Leitsatz (amtlich)

Der Nachweis einer an die Kriegsgefangenschaft anschließenden Krankheit (Ersatzzeit nach RKG § 51 Abs 1 Nr 1 = RVO § 1251 Abs 1 Nr 1, AVG § 28 Abs 1 Nr 1) kann - anders als der Nachweis einer Ausfallzeit iS von RKG § 57 S 1 Nr 1 (= RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 1, AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 1) - durch alle zulässigen und geeigneten Beweismittel geführt werden.

 

Orientierungssatz

Die Berufung ist gemäß SGG § 146 dann nicht ausgeschlossen, wenn noch über Rente für abgelaufene Zeiträume zu entscheiden ist, nachdem der Kläger seinen Berufungsantrag beschränkt hatte. Maßgebend ist insoweit grundsätzlich der Zeitpunkt, zu dem die Berufung eingelegt worden ist. Eine spätere Verringerung der Beschwer hat keine Bedeutung (vgl BSG 1962-07-05 5 RKn 9/60 = SozR Nr 8 zu § 146 SGG, BSG 1962-01-18 5 RKn 43/61 = BSGE 16, 134, 135; BSG 1978-01-19 4 RJ 127/76 = SozR 1500 § 146 Nr 6; BSG 1978-02-28 4 RJ 73/77 = SozR 1500 § 146 Nr 7).

 

Normenkette

RKG § 51 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-05-21; RVO § 1251 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; AVG § 28 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1957-02-23; RKG § 57 S. 1 Nr. 1; RVO § 1259 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 1; SGG § 146 Fassung: 1958-06-25

 

Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 12.09.1977; Aktenzeichen L 2 Kn 101/76)

SG Duisburg (Entscheidung vom 29.04.1976; Aktenzeichen S 3 Kn 74/75)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. September 1977 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

Streitig ist zwischen den Beteiligten, ob dem Kläger Knappschaftsausgleichsleistung (KAL) gemäß § 98a Reichsknappschaftsgesetz (RKG) für die Zeit von August 1974 bis Februar 1976 zusteht. Die dafür erforderliche Versicherungszeit von 300 Kalendermonaten hat er nur zurückgelegt, wenn der Monat Juli 1945 als Ersatzzeit nach § 51 Abs 1 Nr 1 RKG infolge Krankheit im Anschluß an die Kriegsgefangenschaft anzurechnen ist. Seit dem 1. März 1976 erhält der Kläger Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit, die mit Bescheid vom 29. April 1977 festgestellt worden ist.

Vor Beginn des Kriegsdienstes war der Kläger bis einschließlich März 1943 als Hilfsanschläger unter Tage knappschaftlich versichert. Am 4. Juni 1945 wurde er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und zwar ausweislich des Entlassungsscheins vom 5. Juni 1945 als arbeitsfähig.

Den Antrag des Klägers vom 5. März 1974, ihm KAL zu gewähren, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 10. Dezember 1974 ab, weil an der Wartezeit von 300 Monaten ständiger Arbeiten unter Tage ein Monat fehle. Im Laufe des Vorverfahrens legte der Kläger eine ärztliche Bescheinigung seines Hausarztes vom 13. März 1975 vor, nach dessen Erinnerung es den Tatsachen entspreche, wenn der Kläger behaupte, vom 7. Juni bis zum 31. Juli 1945 arbeitsunfähig krank gewesen und von ihm behandelt worden zu sein. Der Widerspruch des Klägers wurde daraufhin mit der Begründung zurückgewiesen, daß der Nachweis der Arbeitsunfähigkeit nur durch eine Bescheinigung aus der Zeit der behaupteten Arbeitsunfähigkeit und nicht durch später ausgestellte Bescheinigungen geführt werden könne.

Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, dem Kläger KAL zu gewähren (Urteil vom 29.4.1976). Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) zurückgewiesen. Es hat die Berufung als statthaft angesehen, da sie bei ihrer Einlegung nicht Rente für abgelaufene Zeiträume betroffen habe. Dem Kläger stehe die begehrte KAL zu, denn der Monat Juli 1945 sei als Ersatzzeit im Sinne einer an die Kriegsgefangenschaft anschließenden Krankheit auf die Wartezeit anzurechnen. Nach seiner Entlassung aus der Gefangenschaft sei der Kläger auch noch im Juli 1945 krank und dadurch bedingt arbeitsunfähig gewesen. Er habe wegen seines Gesundheitszustandes die zuletzt verrichtete knappschaftliche Tätigkeit als Hilfsanschläger unter Tage und auch solche Arbeiten nicht verrichten können, die ihm nach der damaligen Regelung von Rentenansprüchen in der gesetzlichen Rentenversicherung hätten zugemutet werden können. Die zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit führenden Tatsachen seien nachgewiesen. Der Senat habe aus den Schilderungen des Klägers und aufgrund der Auskünfte des behandelnden Arztes die Überzeugung gewonnen, daß der Kläger jedenfalls zu Beginn des Monats Juli 1945 nicht habe arbeiten können. Er habe an einem Magen-Darmkatarrh bei Hungeroedem infolge chronischer Unterernährung gelitten und sei deswegen ärztlich behandelt worden. Entgegen der von der Beklagten geäußerten Ansicht sei es nicht erforderlich, eine Bestätigung der Arbeitsunfähigkeit in Versicherungskarten oder sonstigen Nachweisen zu verlangen, wie das für Ausfallzeiten in § 57 Nr 1 RKG vorgesehen sei (Urteil vom 12.9.1977).

Die Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die unrichtige Anwendung des § 51 Abs 1 Nr 1 RKG sowie eine Verletzung der §§ 103, 128 Abs 1 SGG. Eine Arbeitsunfähigkeit des Klägers im Juli 1945 sei durch Unterlagen, die aus der damaligen Zeit stammten, nicht belegt. Ausschließlich durch "Bescheinigungen sowie Eintragungen in den Versicherungskarten oder sonstigen Nachweisen" dürfe der hier erforderliche Nachweis zu führen sein. Eine Urkunde in diesem Sinne stelle allenfalls der im Kriegsgefangenen-Entlassungsschein enthaltene ärztliche Befund dar, wonach der Kläger jedoch nicht arbeitsunfähig gewesen sei. Die Frage, ob es hier eines Urkundenbeweises bedürfe, könne jedoch dahingestellt bleiben. Auf keinen Fall sei den erst 30 Jahre nach der streitigen Zeit abgegebenen Erklärungen von Dr. B ein Beweiswert des Inhalts beizumessen, daß der Kläger arbeitsunfähig iS der maßgebenden gesetzlichen Vorschriften gewesen sei. Das LSG habe die Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 SGG) überschritten und gegen die Pflicht zur Aufklärung des Sachverhalts (§ 103 SGG) verstoßen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des LSG für das Land Nordrhein-Westfalen vom 12. September 1977 sowie das Urteil des SG Duisburg vom 29. April 1976 aufzuheben und die Klage abzuweisen;

hilfsweise beantragt sie, den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß das angefochtene Urteil dahingehend abgeändert wird, die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Duisburg vom 29. April 1976 als unzulässig zu verwerfen.

Er ist der Ansicht, die Berufung sei nicht statthaft gewesen, weil sie nur Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betroffen habe. Im Laufe des Verfahrens in zweiter Instanz habe sich herausgestellt, daß ihm die am 2. März 1976 beantragte Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zustehe. In materiell-rechtlicher Hinsicht sei das angefochtene Urteil nicht zu beanstanden.

 

Entscheidungsgründe

Die zulässige Revision der Beklagten ist nicht begründet.

In Übereinstimmung mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) hat das LSG die Berufung der Beklagten für zulässig gehalten. Sie war nicht gemäß § 146 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ausgeschlossen. Das LSG hat zwar im angefochtenen Urteil nur noch über Rente für abgelaufene Zeit entschieden, nachdem der Kläger seinen Berufungsantrag beschränkt hatte. Maßgebend ist insoweit aber grundsätzlich der Zeitpunkt, zu dem die Berufung eingelegt worden ist. Eine spätere Verringerung der Beschwer hat - von hier nicht in Betracht kommenden Ausnahmen abgesehen - keine Bedeutung (vgl Urteil des Senats in SozR Nr 8 zu § 146 SGG; BSGE 16, 134, 135; SozR 1500 § 146 Nr 6 und 7 mit weiteren Nachweisen). Die gegenteilige Meinung des Klägers läßt sich nicht aus der Entscheidung des BSG vom 29. November 1967 (SozR Nr 21 zu § 146 SGG) herleiten. Auch danach bleibt der Zeitpunkt der Berufungseinlegung für die Zulässigkeit der Berufung in der Weise maßgebend, daß eine bei ihrer Einlegung zulässige Berufung nicht durch spätere - nicht willkürliche - Veränderungen des Streitgegenstandes unzulässig wird. Von einer willkürlichen Einschränkung des Rechtsmittels kann hier keine Rede sein. Zwar hat der Kläger schon während des erstinstanzlichen Verfahrens bei der Unsicherheit über den Ausgang des Rechtsstreits bezüglich der KAL zweckmäßigerweise im März 1976 auch Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit beantragt, damit stand bei der Einlegung der Berufung im Juni 1976 jedoch noch nicht fest, daß ihm die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auch tatsächlich gewährt wird. Das ist erst durch den Bescheid vom 29. April 1977 geschehen. Bis dahin bestand für den Kläger Veranlassung, die KAL ohne zeitliche Begrenzung zu fordern und die spätere Beschränkung des Klagebegehrens war sachgemäß. Diese Entwickelung hat nicht zu einer Unzulässigkeit des Rechtsmittels geführt, die auch nicht von der Beklagten durch die rückwirkende Bewilligung der Knappschaftsrente wegen Erwerbsunfähigkeit herbeigeführt worden ist.

In der Sache stimmt der Senat dem LSG darin zu, daß der Nachweis der Ersatzzeit des § 51 Abs 1 Nr 1 RKG (= § 1251 Abs 1 Nr 1 Reichsversicherungsordnung - RVO -) nicht ausschließlich durch Eintragungen in Versicherungskarten oder sonstigen Nachweisen geführt werden kann. Im Gegensatz zur Regelung für die Ausfallzeit des § 57 Nr 1 RKG (= § 1259 Abs 1 Nr 1 RVO) enthält § 51 Abs 1 Nr 1 RKG eine solche Einschränkung nicht. Sofern im Recht der gesetzlichen Sozialversicherung nicht ausdrücklich nur bestimmte Beweismittel zugelassen sind, kann der "Nachweis" mit allen zulässigen Beweismitteln geführt werden (vgl BSGE 20, 255, 256). Aus der Tatsache einer Beschränkung der Beweismittelarten in Nr 1 und 2 des § 1259 RVO und dem Fehlen einer solchen Regelung in den Nrn 3 bis 5 dieser Vorschrift hat die Rechtsprechung entnommen, daß der Gesetzgeber dort eine solche Beschränkung bewußt unterlassen hat (so BSG SozR Nr 8 zu Art 2 § 14 ArVNG und BSGE 20, 255, 256). Die gleichen Erwägungen müssen beim Vergleich des § 57 Nr 1 RKG mit § 51 Abs 1 Nr 1 RKG gelten. Deshalb kommen auch bei der zuletzt genannten Vorschrift alle geeigneten Beweismittel in Betracht.

In den §§ 57 Nr 1 RKG, 1259 Abs 1 Nr 1 RVO sind die Beweismittel auf Urkunden beschränkt worden, weil dem Gesetzgeber andere Beweismittel als ungeeignet erschienen, zuverlässig etwas über weit in der Vergangenheit liegende Tatbestände, insbesondere medizinische Befunde und ihre fachkundige Beurteilung, auszusagen (vgl BSG SozR Nr 8 zu Art 2 § 14 ArVNG). Aber auch bei der Ausfallzeit des § 57 Nr 1 RKG ist nicht in jedem Fall der Urkundenbeweis zu fordern. Es genügt vielmehr die Glaubhaftmachung der die Arbeitsunfähigkeit verursachenden Krankheit, wenn die Voraussetzungen des § 1 Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) erfüllt sind (so BSG SozR Nr 37 zu § 1259 RVO). Zwar bleibt auch dann prinzipiell die Ungeeignetheit anderer Beweismittel bestehen; gerade in den von der VuVO erfaßten Fällen sind aber Urkunden in Form von Versicherungsunterlagen nicht mehr vorhanden. Weniger als bei Ausfallzeiten wird man es bei Ersatzzeiten und Anschlußersatzzeiten als die Regel ansehen können, daß sie bei Kriegsende in Nachweisen bescheinigt worden sind. Deshalb läßt sich die ausdrückliche Beschränkung der Beweismittel bei Ausfallzeiten ohne entsprechende gesetzliche Anordnung nicht auf die hier streitige Ersatzzeit übertragen. In diesem Zusammenhang ist - wie das LSG es bereits getan hat - auf die Ausfallzeitpauschale des Art 2 § 9 Abs 2 Knappschaftsrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (KnVNG) hinzuweisen. Diese Pauschale bietet einen Ausgleich in den Fällen, in denen es nicht möglich ist, die in der Vergangenheit liegenden Ausfallzeiten nachzuweisen. Unter Berücksichtigung dieser Vergünstigung konnte der Gesetzgeber den vollen Beweis der Ausfallzeiten verlangen und sogar die zulässigen Beweismittel jedenfalls bei einigen Ausfallzeit-Tatbeständen beschränken. Die insoweit unterschiedliche Ausgangslage bei beiden Gruppen von beitragslosen Zeiten läßt die Differenzierung bezüglich der Beweismittel als sachgerecht erscheinen.

Der Senat ist gem § 163 SGG an die tatsächlichen Feststellungen des LSG gebunden. Danach war der Kläger zur Zeit der Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft am 5. Juni 1945 und bis in den Monat Juli 1945 hinein krank. Er konnte weder seine zuletzt verrichtete Erwerbstätigkeit als Hilfsanschläger unter Tage noch ihm nach damaligem Recht der gesetzlichen Rentenversicherung zumutbare Arbeiten verrichten. Das hat das LSG aufgrund der Schilderungen des Klägers sowie der Auskünfte des behandelnden Arztes als nachgewiesen angesehen. Zulässige und begründete Revisionsrügen in der durch § 164 Abs 2 SGG vorgeschriebenen Form sind dagegen von der Beklagten nicht vorgebracht worden. Denn in der Revisionsbegründung wird insoweit nur die Beweiswürdigung des LSG angegriffen, ohne im einzelnen darzulegen, inwieweit diese gegen die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstoße und deswegen eine Überschreitung der Grenzen des Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) durch das Berufungsgericht vorliege. Da somit das LSG sich von seinem Standpunkt zu keiner weiteren Aufklärung des Sachverhalts gedrängt fühlen mußte, entfällt auch die von der Beklagten des weiteren gerügte Verletzung des § 103 SGG.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

BSGE, 192

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