Leitsatz (redaktionell)

1. Hat ein orthopädischer Schuhmachermeister, bei dem seit 1946 Regenbogenhautentzündung beider Augen als Schädigungsfolge - ohne Rentengewährung - anerkannt ist, nach dem Kriege seinen früheren Beruf nicht mehr aufgenommen und sich aus subjektiven Gründen einem wirtschaftlich schlechteren Beruf zugewandt, obwohl er objektiv- medizinisch gesehen den erlernten Beruf bis 1955 noch ausüben konnte, dann genügte dieser subjektive Beweggrund noch nicht, um wegen besonderer beruflicher Betroffenheit eine höhere Minderung der Erwerbsfähigkeit anzunehmen.

Wenn jedoch 1955 eine erhebliche Sehverschlechterung eingetreten und damit die Ausübung seines erlernten Berufes auch objektiv unmöglich geworden war, dann sind nunmehr die Voraussetzungen des BVG § 30 Abs 1 S 2 aF bzw BVG § 30 Abs 2 nF erfüllt.

2. Unter dem "vor der Schädigung ausgeübten Beruf" iS des BVG § 30 ist nach Ansicht des Senats regelmäßig der vor der anerkannten Gesundheitsstörung ausgeübte und nicht der vor einer späteren wesentlichen Verschlimmerung dieser Gesundheitsstörung ausgeübte andere Beruf zu verstehen.

 

Normenkette

BVG § 30 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1956-06-06, Abs. 2 Fassung: 1960-06-27

 

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 15. Januar 1958 wird zurückgewiesen.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

Von Rechts wegen.

 

Gründe

Der Kläger war bis zu seiner Einberufung zum Wehrdienst im Dezember 1943 bei den Deutschen Orthopädischen Werken als orthopädischer Schuhmacher beschäftigt. 1943 bestand er die Meisterprüfung in diesem Handwerk.

Während seines Kriegseinsatzes in Polen 1944 erkrankte der Kläger an einer chronischen Regenbogenhautentzündung beider Augen. Mit Bescheid vom 2. September 1946 erkannte das Versorgungsamt (VersorgA Regenbogenhautentzündung beider Augen bei normalem Sehvermögen des linken Auges und wenig herabgesetztem des rechten Auges als Wehrdienstbeschädigung und Beschädigung bei besonderem Einsatz nach dem Wehrmachtfürsorge- und -versorgungsgesetz (WFVG) an; Versorgungsbezüge wurden nicht gewährt.

Im Januar 1952 beantragte der Kläger Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen schwerer rheumatischer Beschwerden und Augen- und Ohrenleidens. Das VersorgA erkannte mit Bescheid vom 22. November 1952 geringe Herabsetzung des Sehvermögens beider Augen nach Regenbogenhautoperationen, Trommelfellnarbe links und Schwerhörigkeit beiderseits als Schädigungsfolgen an. Die Anerkennung des rheumatischen Leidens lehnte es ab, weil es sich bei den im Rücken und in den Gliedmaßen empfundenen rheumatischen Beschwerden nicht um echten Gelenkrheumatismus, sondern um alters- und anlagebedingte Verbrauchsschäden handele. Wegen der anerkannten Gesundheitsstörungen bewilligte das VersorgA keine Rente. Es nahm an, die Erwerbsfähigkeit sei dadurch um weniger als 25 v.H. gemindert.

Im Verfahren vor dem Sozialgericht (SG), auf das die Berufung nach Inkrafttreten des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) als Klage übergegangen war, schlug der Beklagte mit Schreiben vom 28. Dezember 1955 vor, dem Kläger für die anerkannten Schädigungsfolgen ab 1. Juli 1955 eine Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 40 v.H. zu gewähren. Der Kläger lehnte ab. Er beantragte, ihm unter weiterer Anerkennung des Rheumas im Sinne richtunggebender Verschlimmerung Rente ab 1. Januar 1952 nach einer MdE um 30 v.H. und ab 1. Februar 1955 nach einer MdE um 50 v.H. zu gewähren. Das SG verurteilte den Beklagten mit Urteil von 7. Februar 1956, in Abänderung des angefochtenen Bescheides die Schädigungsfolgen in der Fassung "Erhebliche Herabsetzung des Sehvermögens beider Augen nach Regenbogenhautoperationen, Trommelfellnarbe links, Schwerhörigkeit beiderseits" in Sinne der Entstehung anzuerkennen und dem Kläger ab 1. Januar 1952 Rente nach einer MdE um 25 v.H. und ab 1. Februar 1955 um 50 v.H. zu gewähren; in übrigen wies es die Klage ab. Das SG ging für die Zeit bis Februar 1955 von einer Einzel-MdE um 15 v.H. für das Augenleiden und im 10 v.H. für das Ohrenleiden aus und hielt für beide Leiden als Mittelwert eine Gesamt-MdE, um 25 v.H. für gerechtfertigt, weil sich das Sehvermögen bis zu diesen Zeitpunkt zusehends verschlechtert habe. Für die Zeit ab Februar 1955 schätzte es die Einzel-MdE für das Augenleiden auf 30 v.H. und nahm unter Berücksichtigung der beiderseitigen Schwerhörigkeit und der besonderen beruflichen Betroffenheit des Klägers eine Gesamt-MdE um 50 v.H. an.

Mit der Berufung beantragte der Beklagte, das Urteil des SG insoweit aufzuheben, als den Kläger ab 1. Februar 1955 Rente nach einer MdE um 50 v.H. zugesprochen wurde, und über das Vergleichsangebot vom 28. Dezember 1955 hinausgehende Ansprüche abzuweisen. Die Berufung richte sich nur gegen die Erhöhung der MdE von 40 auf 50 v.H. Die berufliche Betroffenheit sei bei einer Bewertung der MdE mit 40 v.H. bereits berücksichtigt. Die Erhöhung der MdE um 10 v.H. sei den Verhältnissen entsprechend und angemessen. Es bleibe zu beachten, daß der Kläger seinen Beruf als orthopädischer Schuhmacher seit Kriegsende nicht mehr ausgeübt habe, obwohl er bis zu der im Februar 1955 eingetretenen Verschlimmerung der Sehstörungen hierzu in der Lage gewesen sei. Er habe seinen erlernten Beruf freiwillig aufgegeben und sei als Landwirt und Weingärtner tätig; als solcher habe er eine gesicherte Existenz. Demgegenüber wies der Kläger darauf hin, daß er infolge der Herabsetzung des Sehvermögens an beiden Augen tatsächlich seit der Rückkehr aus dem Kriegsdienst nicht mehr in der Lage gewesen sei, seinen Beruf als orthopädischer Schuhmacher auszuüben. Als Meister würde er aber - wie sich aus der Bescheinigung der Deutschen Orthopädischen Werke in Stuttgart vom 8. Juni 1956, ergebe - ein Gehalt von 450,- DM monatlich erhalten.

Das Landessozialgericht (LSG) änderte mit Urteil vom 15. Januar 1958 das Urteil des SG dahingehend ab, daß dem Kläger für die dort festgelegten Schädigungsfolgen Rente nach einer MdE um 50 v.H. ab 1. Juli 1955 zu bewilligen sei; der weitergehende Klageantrag wurde abgewiesen, die Berufung im übrigen zurückgewiesen. Das LSG hielt einen Rentenanspruch des Klägers für die Zeit bis Februar 1555 für unbegründet, weil nur eine MdE um 15 v.H. angenommen werden könne. Dagegen habe der Beklagte selbst zugestanden, daß zwischen den Untersuchungen vom 2. Februar und 15. September 1955 eine wesentliche Verschlechterung des Augenleidens eingetreten sei. Er habe hierbei dem Gutachten der Tübinger Augenklinik vom 15. September 1955 Rechnung getragen und als Zeitpunkt der Verschlechterung des Sehvermögens den dazwischen liegenden 1. Juli 1955 festgelegt. Hierbei sei der Beklagte bei Annahme einer MdE um 40 v.H. von Seiten der Augen bewußt über das Tübinger Gutachten hinausgegangen, das die MdE auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt nur auf 30 v.H. geschätzt habe. Er habe dem Begehren des Klägers, seine berufliche Betroffenheit zu berücksichtigen, bis zu einem gewissen Umfang stattgeben wollen. Das sei auch richtig gewesen. Der Kläger habe den Lebensberuf eines orthopädischen Schuhmachers gewählt, den er trotz seines Augenleidens objektiv betrachtet noch bis 1955 habe ausüben können. Er habe sich die Wiederaufnahme seiner bisherigen Tätigkeit aber nicht mehr zugemutet, um so mehr, als die Regenbogenhautentzündung bereits im Februar 1946 erneut aufgetreten sei. Als Grund dafür habe der Kläger sowohl gegenüber dem Zeugen … als auch bei der internistischen Untersuchung am 27. Oktober 1952 und bei der augenärztlichen Untersuchung am 15. September 1955 sein Augenleiden angegeben. Im Gegensatz hierzu habe der Zeuge Stange bekundet, der Kläger habe nach Kriegsende geäußert, er habe mit seinen Weinbergen genug zu tun. Wenn der Beklagte hieraus folgere, der Kläger habe seinen erlernten Beruf in den ersten Nachkriegsjahren freiwillig aufgegeben und sei aus rein wirtschaftlichen Gründen Weingärtner und Landwirt geworden, möge das zwar richtig sein, schließe jedoch nicht aus, daß der Kläger jedenfalls seit 1955 beruflich besonders betroffen sei. Eine besondere berufliche Betroffenheit sei bereits gegeben, wenn der Beschädigte seinen erlernten Beruf wegen der Art der Schädigungsfolgen objektiv nicht mehr ausüben könne; es spiele keine Rolle, ob er ihn zur Zeit wirklich ausüben wolle. Schon allein der Verlust bestimmter Möglichkeiten auf beruflichem Gebiet sei als Schaden anzusehen. Darüber hinaus sei auch die sehr bescheidene Tätigkeit eines Weingärtners und Landwirts mit etwa 70 ar Grundvermögen dem ursprünglichen Beruf eines orthopädischen Schuhmachermeisters nicht gleichwertig. Das VersorgA habe wegen eines Ausgleichs durch zumutbare arbeite- und berufsfördernde Maßnahmen bisher nichts unternommen. Es bestehe nach alledem keine Veranlassung, die Auffassung des SG zu beanstanden, daß wegen der beruflichen Betroffenheit des Klägers von 1955 an eine MdE um 50 v.H. angenommen habe. Bei der Festsetzung des Beginns dieser MdE sei dem Beklagten insoweit zu folgen, als er die Verschlechterung der Sehschärfe schätzungsweise am 1. Juli 1955 eintreten lasse, einen Zeitpunkt zwischen der Untersuchung in Februar 1955 und der in September 1955. Das LSG ließ die Revision zu, weil es der Präge grundsätzliche Bedeutung beimaß, ob die objektive Unmöglichkeit, den früheren Beruf auszuüben, genüge, um eine besondere berufliche Betroffenheit anzunehmen.

Mit der Revision beantragt der Beklagte, das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 15. Januar 1958 insoweit aufzuheben, als dem Kläger ab 1. Juli 1955 Rente nach einer MdE um 50 v.H. zugesprochen wurde. Das LSG habe § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG falsch ausgelegt. Es entspreche nicht dem Willen des Gesetzgebers, einem Beschädigten, der gar nicht die Absicht habe, seinen erlernten Beruf auszuüben, die Vergünstigung dieser Vorschrift zuzubilligen. Folglich sei beim Kläger eine Höherbewertung seiner MdE wegen besonderer beruflicher Betroffenheit nicht begründet. Der Kläger habe freiwillig auf die Ausübung seines Berufes als orthopädischer Schuhmacher verzichtet, um als Weingärtner tätig sein zu können. Bis zur Währungsreform seien solche Fälle zwar keine Seltenheit gewesen. Nach diesem Zeitpunkt hätten es die bis dahin berufsfremd tätig gewesenen Personen jedoch in der Regel vorgezogen, wieder in ihren erlernten Beruf zurückzukehren. Der Kläger sei aber trotz der zweifellos guten Verdienstmöglichkeiten eines orthopädischen Schuhmachermeisters weiterhin Weingärtner geblieben. Das LSG habe offenbar die Tätigkeit eines Weingärtners gerade in Stuttgart-Uhlbach, wo Spitzenweine erzeugt würden, völlig verkannt, wenn es dessen Arbeit als sehr bescheidene Tätigkeit bezeichnet habe. Der jetzige Beruf des Klägers als Weingärtner sei gegenüber dem Beruf eines orthopädischen Schuhmachermeisters zumindest sozial gleichwertig. Wäre dies nicht der Fall, dann hätte sich der Kläger in den vergangenen Jahren längst um eine andere Tätigkeit bemüht. Das LSG habe diese Frage nicht sorgfältig geprüft.

Der Kläger beantragte, die Revision zurückzuweisen. Das Vorbringen des Beklagten sei inkonsequent. Der Beklagte habe der besonderen beruflichen Betroffenheit des Klägers schon dadurch Rechnung getragen, daß er noch während des Verfahrens vor dem SG als Vergleich die Feststellung einer MdE um 40 v.H. angeboten habe. Auch im Berufungsverfahren habe er sich nur gegen den vom SG ausgesprochenen Grad der MdE für die berufliche Betroffenheit gewandt. Der Streit sei bisher nur darum gegangen, ob die besondere berufliche Betroffenheit mit einem Mehr von 10 oder 20 v.H. der MdE zu bewerten sei; er habe mithin nur die Höhe, nicht aber den Grund des Mehranspruchs betroffen. Um so auffälliger sei, daß der Beklagte im Revisionsverfahren eine Höherbewertung der MdE nach § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG überhaupt nicht mehr für begründet halte. Die Auslegung dieser Vorschrift durch das LSG sei aber auch rechtlich nicht zu beanstanden. Es stehe fest, daß der Kläger mindestens seit dem 1. Juli 1955 nicht mehr in der Lage sei, seinen früheren Beruf auszuüben. Damit seien die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG bereits erfüllt. Es komme nicht darauf an, ob er nach dem Kriege freiwillig auf die Ausübung seines Berufs verzichtet habe, was das LSG offengelassen habe. Die weitere Revisionsrüge, das LSG habe nicht mit der erforderlichen Sorgfalt geprüft, ob er als Weingärtner einen sozial gleichwertigen Beruf ausübe und somit seine soziale Stellung gegenüber früher habe behaupten können, sei als Verfahrensrüge nicht schlüssig, weil sic nicht den in § 164 Abs. 2 Satz 2 SGG vorgeschriebenen Anforderungen entspreche. Sic sei auch unbegründet, weil das LSG zutreffend festgestellt habe, daß der Klüger die sehr bescheidene Tätigkeit eines Weingärtners und Landwirts mit etwa 70 ar Grund vermögen ausübe. § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG setze nicht voraus, daß ein Beschädigter besonders hart betroffen sein müsse.

Die nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG statthafte Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und damit zulässig. Sie ist jedoch nicht begründet.

Der Senat konnte unerörtert lassen, welche rechtliche Bedeutung den Umstand zukommt, daß der Beklagte in seinen Vergleichsangebot vom 28. Dezember 1955 offenbar einem beim Kläger vorhandenen besonderen beruflichen Betroffensein Rechnung getragen und auch in Berufungsvorfahren ein solches ausdrücklich zugestanden hat. Denn die Annahme des LSG, der Kläger sei durch die Art der Schädigungsfolgen in seinen vor der Schädigung ausgeübten Beruf als orthopädischer Schuhmachemeister besonders betroffen, erwies sich jedenfalls im Ergebnis als zutreffend.

Ein besonderes berufliches Betroffensein liegt vor, weil der Kläger seit 1955 den erlernten Beruf wegen der bei ihm anerkannten Schädigungsfolge objektiv nicht mehr ausüben kann und sein jetziger Beruf als Weingärtner und Landwirt gegenüber seinen früheren Beruf als orthopädischer Schuhmachermeister nicht gleichwertig ist. Nichtgleichwertig ist in der Regel jeder Beruf, der gegenüber dem früheren zu einer erheblichen wirtschaftlichen Einbuße des Beschädigten führt (vgl. BSG 12, 212 mit weiteren Hinweisen). Diese Voraussetzung hat das LSG zu Recht als erfüllt angesehen. Nach den insoweit nicht bzw. erfolglos angegriffenen Feststellungen des Berufungsgerichts ist das Einkommen des Klägers als Weingärtner und Landwirt erheblich geringer als das Gehalt, das der Kläger als orthopädischer Schuhmachermeister beziehen würde. Als orthopädischer Schuhmachermeister (Werkmeister) wäre dem Kläger nach der Bescheinigung seines früheren Arbeitsgebers, der Deutschen Orthopädischen Werke Stuttgart, vom 8. Juni 1956 ein monatliches Gehalt von 450,- DM gezahlt worden. Dieser Verdienst liegt bei weiten über den Einkommen, das der Kläger nach den vorhandenen Unterlagen monatlich als Weingärtner und Landwirt erzielte. Unstreitig gehört dem Kläger ein Grundvermögen von 70 ar in Stuttgart-Uhlbach. Die Größe und die Lage dieses Grundbesitzes rechtfertigen jedoch entgegen der Auffassung der Revision nicht die Annahme, daß der jetzige Beruf des Klägers dem Beruf eines orthopädischen Schuhmachermeisters gleichwertig ist. Auch wenn es zutrifft, daß in der Markung Stuttgart-Uhlbach fast ausschließlich nur Qualitäts- bzw. Spitzenweine erzeugt werden, für die seit Jahren überdurchschnittliche Preise erzielt werden, ist hieraus nicht ohne weiteres zu schließen, daß die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit als Weingärtner und Landwirt seinem früher ausgeübten Beruf in wirtschaftlicher Hinsicht gleichzusetzen ist. Entscheidend ist vielmehr allein, welche Einkommensverhältnisse beim Kläger vorliegen. Sein Einkommen als Weingärtner und Landwirt weicht jedoch wesentlich von den Verdienstmöglichkeiten eines orthopädischen Schuhmachermeisters ab. Nach der Bescheinigung des Finanzamtes Stuttgart-Ost von 26. Januar 1952 und nach einer Auskunft dieses Finanzamtes aus dem Jahre 1956 ist das Einkommen des Klägers aus der Landwirtschaft mit 1.924,- DM für 1949, mit 1.564,- DM für 1952, mit 1.525,- DM für 1953 und mit 1.731,- DM für 1954 veranlagt worden. Das ergibt ein durchschnittliches Monatseinkommen von ca. 130,- bis ca. 160,- DM; auch wenn die Bescheinigung über ein Gehalt von 450,- DM erst im Juni 1256 ausgestellt wurde, kann unter Berücksichtigung früherer geringerer Vergütung als orthopädischer Schuhmacher- bzw. Werkmeister davon ausgegangen werden, daß das Monatseinkommen des Klägers als Weingärtner und Landwirt die Hälfte des Monatsverdienstes eines orthopädischen Schuhmachermeisters nicht überschritten hat. Bei dieser Sachlage ist es nicht zu beanstanden, daß das LSG die Tätigkeit des Klägers als Weingärtner und Landwirt gegenüber dem früher ausgeübten Beruf als wirtschaftlich nicht gleichwertig angesehen hat. Dem steht auch nicht entgegen, daß die Einkommensverhältnisse des Klägers in seinem jetzigen Beruf für die Jahre 1955 und danach nicht weiter ermittelt worden sind. Zu einer solchen Sachaufklärung hat sich das Berufungsgericht nicht gedrängt zu fühlen brauchen, da kein Anhalt gegeben ist, daß das Einkommen des Klägers als Weingärtner und Landwirt im Verhältnis zum Verdienst als orthopädischer Schuhmachermeister später wesentlich gestiegen wäre.

Auch die Tatsache, daß der Kläger nach dem Kriege seinen früheren Beruf nicht mehr aufgenommen hat, obwohl er objektivmedizinisch gesehen die Tätigkeit als orthopädischer Schuhmachermeister bis 1955 noch ausüben konnte, schließt sein berufliches Betroffensein nicht aus. Das LSG hat festgestellt, daß der Kläger in seinem früher ausgeübten Beruf deshalb nicht zurückgekehrt ist, weil er wegen seines Augenleidens lange im Lazarett lag und er sich danach die Wiederaufnahme seiner bisherigen Tätigkeit nicht mehr zumutete, um so mehr als die Regenbogenhautentzündung bereits 1946 erneut aufgetreten war. Damit hat das LSG u.a. der Bekundung des Zeugen B. Rechnung getragen, der erklärt hat, er habe dem Kläger nach seiner Entlassung gesagt, er könne (in seiner orthopädischen Schuhmacherei) sofort antreten, der Kläger habe jedoch wehmütig erklärt, er würde dies gern tun, aber er sehe doch so schlecht. Diese Peststellung des LSG konnte vom Revisionsgericht verwertet werden. Sie wird auch nicht durch die im Zusammenhang mit den Angaben des Zeugen Stange stehenden Erwägung des LSG ausgeräumt, die Annahme des Beklagten möge richtig sein, daß der Kläger seinen erlernten Beruf in den ersten Nachkriegsjahren freiwillig aufgegeben habe und aus wirtschaftlichen Gründen Weingärtner und Landwirt geworden sei. Abgesehen davon, daß der Beklagte selbst zugab, dieses Fälle seien bis zur Währungsreform keine Seltenheit gewesen, hat sich aber das LSG damit nicht von der Richtigkeit dieser Annahme überzeugt, sondern sie nur für möglich, aus rechtlichen Gründen aber für unwesentlich gehalten. Hinzu kommt, daß die vom LSG festgehaltene Angabe des Zeugen S., der Kläger habe nach Kriegsende geäußert, er hebe mit seinen Weinbergen genug zu tun, nicht in Widerspruch zu der Annahme steht, daß der Kläger euch wegen des Augenleidens von der weiteren Ausübung seines erlernten Berufes abgesehen hat. Aus der Feststellung des LSG, daß der Kläger sich die Wiederaufnahme seines früheren Berufs als orthopädischer Schuhmachermeister nicht mehr zugemutet hat, kann auch nicht etwa geschlossen werden, bei ihm sei kein Wirtschaftlicher Abstieg eingetreten. Sie weist aber andererseits nach, daß der Kläger auf seine frühere Berufsausübung zumindest auch aus subjektiven gesundheitlichen Gründen verzichtete. Zwar genügte dieser subjektive Beweggrund noch nicht, im wegen besonderen beruflichen Betroffenseins eine höhere MdE anzunehmen. Nachdem jedoch im Jahre 1955 eine erhebliche Verschlechterung des Sehvermögens eingetreten und dem Kläger dadurch die Ausübung seines erlernten Berufes auch objektiv unmöglich geworden ist, sind von diesem Zeitpunkt ab die Voraussetzungen des § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG (aF) bzw. § 30 Abs. 2 BVG (nF) erfüllt. Rückschauend betrachtet hat der Kläger im übrigen verständig gehandelt, wenn er den vorhandenen und ihn allein subjektiv voll bewußten Leiden dadurch Rechnung trug, daß er sich bereits vor der erheblichen Sehverschlechterung einem anderen Beruf zuwandte. Der Senat konnte es dahingestellt sein lassen, ob eine besondere berufliche Betroffenheit in Sinne des § 30 BVG allein schon dann zu bejahen ist, wenn ein Beschädigter seinen erlernten Beruf objektiv nicht mehr ausüben kann. Das LSG hat dies für den Kläger jedenfalls nicht festgestellt, sondern daneben dargetan, daß der Kläger jetzt einen Beruf ausübt, der dem früheren (wirtschaftlich) nicht gleichwertig ist. Ob bei wirtschaftlicher Ungleichwertigkeit des jetzigen Berufs und objektiver Unmöglichkeit der Ausübung des früheren Berufs überhaupt noch der Einwand gerechtfertigt ist, es fehle aus subjektiven Gründen an einem besonderen beruflichen Betroffensein bzw. ob in Ausnahmefallen ein früher freiwillig vorgenommener Berufswechsel der Anwendung des § 30 Abs. 1 Satz 2 aF bzw. § 30 Abs. 2 nF BVG schlechthin entgegensteht, brauchte der Senat angesichts des hier gegebenen Sachverhalts nicht zu erörtern. Der Senat ist im übrigen der Ansicht, daß unter den "vor der Schädigung ausgeübten Beruf" im Sinne des § 30 BVG regelmäßig der vor der anerkannten Gesundheitsstörung ausgeübte und nicht der vor einer späteren wesentlichen Verschlimmerung dieser Gesundheitsstörung ausgeübte andere Beruf zu verstehen ist.

Die Revision des Beklagten kann aber auch keinen Erfolg haben, soweit sie vorbringt, das LSG habe die beim Kläger bestehende MdE um 30 v.H. im allgemeinen Erwerbsleben wegen der besonderen beruflichen Betroffenheit nicht um 20 v.H. auf 50 v.H. erhöhen dürfen. Die Entscheidung der Frage, in welchen Grade die Erwerbsfähigkeit eines Beschädigten durch Schädigungsfolgen gemindert wird, hat das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung zu treffen (vgl. BSG 6, 267). In der Revisionsinstanz kann deshalb die Schätzung des Grades der MdE nur daraufhin nachgeprüft werden, ob das Gericht § 128 oder § 103 SGG verletzt hat. Bezüglich des Grades der MdE enthält jedoch die Revision keine Angaben, die einen Verstoß gegen diese Verfahrensvorschriften rügen. Mit der Revision macht der Beklagte lediglich geltend, daß das LSG durch unrichtige Auslegung des § 30 Abs. 1 Satz 2 BVG und durch mangelhafte Prüfung der Frage, ob ein sozial gleichwertiger Beruf vorliege, zu Unrecht ein besonderes berufliches Betroffensein des Klägers angenommen habe.

Da die Annahme eines besonderen beruflichen Betroffenseins durch das LSG im Ergebnis gerechtfertigt ist und die vom Beklagten erhobenen Rügen nicht geeignet sind, eine Gesetzesverletzung beider Höherbewertung der MdE darzutun, war die Revision gemäß § 170 Abs. 1 Satz 1 bzw. Satz 2 SGG zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2000643

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