Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachverhaltsaufklärung. Wegeunfall. eigenwirtschaftliche Tätigkeit
Orientierungssatz
1. Kommt es für die Beurteilung der Frage, ob ein später auf dem Wege zu seiner Wohnung Verunglückter sich vor dem Heimweg schon von seiner betrieblichen Tätigkeit gelöst habe und eigenwirtschaftlich tätig gewesen sei, darauf an festzustellen, wann der Verunglückte an seinem Arbeitsplatz abgelöst worden ist, so darf das Gericht sich nicht mit widersprüchlichen Angaben in einer Strafakte begnügen, sondern muß den Sachverhalt durch Vernehmung der Zeugen genau aufzuklären suchen.
2. Allein wegen einer nicht betriebsbedingten Verzögerung des Heimwegs um etwa 1 1/2 bis 2 Stunden muß der in § 543 RVO aF vorausgesetzte innere Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit nicht unbedingt verneint werden.
Normenkette
RVO § 543; SGG § 103
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 21.07.1960) |
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Schleswig-Holstein vom 21. Juli 1960 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Kläger sind die Hinterbliebenen des Schiffsmaschinisten Kurt F (F.). Er wurde am 25. September 1956 etwa um 0,20 Uhr auf dem Wege nach seiner in der Innenstadt von Kiel gelegenen Wohnung in eine Schlägerei verwickelt und dabei getötet. Über die Vorgänge in dieser Nacht enthält das Berufungsurteil folgende Tatsachenfeststellungen:
"F. wurde in der Nacht zum 25. September 1956 in Kiel im Heikendorfer Weg tot aufgefunden. F. war als 2. Ingenieur auf dem Schiff der K. R. GmbH. 'C. G.' tätig. Dieses Schiff war auf der H.-werft repariert worden. Deshalb war die Besatzung beurlaubt. F. hielt sich zur Bewachung am 24. September 1956 auf dem Schiff auf. Er sollte um 18.00 Uhr von dem Jungmann Klaus Sch abgelöst werden. Dieser wurde von seinem Stiefvater Z mit dem Motorrad jedoch erst gegen 19.30 Uhr zur Werft gebracht. Am Haupttor der Werft trafen Sch und sein Stiefvater den F. Die Beteiligten gingen auf das Schiff zurück. Hier übergab F. dem Sch die Wache. Die Beteiligten tranken dann noch je zwei Flaschen Bier zusammen, bis F. - es ist streitig, ob gegen 21.30 Uhr oder gegen 22.30 Uhr - das Schiff verließ. Er begab sich in die wenige Minuten von der Werft entfernt gelegene Gastwirtschaft "D. Hof". Hier trank er bis Mitternacht Bier und Aquavit. Nach dem Verlassen des Lokals traf F. auf der Straße den ihm unbekannten Zimmermann Günter W und den Schiffsbauer Werner St. Die Beteiligten kamen miteinander ins Gespräch und gingen eine Strecke gemeinsam.
Bei der Erzählung von Erlebnissen mit Frauen kam es plötzlich zu Streitigkeiten, in deren Verlauf F. von W und St getötet wurde. Diese wurden vom Schwurgericht des Landgerichts Kiel wegen Körperverletzung in Tateinheit im Raufhandelt zu Gefängnis verurteilt. Aus dem vom Landgericht eingeholten Gutachten des Prof. I Ch ergibt sich, daß F. zur Zeit seines Todes einen Blutalkoholgehalt von 2,2 - 2,3 0 / 00 und damit einen mittleren bis mittelschweren Rausch gehabt hat."
Bemühungen der Beklagten, die Zeugen Sch und Z darüber vernehmen zu lassen, wann F. das Werftgelände verlassen habe, schlugen fehl, da der Aufenthalt der Zeugen nicht ermittelt wurde. Den Ablehnungsbescheid vom 28. Oktober 1957 begründete die Beklagte wie folgt: Der Dienst des F. sei am 24. September 1956 um 20.00 Uhr beendet gewesen. Sein weiteres Verbleiben an Bord sei aus privaten Gründen erfolgt. Durch den gleichfalls eigenwirtschaftlichen Zwecken dienenden Besuch der Gaststätte sei der etwa 4 1/2 Stunden nach Dienstschluß angetretene restliche Heimweg nicht mehr als Fortsetzung des Weges nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) aF, sondern lediglich als Heimweg aus dem Gasthaus anzusehen. Außerdem sei durch den übermäßigen Alkoholgenuß des F. die innere Beziehung zum Betrieb endgültig gelöst worden. Des weiteren entfalle auch der Versicherungsschutz für Unfälle infolge von Gewalttaten, denen betriebsfremde Motive zugrunde lägen.
Das Sozialgericht (SG) vernahm die Zeugen R, St und M R und St, die am Unfalltag als Wachleiter bzw. Pförtner bei der H.-werft tätig waren, sagten aus, F. habe am 24. September 1956 etwa gegen 21.30 Uhr oder 22.00 Uhr in der Wachstube mit einem Makler kurz telefoniert, sei dann sogleich zum Tor hinausgegangen und nicht wiedergekommen. Über das Eintreffen von Sch und Z konnten sie nichts angeben. M, der damals als Buffetier in der Gaststätte "D. Hof" tätig war, erklärte, F. habe sich in jener Nacht eine gute Stunde in diesem Lokal aufgehalten. Er habe drei Glas Bier und zwei Schnäpse getrunken und einen normalen Eindruck gemacht. Das SG hat durch Urteil vom 30. Oktober 1958 die Klage abgewiesen: Dahingestellt könne bleiben, ob der gegen F. gerichtete Angriff durch rein persönliche Gründe veranlaßt worden sei. Sein Heimweg nach dem Verlassen der Gaststätte "D. Hof" habe nicht mehr unter Versicherungsschutz gestanden, da er schon während der Unterhaltung mit Sch und Z auf dem Schiff eigenwirtschaftlichen Interessen nachgegangen sei. Ferner habe auch die Höhe des bei F. festgestellten Blutalkoholgehalts zur Lösung vom Betrieb geführt.
Mit der Berufung haben die Kläger geltend gemacht, F. habe sein Schiff erst gegen 22.30 Uhr verlassen und sich nur 1 1/2 Stunden in der Gastwirtschaft aufgehalten. Sch und Z hätten sich - wie aus ihren Aussagen im Strafverfahren hervorgehe - erst gegen 21.30 Uhr am Werfttor mit F. getroffen. Der Aufenthalt des F. mit diesen beiden auf dem Schiff von 21.30 Uhr bis 22.30 Uhr sei nicht in vollem Umfang als eigenwirtschaftlich anzusehen, da F. zunächst den Sch bei der Wachablösung einzuweisen gehabt habe, wofür etwa eine halbe Stunde anzusetzen sei. Das Besucherbuch der Werft, in dem das Eintreffen von Sch und Z vermerkt wurde, sei zwar vernichtet worden; jedoch sei der Inhalt der Eintragungen seinerzeit von der Mordkommission notiert worden; Näheres hierüber könne auch noch der Kriminalbeamte D bezeugen. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 21. Juli 1960 die Berufung der Kläger zurückgewiesen: Der Sachverhalt sei unstreitig bis auf die Frage, ob F. länger als 1 1/2 Stunden nach dem Eintreffen des Sch auf dem Schiff verblieben sei. Da Sch etwa gegen 19.40 Uhr die Schiffswache habe übernehmen können, sei dem F. spätestens gegen 20.00 Uhr das Verlassen des Schiffs und der Antritt des Heimwegs möglich gewesen; dafür, daß F. nach 20.00 Uhr auf dem Schiff noch dienstlich zu tun gehabt habe, fehle jeder Anhalt. Sein Aufenthalt auf dem Schiff bis gegen 22.00 Uhr - also zwei Stunden lang - und anschließend die ebenfalls zweistündige Einkehr im "D. Hof" hätten betriebsfremden Interessen gedient. Diese insgesamt etwa vierstündige Unterbrechung habe zur Lösung des betrieblichen Zusammenhangs geführt (SozR RVO § 543 Aa 4 Nr. 7); deshalb sei der Versicherungsschutz entfallen, ohne daß es noch auf die Fragen des Alkoholgenusses und eines Überfalls aus betriebsfremden Motiven (BSG 10, 56 60) ankomme. Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 20 August 1960 zugestellte Urteil haben die Kläger am 19. September 1960 Revision eingelegt und sie am 30. September 1960 wie folgt begründet: Die Annahme des LSG, F. habe seinen Heimweg durch betriebsfremde Betätigungen von insgesamt vierstündiger Dauer verzögert, beruhe auf unzureichender Sachaufklärung und fehlerhafter Beweiswürdigung. Aus dem im angefochtenen Urteil nicht gewürdigten Bericht der Mordkommission hätte das LSG ersehen müssen, daß Sch und Z erst um 21.30 Uhr auf der Werft eingetroffen seien und F. sich mit ihnen bis gegen 22.30 Uhr dort aufgehalten habe. Der hiernach - unter Berücksichtigung der Wachablösung - noch verbleibende eigenwirtschaftliche Bordaufenthalt des F. von etwa 20 Minuten habe keinesfalls eine Lösung vom Betrieb bewirkt, auch nicht das anderthalbstündige Verweilen in der Gaststätte. Übrigens sei es - auch wenn man mit dem LSG einen zweistündigen privaten Aufenthalt des F. auf dem Schiff annehme - zweifelhaft, ob dies schon eine Lösung vom Betrieb einleiten könne; denn der Heimweg des F. habe nicht schon auf dem Schiff, sondern erst beim Verlassen desselben begonnen. Allenfalls der Gaststättenaufenthalt hätte überhaupt eine solche Lösung bewirken können, 1 1/2 Stunden seien aber zu kurz. Rechtlich habe das LSG verkannt, daß die Verzögerung des Heimwegs durch den Aufenthalt auf dem Schiff nicht mit der späteren Unterbrechung in der Gaststätte zu einer einheitlichen betriebsfremden, den Zusammenhang lösenden Betätigung zusammengerechnet werden dürfe. Die Kläger beantragen,
unter Aufhebung des Berufungsurteils die Beklagte zur Gewährung der Hinterbliebenenrenten zu verurteilen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie tritt den Verfahrensrügen entgegen und meint, der Versicherungsschutz wäre selbst bei Zugrundelegung des von den Klägern behaupteten Sachverhalts entfallen. Denn der Heimweg des F. habe nach dem Vortrag der Kläger etwa eine Stunde erfordert; hierzu stünden der eine halbe Stunde währende Aufenthalt auf dem Schiff und anschließend der mindestens 1 1/2 Stunden dauernde Aufenthalt in der Gaststätte in so krassem Mißverhältnis, daß hierdurch bereits auf jeden Fall die Lösung des Zusammenhangs eingetreten sei (SozR RVO § 543 Aa 2 Nr. 5, Aa 19 Nr. 26).
II
Die Revision ist statthaft durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte auch insofern Erfolg, als die mit ihr erhobene Rüge mangelhafter Erforschung des Sachverhalts zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen mußte.
Als entscheidend für den Verlust des Versicherungsschutzes aus § 543 RVO aF hat es das LSG angesehen, daß F. vor dem endgültigen Antritt des Heimwegs etwa vier Stunden lang persönlichen, betriebsfremden Interessen nachgegangen sei; von dieser erheblichen Zeitspanne seien etwa zwei Stunden auf die Einkehr im Lokal "D. Hof" und davor ebenfalls etwa zwei Stunden auf ein nicht betriebsbedingtes Verweilen auf dem Schiff entfallen. Zu dieser Annahme ist das LSG gelangt, weil es davon ausgegangen ist, der Jungmann Sch sei am Abend des 24. September 1956 so zeitig eingetroffen, daß er etwa gegen 19.40 Uhr den Wachdienst auf dem Schiff hätte übernehmen können; aus diesem vom LSG als erwiesen erachteten Zeitpunkt hat es gefolgert, F. habe sich in der Zeit von 20 bis 22 Uhr ohne dienstlichen Anlaß an Bord des Schiffes aufgehalten. Die Feststellung der Ankunftszeit des Sch beruht indessen, wie die Revision mit Recht geltend gemacht hat, auf unzureichenden Ermittlungen. Das LSG hätte das Berufungsvorbringen der Kläger, der Jungmann Sch sei erst gegen 21.30 Uhr am Werfttor eingetroffen, nicht kurzerhand übergehen dürfen, zumal da die in den Strafakten enthaltenen Zeitangaben in dieser Hinsicht kein klares Bild verschaffen konnten.
Über die Ankunftszeit der - weder von den Vorinstanzen noch im Verwaltungsverfahren der Beklagten gehörten - Zeugen Sch und Z wurden bei den kriminalpolizeilichen Ermittlungen mehrere stark voneinander abweichende Darstellungen gegeben. In den Berichten der Mordkommission vom 25. September und 4. November 1956 (Strafakte Bd. I Bl. 5, Bl. 98) ist dieser Zeitpunkt mit 21.30 Uhr angegeben worden. Der Zeuge Sch hat bei seiner kriminalpolizeilichen Vernehmung am 25. September 1956 (aaO Bl. 17) bekundet, er sei um 19.30 Uhr eingetroffen, während der an demselben Tag vernommene Zeuge Z sogar die Zeit von 19 Uhr angab (aaO Bl. 47). Wie diese Abweichungen zustande kamen, läßt sich im einzelnen zwar nicht den Strafakten entnehmen. Jedoch ist die Vermutung nicht von der Hand zu weisen, daß die Zeugen Sch und Z von dem jeweils vernehmenden Polizeibeamten nicht besonders eindringlich nach dem genauen Zeitpunkt ihres Eintreffens auf dem Werftgelände befragt worden sind; denn dieser Zeitpunkt war für die Ermittlungen der Mordkommission, welche hauptsächlich die Vorgänge seit dem Weggang des F. vom Werftgelände aufklären wollte, möglicherweise von geringerer Bedeutung. Um so mehr Anlaß hätte damit aber für das LSG bestanden, einerseits die Zeugen Sch und Z selbst zu vernehmen, sich über die Verwertbarkeit ihrer Zeitangaben ein eigenes Urteil zu bilden und andererseits gegebenenfalls die Beamten der Mordkommission, die den Abschlußbericht vom 4. November 1956 verfaßt hatten, darüber zu hören, auf welchen Anhaltspunkten die von ihnen angegebene, den Bekundungen des Sch und des Z widersprechende Zeit von 21.30 Uhr beruhte. Das Verfahren des LSG, das offenbar ohne solche kritische Prüfung lediglich das Protokoll über die Vernehmung des Zeugen Sch unter Vernachlässigung des sonstigen Inhalts der Strafakten - herausgegriffen und zur Grundlage seiner entscheidungserheblichen Feststellung gemacht hat, genügt somit nicht den Anforderungen des § 103 SGG.
Die Annahme des LSG, F. habe sich in der Zeit etwa von 20 bis 24 Uhr betriebsfremd betätigt, ermangelt hiernach ausreichender Feststellungen. Es erscheint nicht ausgeschlossen, daß bei gehöriger Sachaufklärung unter Umständen von einem erheblich kürzeren Zeitraum auszugehen ist. Die Auffassung der Beklagten, selbst bei Zugrundelegung des von den Klägern behaupteten Sachverhalts stelle sich das angefochtene Urteil im Ergebnis als richtig dar (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG), trifft nicht zu; denn allein wegen einer nicht betriebsbedingten Verzögerung des Heimwegs um etwa 1 1/2 bis 2 Stunden muß der in § 543 RVO aF vorausgesetzte innere Zusammenhang des Weges mit der versicherten Tätigkeit nicht unbedingt verneint werden.
Es fehlt weiterhin an tatsächlichen Feststellungen für eine abschließende Beurteilung der sich aufdrängenden Frage, ob etwa F. im Zeitpunkt des Überfalls deshalb nicht mehr unter Versicherungsschutz gestanden hat, weil aus betriebsfremden Beziehungen stammende Beweggründe die Angreifer zum Überfall veranlaßt haben. Gegebenenfalls wird es dem LSG obliegen, diese Frage unter Beachtung der Rechtsprechung des Senats (vgl. BSG 17, 75) nach ausreichender Erforschung des Sachverhalts - vor allem erscheinen hier die Wahrnehmungen des Tatzeugen R bedeutsam - zu prüfen.
Die Sache war nach alldem zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen, dem auch die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens überlassen bleibt.
Fundstellen