Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufsunfähigkeit. Verweisungstätigkeit
Orientierungssatz
Zur Feststellung des bisherigen Berufs (Hauptberufs) - Verweisung auf Arbeitsplätze für Betriebsangehörige
Normenkette
RVO § 1246 Abs. 2 S. 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 1978 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Streitig ist der Anspruch auf Rente wegen Berufsunfähigkeit.
Der 1930 geborene Kläger hat den Maurerberuf erlernt und nach der 1950 abgelegten Gesellenprüfung zunächst bis November 1956 ausgeübt. Danach arbeitete er bis Anfang 1959 als Rangierer bei der Bundesbahn. Von 1960 an war er als Maurer, Einschaler und Straßenbauer beschäftigt. Im September 1975 wurde er arbeitslos. Er kann nur noch leichte und vorübergehend mittelschwere Arbeiten vollschichtig verrichten.
Die Beklagte lehnte den im November 1975 gestellten Rentenantrag des Klägers mit Bescheid vom 26. März 1976 ab. Nachdem die Klage vor dem Sozialgericht Kassel (SG) erfolglos geblieben war (Urteil vom 10. Juni 1977), hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben und die Beklagte verpflichtet, Rente wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren. Es hat im Urteil vom 29. Juni 1978 ausgeführt:
Der Kläger habe in seinem Arbeitsleben im wesentlichen den erlernten Maurerberuf ausgeübt. Als Maurer könne er nicht mehr tätig sein. Auf die berufsverwandten Tätigkeiten des technischen Zeichners, Bautechnikers sowie Kalkulators sei er mangels der dafür erforderlichen Qualifikation, auf die Tätigkeit des Magaziners, da es sich hierbei um eine unqualifizierte Tätigkeit handele, nicht verweisbar. Durch berufsfremde Tätigkeiten, wie Apparatewärter, Maschinist, Materialverwalter ua wäre der Kläger fachlich und gesundheitlich überfordert. Hinzu komme, daß derartige Tätigkeiten dem Arbeitsmarkt nicht zugänglich seien, da solche Leichtarbeitsplätze in aller Regel von "Betriebsinvaliden" besetzt würden.
Mit der - vom LSG zugelassenen - Revision bezweifelt die Beklagte zunächst, ob vom Maurerberuf auszugehen sei, da der Kläger diesen Beruf 1974 aufgegeben, aber weiterhin versicherungspflichtig gearbeitet habe. Unabhängig davon rügt sie eine Verletzung des § 103 Sozialgerichtsgesetz (SGG) und die Überschreitung des Rechts der freien Beweiswürdigung insofern, als das LSG die unvollständige Antwort des Arbeitsamtes auf die Fragen des Gerichts einer negativen Antwort gleichgesetzt habe, ohne Rückfrage zu halten. Als zumutbare Verweisungstätigkeiten kämen die des Magazinverwalters und Hausmeisters in Betracht. Die Ansicht des LSG, der Kläger sei auf die angeführten Tätigkeiten auch deshalb nicht zu verweisen, weil es hierfür keinen offenen Arbeitsmarkt im eigentlichen Sinne gebe, stehe mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht im Einklang. Das LSG verwische mit seiner Argumentation die Abgrenzung der Rentenversicherung von der Arbeitslosenversicherung.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 29. Juni 1978 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Kassel vom 10. Juni 1977 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Seine Nichtverweisbarkeit auf berufsverwandte und berufsfremde Tätigkeiten sei verfahrensfehlerfrei festgestellt worden. Bei dieser Sachlage komme es auf das zusätzliche Argument des LSG, daß für einen wesentlichen Teil der in Betracht gezogenen Verweisungstätigkeiten kein offener Arbeitsmarkt vorhanden sei, nicht mehr an.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß. Die vom LSG getroffenen Feststellungen reichen zu einer abschließenden Entscheidung nicht aus.
Nach § 1246 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) ist ein Versicherter berufsunfähig, dessen Erwerbsfähigkeit aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr die Hälfte derjenigen eines vergleichbaren gesunden Versicherten beträgt. Nach Satz 2 der Vorschrift beurteilt sich dabei die Erwerbsfähigkeit des Versicherten nach allen (objektiv) seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechenden Tätigkeiten, die ihm (subjektiv) "unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit zugemutet werden können". Hiernach stehen die sogenannten Verweisungstätigkeiten in einer Wechselwirkung zum "bisherigen Beruf" (Hauptberuf). Von ihm aus bestimmt sich, welche Verweisungstätigkeiten als zumutbar in Betracht kommen. Deshalb muß er zunächst ermittelt und - da die Verweisbarkeit von seiner Qualität abhängt - nach den vorgenannten Kriterien des § 1246 Abs 2 Satz 2 RVO bewertet werden. Das hierzu von der Rechtsprechung des BSG entwickelte, nicht starr anzuwendende Dreistufenschema unterteilt die Arbeiterberufe in eine obere Gruppe (Leitberuf: Facharbeiter), eine mittlere Gruppe (Leitberuf: sonstiger Ausbildungsberuf) und die untere Gruppe der ungelernten Arbeiter (zB BSGE 38, 153; 41, 129, 131); dabei darf grundsätzlich auf die nächstniedrigere Gruppe und unter bestimmten Voraussetzungen auf die untere Gruppe verwiesen werden (ua SozR Nr 103 zu § 1246 RVO; SozR 2200 § 1246 Nrn 17, 21).
Bei der Feststellung des bisherigen Berufs ist grundsätzlich von der letzten vor dem Absinken der gesundheitlichen Leistungsfähigkeit versicherungspflichtig ausgeübten Beschäftigung oder Tätigkeit auszugehen. Wenn der Versicherte aus gesundheitlichen Gründen eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit hat aufgeben müssen, so ist eine solche "Lösung vom bisherigen Beruf" rentenrechtlich unbeachtlich in dem Sinne, daß der vor seiner gesundheitsbedingten Aufgabe ausgeübte Beruf maßgebend bleibt (aus der Rechtsprechung in letzter Zeit ua der 5. Senat des BSG in BSGE 41, 129, 130 = SozR 2200 § 1246 Nr 11; 1. Senat in SozR aaO Nrn 29 und 41 sowie Urteil vom 28. Juni 1979 - 1 RA 63/78 -; das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tage - 4 RJ 111/78; zur Lösung vom Beruf bei "vorübergehender" Aufnahme einer anderen Berufstätigkeit aus anderen als gesundheitlichen Gründen vgl SozR 2600 § 45 Nr 22 und SozR Nr 94 zu § 1246 RVO).
Die Ermittlung des bisherigen Berufs macht in der Regel die Feststellung und chronologische Einordnung der einzelnen Beschäftigungsverhältnisse des Versicherten erforderlich, wobei, von Einzelfällen der Lösung vom Beruf einmal abgesehen, das Gewicht auf der Zeit vor der Rentenantragstellung liegt. Für den zu entscheidenden Rechtsstreit ist von untergeordneter Bedeutung, daß einerseits die Beklagte mit der Revision vorträgt, der Kläger habe bereits 1974 seinen Maurerberuf aufgegeben, während der Kläger in der Revisionserwiderung meint, das LSG habe festgestellt, daß seinem Arbeitsleben der Maurerberuf das Gepräge gegeben habe, und dies sei mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen nicht angegriffen worden. Denn es ist eine Rechtsfrage und keine tatsächliche Feststellung, von welchem bisherigen Beruf ausgegangen werden muß. Die hierzu getroffenen Feststellungen des LSG sind ungenau und lassen zuviel offen. Dabei richten sich die Bedenken nicht etwa dagegen, daß nach den Ausführungen des Berufungsgerichts die in den Jahren von 1956 bis 1959 verrichtete Rangierertätigkeit als in diesem Zusammenhang unerheblich angesehen worden ist. Die weiteren Urteilsgründe aber, der Kläger habe "im Anschluß an diese Beschäftigung seinen Maurerberuf wieder aufgenommen und über eine längere Zeit hinweg ununterbrochen ausgeübt", decken sich weder zweifelsfrei mit den Angaben im Tatbestand, noch enthalten sie ergänzend zu diesem die erforderliche Differenzierung; denn dort heißt es nur summarisch, der Kläger habe "von Januar 1960 an ... als Maurer, Einschaler und Straßenbauer" gearbeitet und seit 29. September 1975 Arbeitslosengeld bezogen. Außer der zeitlichen Aufschlüsselung der einzelnen Beschäftigungsverhältnisse muß vor allem die Art der verrichteten Tätigkeit festgestellt und untersucht werden, ob und inwieweit der Kläger als Facharbeiter tätig gewesen ist bzw ob er "vollwertig" die Tätigkeiten eines anderen Facharbeiterberufs ausgeübt hat (wegen der zu stellenden Anforderungen vgl Urteil des erkennenden Senats vom heutigen Tag - 4 RJ 111/78). Ein wichtiges Indiz bildet dabei die tarifvertragliche Eingruppierung; war der Kläger zB nach Anhang 3 des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe - Begriffsbestimmungen und Berufsbilder für die Berufe der deutschen Bauwirtschaft - vom 6. Juli 1956 idF vom 20. März 1970 der Gruppe IIIc ("Anlernberufe") zugeordnet - und die den Versicherungsunterlagen sowie Anlagen des Ausführungsbescheides der Beklagten zu entnehmenden Entgelte können daran denken lassen - so ergibt sich schon daraus, daß eine Facharbeiter- oder gleichgestellte Tätigkeit insoweit ausscheidet (vgl auch Gruppe IV der oben genannten Berufsbilder, wo der "Einschaler" im Betonbau mit einer betrieblichen Einarbeitungszeit von einem Jahr genannt ist, sowie die dem SG gegenüber erteilte Arbeitgeberauskunft über die Beschäftigungszeit ab 19. Juni 1975).
Die hiernach zunächst noch erforderlichen Ermittlungen muß das LSG durchführen und aufgrund seiner darauf aufbauenden Feststellungen erneut die Frage nach dem bisherigen Beruf des Klägers beantworten. Dabei wird zu beachten sein, daß gerade im Blick auf etwaige Verweisungstätigkeiten vom konkreten Beruf, nicht von der Zugehörigkeit zu einer Berufssparte auszugehen ist. Ein Versicherter, der ohne zwingenden gesundheitlichen Grund und ohne betriebliche Anordnung (vgl SozR 2600 § 46 Nr 22) nicht nur vorübergehend von seinem Beruf zu einer zwar gleichartigen, aber weniger qualifizierten Tätigkeit überwechselt, muß sich dies auch versicherungsrechtlich entgegenhalten lassen mit der Konsequenz, daß sich die Frage der Berufsunfähigkeit nunmehr grundsätzlich nach der letzteren Tätigkeit und einer von daher zu beurteilenden Verweisungstätigkeit richten wird (vgl SozR 2200 § 1246 Nr 34 S. 104).
Sollte das LSG wiederum zu dem Ergebnis gelangen, daß dem Kläger der Berufsschutz eines Facharbeiters zuzubilligen sei, wird es beachten müssen, daß seine bisherigen Feststellungen hinsichtlich der Verweisbarkeit des Klägers wenigstens zum Teil von der Revision mit Recht angegriffen worden sind. Das BSG hat wiederholt Stellung genommen, wie bei der Suche nach Verweisungstätigkeiten zu verfahren ist (vgl zB BSGE 43, 243, 247 = SozR 2200 § 1246 Nr 16; BSGE 44, 291 = SozR aaO Nr 23; das zur Veröffentlichung bestimmte Urteil des erkennenden Senats vom 28. Juni 1979 - 4 RJ 70/78 - am Ende, insoweit zu den Möglichkeiten der "konkreten" Prüfung von Verweisungstätigkeiten). Bei seiner Urteilsfindung durfte das Berufungsgericht nicht, wie von der Beklagten gerügt, die unvollständige Antwort des Arbeitsamtes einer negativen gleichsetzen, zumal die Frage Nr 3 (Welche qualifizierten Tätigkeiten kommen noch in Betracht?), die auf weitere berufsfremde Tätigkeiten abgestellt war, allem Anschein nach unrichtig verstanden worden ist; es wurde nämlich auf die Antwort unter 1. (Berufsnahe oder bisher ausgeübte Tätigkeiten) verwiesen. Es kann nicht genügen, darauf hinzuweisen, daß "der Kläger in überzeugender Weise vorgetragen" habe, Arbeiten in Fertigbetonteilwerken, in Ziegeleien und als Hausmeister hätten wegen der damit verbundenen körperlichen Anforderungen auszuscheiden, sie seien auch vom Arbeitsamt in seiner Auskunft nicht erwähnt worden; im übrigen ist jedenfalls kein entsprechender schriftsätzlicher Vortrag des Klägers ersichtlich. Auf den - etwaigen - Vortrag des Klägers hätte umso weniger abgestellt werden dürfen, als der im sozialgerichtlichen Verfahren gutachtlich gehörte Internist darauf hingewiesen hat, eine Tätigkeit als Hausmeister komme in Betracht (hinsichtlich der tarifvertraglichen Bewertung der Hausmeistertätigkeit vgl zB Manteltarifvertrag für Arbeiter der Länder, Stand: 15. August 1975, Tarifvertrag über das Lohngruppenverzeichnis, Lohngruppen III bis V; Manteltarifvertrag für Arbeiter des Bundes, Stand: 8. Juli 1975, Lohngruppenverzeichnis, Gruppen VII bis IV). Als nicht verfahrensfehlerfrei zustandegekommen gerügt worden ist auch die Feststellung des LSG, die vom Arbeitsamt genannten Tätigkeiten eines Schalttafel-, Apparate- und Maschinenwärters, Maschinisten in Drucklufterneuerungsanlagen und eines Materialverwalters seien dem Kläger wegen ihrer besonderen Anforderungen nicht zumutbar, er wäre hierdurch fachlich und gesundheitlich überfordert. Die Auskunft des Arbeitsamtes sagt über eine fachliche Überforderung nichts aus. Der Hinweis auf eine Stimme im Schrifttum (Kuebarth in Soziale Sicherheit 1975 S. 143 ff) kann eigene Feststellungen des LSG nicht ersetzen; überdies hat die Beklagte geltend gemacht, dort seien nicht alle genannten Tätigkeiten abgehandelt worden. Unabhängig von seinen bisherigen Feststellungen sowie Rügen der Beklagten wird das LSG auch erneut zu prüfen haben, ob der Kläger auf die Tätigkeit des Baustellen-Magaziners verweisbar ist, die nach dem jetzt gültigen Bundesrahmentarif für das Baugewerbe (Anhang: Berufsgruppen für die Berufe des Baugewerbes) zur Berufsgruppe V - Baufacharbeiter - gehört.
Soweit das LSG die Verweisbarkeit auf Arbeitsplätze verneint, die in der Regel von Betriebsangehörigen besetzt werden, setzt es sich in Widerspruch zur Rechtsprechung des BSG, von der abzuweichen kein Anlaß besteht. Wiederholt ist entschieden worden, daß auf Versicherte, die noch vollschichtig tätig sein können, der Beschluß des Großen Senats vom 10. Dezember 1976 (SozR 2200 § 1246 Nr 13) zu der Frage, ob der Arbeitsmarkt für Teilzeitkräfte offen oder verschlossen ist, grundsätzlich keine Anwendung findet. Vielmehr ist davon auszugehen, daß es entsprechende Arbeitsplätze - gleichgültig, ob offen oder besetzt - in hinreichender Zahl jedenfalls dann gibt, wenn sie von Tarifverträgen erfaßt sind (SozR 2200 § 1246 Nrn 19 und 22). In den Bereich der Verweisungstätigkeiten können nur solche Arbeitsgelegenheiten nicht einbezogen werden, die ein Betrieb gerade für seine eigenen leistungsgeminderten Betriebsangehörigen in Form besonderer Arbeitsplätze eingerichtet hat. Die Vermittelbarkeit eines vollschichtig einsatzfähigen Versicherten fällt in den Risikobereich der Arbeitslosenversicherung. Der 5. Senat hat im Urteil vom 22. September 1977 (5 RJ 84/76) im Falle eines Facharbeiters es als unzulässig bezeichnet, Verweisungstätigkeiten mit der Begründung auszuschließen, die entsprechenden Arbeitsplätze seien fast ausschließlich eigenen Betriebsangehörigen vorbehalten. Dem vorliegenden Sachverhalt sind keine Anhaltspunkte zu entnehmen, aufgrund deren - abweichend von der Regel - die Verweisbarkeit des Klägers auf einen Teil der erwähnten Tätigkeiten deshalb ausgeschlossen sein könnte, weil diese nur mit bestimmten Arbeitsplätzen verbunden seien, die von vornherein lediglich Betriebsangehörigen vorbehalten blieben.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen