehfähigkeit des anderen Auges im Regelfall, den sie beim Kläger als gegeben ansieht, nur mit einer MdE. von 15 v. H. eingeschätzt werden dürfe, und hält eine Bewertung mit 20 v. H., wie sie das LSG. vorgenommen hat, für nicht vertretbar. Zur Begründung dieser Auffassung verweist die Revision auf Entscheidungen des RVA. und die Ansichten namhafter Augenärzte. Insbesondere hebt sie hervor, daß die MdE. durch den völligen Verlust eines Auges nach Eintritt der Gewöhnung in der Regel mit 25 v. H. bewertet werde, während das linsenlose Auge jederzeit mit einem Starglas als Reserveauge zur Verfügung stehe, auch ohne ein solches Glas Bewegungsvorgänge wahrnehme und zur Orientierung mit herangezogen werden könne.
Diese Umstände und Gesichtspunkte sind jedoch im Urteil des LSG. berücksichtigt. Insbesondere hebt das Urteil ausdrücklich die Bedeutung des linsenlosen Auges für den Umfang des Gesichtsfeldes hervor und betont, daß der Kläger infolgedessen günstiger gestellt sei als bei einem völligen Augenverlust. Das LSG. hat auch ausdrücklich erwogen, daß das linsenlose Auge im Falle eines etwaigen Verlustes des anderen Auges eine wertvolle "Reserve" bilden würde; es hat jedoch mit Recht abgelehnt, diesen Umstand zu berücksichtigen. Denn für die Schätzung einer MdE. ist ausschließlich maßgebend, in welchem Umfang der Verletzte in dem Zeitpunkt, für den die Schätzung vorgenommen wird, in seiner Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt ist. Das lassen auch die Augenfachärzte unberücksichtigt, die in ihren Meinungsäußerungen über die Höhe der durch einseitige Linsenlosigkeit bedingten MdE. auf den Wert des linsenlosen Auges als "Reserveauge" hinweisen.
Die durch Folgen eines Unfalles verursachte MdE. ist jeweils im Einzelfall unter Berücksichtigung der körperlichen und geistigen Fähigkeiten und der Kenntnisse des Verletzten festzustellen, so daß es schon aus diesem Grunde weder allgemein gültige Erfahrungssätze noch auch ein durch Rechtsübung entstandenes Gewohnheitsrecht geben kann, wonach die MdE. durch Linsenverlust eines Auges im Normalfall auf 15 v. H. eingeschätzt werden müßte. Auch ist die Einschätzung der MdE. nicht eigentlich Aufgabe des ärztlichen Sachverständigen, dessen Sachkunde sich in erster Linie darauf bezieht, in welchem Umfang die körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Verletzten durch Unfallfolgen beeinträchtigt sind. Ärztliche Meinungsäußerungen darüber, in welchem Umfang sich derartige Beeinträchtigungen auf die Erwerbsfähigkeit auswirken, sind zwar wichtige und vielfach unentbehrliche Grundlagen für die richterliche Schätzung der MdE., haben aber keine bindende Wirkung (vgl. AN. 1902 S. 178; 1905 S. 413; BSG. 2 S. 127; BSG. in KOV. 1955 Heft 11 Rechtspr. Nr. 251).
Auch aus dem von der Revision gerügten Umstand, daß das LSG. bei seiner Schätzung der MdE. von der dem Urteil des SG. zugrunde liegenden Schätzung nur um 5 v. H. abgewichen ist, ergibt sich kein Fehler des LSG. bei der Schätzung. Das RVA. hat zwar derartige Abweichungen von der Schätzung des Versicherungsträgers oder der Vorinstanz in ständiger Rechtsübung deshalb grundsätzlich als unzulässig angesehen, weil eine so geringe Abweichung regelmäßig innerhalb der Schwankungsbreite liegt, die jeder Schätzung eigentümlich ist. Diese Erwägungen treffen jedoch nicht zu, wenn, wie im vorliegenden Fall, darüber zu entscheiden ist, ob die für den Anspruch auf Rente maßgebende Grenze erreicht ist (vgl. EuM. 22 S. 220; 43 S. 117).
Die Einwendungen der Revision ergeben also keinen Anhalt dafür, daß das LSG. bei der Schätzung der MdE. des Klägers auf 20 v. H. das richterliche Ermessen fehlerhaft ausgeübt und damit einen Verstoß gegen die Verfahrensvorschriften des § 128 begangen hätte. Auch sonst ist ein Fehler bei der Ausübung dieses Rechts nicht ersichtlich. Da die auf dieser Schätzung beruhende Verurteilung zur Gewährung einer Dauerrente von 20 v. H. der Vollrente vom 1. Juni 1954 an ohne Rechtsirrtum erfolgt ist, war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen