Entscheidungsstichwort (Thema)

Erstattung eines ärztlichen Gutachtens durch nicht beauftragten Sachverständigen

 

Leitsatz (redaktionell)

Auch als Urkunde darf ein von einem nicht beauftragten Sachverständigen erstattetes Gutachten schon aus dem Grunde nicht herangezogen werden, weil der Betroffene dessen Verwertung widersprochen und mithin den "Gutachter" nicht von der ärztlichen Schweigepflicht entbunden hatte.

 

Orientierungssatz

Nach ständiger Rechtsprechung des BSG darf ein Gericht eine schriftliche Äußerung, auch wenn sie inhaltlich den Anforderungen eines "Gutachtens" entspricht, nur dann als Sachverständigenbeweis würdigen, wenn es den Verfasser vorher zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt (§§ 106 Abs 3 Nr 5, 118 SGG, 404 ZPO (vgl BSG 1967-08-23 5 RKn 99/66 = SozR Nr 81 zu § 128 SGG)), dh mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt hatte.

 

Normenkette

SGG § 106 Abs. 3 Nr. 5 Fassung: 1953-09-03, § 118 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1974-12-20; ZPO § 404

 

Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 15.11.1982; Aktenzeichen L 9 J 1869/80-3)

SG Reutlingen (Entscheidung vom 28.07.1980; Aktenzeichen S 4 J 1164/78)

 

Tatbestand

Der 1925 geborene Kläger erlernte nach seinen Angaben von 1941 bis 1943 den Beruf des Binnenschiffers. Nach Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft war er von 1945 bis 1975 nach seinen Angaben als Hilfsarbeiter bei verschiedenen Arbeitgebern versicherungspflichtig beschäftigt, zuletzt als Hausdiener bis Juni 1976. Seitdem war er nicht mehr berufstätig.

Der erste Antrag des Klägers auf Rente aus der Rentenversicherung wurde abgelehnt (Bescheid vom 5. November 1976). Seinen erneuten Antrag vom 25./30. November 1977 lehnte die Beklagte ebenfalls ab (Bescheid vom 28. März 1978; Widerspruchsbescheid vom 10. Juli 1978). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 28. Juli 1980). Das Landessozialgericht (LSG) hat zwei Gutachten über den Gesundheitszustand des Klägers eingeholt. Mit Schreiben vom 22. April 1981 hat es Professor Dr. , Chefarzt der inneren Abteilung der Städtischen Kliniken in V -Sch mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt. Die Städtischen Krankenanstalten V-Sch haben mit Schreiben vom 7. Mai 1981 mitgeteilt, daß für die augenärztliche Nebenbegutachtung Dr. E und für das nervenärztliche Zusatzgutachten Dr. P benannt würden. Am 12. Mai 1981 hat das LSG daraufhin diese beiden Ärzte ebenfalls beauftragt. Das Gutachten, mit dem Prof. Dr. L beauftragt worden war, wurde durch die Ärzte Dr. N und Dr. H erstattet, die beiden Zusatzgutachten durch die Ärzte Dr. E  und Dr. P. Dr. N und Dr. H kamen zu dem Ergebnis, daß der Kläger vollschichtig arbeiten könne. Zu vermeiden seien Arbeiten an rotierenden Maschinen, sehr feine Arbeiten, solche mit Eigenverantwortung und Arbeiten unter Zeitdruck. Der Kläger hat sofort beanstandet, daß das Gutachten nicht von dem beauftragten Sachverständigen erstattet und deshalb nicht verwertbar sei. Auf Anordnung des Gerichts hat der vom Kläger nach § 109 SGG benannte Arzt Prof. Dr. H, N  L L, Neurologische Klinik, das Gutachten vom 25. Mai 1982 erstattet. Er hat ausgeführt, daß der Kläger nur noch drei bis vier Stunden täglich arbeiten könne. Auf seinem Fachgebiet (Neurologie) liege eine reaktive Depression vor, zusätzlich zu den bereits vorhandenen Beschwerden von Seiten der Halswirbelsäule, am rechten Knie, der Augen sowie den pressorisch-postpressorischen Synkopen mit Bewußtlosigkeit.

Die Beklagte hat darauf mit Schriftsatz vom 21. Juli 1982 ua wörtlich erklärt: "In Sachen ... erkennen wir an, daß sich der gesundheitliche Zustand des Klägers soweit verschlechtert hat, daß nunmehr Erwerbsunfähigkeit im Sinne des § 1247 RVO vorliegt... Da im übrigen der Zeitpunkt der Verschlimmerung nicht festgestellt wurde, eine genaue Feststellung nach Sachlage wohl auch nicht möglich sein wird, unterbreiten wir, zur Erledigung des Rechtsstreites, folgenden Vergleichsvorschlag: 1. Die Beklagte gewährt dem Kläger ab dem 1.10.1981 (Versicherungsfall: 30.9.1981, zeitliche Mitte zwischen der Untersuchung durch Dr. P im Mai 1981 und der Untersuchung durch den Gerichtsgutachter im Februar 1982) Rente wegen Erwerbsunfähigkeit auf nicht absehbare Zeit. 2. Die außergerichtlichen Kosten des Klägers in der 2. Instanz werden - dem Grunde nach - zur Hälfte übernommen. 3. Der Kläger nimmt das Angebot an und macht keine weiteren Ansprüche geltend. 4. Die Beteiligten betrachten den Rechtsstreit in vollem Umfang als erledigt". Der Kläger erklärte sich mit diesem Vorschlag nicht einverstanden. Die Beklagte teilte daraufhin mit, daß damit ihr Vergleichsvorschlag gegenstandslos sei.

Mit Urteil vom 15. November 1982 hat das LSG die Berufung des Klägers zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt:

Der Anspruch des Klägers sei von der Beklagten nicht anerkannt worden, ein Vergleich sei nicht zustande gekommen. Der Beurteilung der Ärzte Dr. N und Dr. H, deren Gutachten im Wege des Urkundenbeweises verwertet werde, schließe sich der Senat an. Da der Kläger somit noch ganztägig arbeiten könne, sei er weder erwerbs- noch berufsunfähig.

Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 106 Abs 3 Nr 5 SGG.

Er beantragt, das angefochtene Urteil aufzuheben und die Beklagte unter Aufhebung des Urteils des Sozialgerichts Reutlingen vom 28. Juli 1980 sowie der angefochtenen Bescheide der Beklagten zu verurteilen, dem Kläger ab 1. November 1977 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte stellt keinen Antrag.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 SGG).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist iS der Zurückverweisung begründet.

Soweit das LSG Tatsachenfeststellungen unter Berufung auf das Gutachten der Ärzte Dr. N und Dr. H getroffen hat, sind die festgestellten Tatsachen nicht verwertbar, weil die Feststellungen - wie mit der Revision zutreffend gerügt wird - verfahrensfehlerhaft zustande gekommen sind. Wie das Bundessozialgericht (BSG) in ständiger Rechtsprechung entschieden hat (vgl BSG SozR Nrn 71 und 81 zu § 128 SGG), darf ein Gericht eine schriftliche Äußerung, auch wenn sie inhaltlich den Anforderungen eines "Gutachtens" entspricht, nur dann als Sachverständigenbeweis würdigen, wenn es den Verfasser vorher zum gerichtlichen Sachverständigen ernannt (§§ 106 Abs 3 Nr 5, 118 SGG, 404 Zivilprozeßordnung), dh mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt hatte. Das war bezüglich der Ärzte Dr. N und Dr. H nicht geschehen. Auch als Urkunde durfte das Gutachten nicht herangezogen werden. Es kann dahingestellt bleiben, ob die Verwertung des Gutachtens als Urkunde, die lediglich deshalb erfolgte, weil der Gebrauch als Sachverständigengutachten gegen Prozeßvorschriften verstieß, bereits eine Umgehung des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme darstellt und schon deshalb unzulässig ist. Auf jeden Fall wäre es erforderlich gewesen, daß der Kläger die Ärzte Dr. N und Dr. H von ihrer ärztlichen Schweigepflicht entbunden hätte (vgl Meyer-Ladewig, Kommentar zum SGG, 2. Aufl, 1981, § 107 Anm 6). Daß dies geschehen ist, ist dem Urteil des LSG nicht zu entnehmen und ist angesichts des Umstandes, daß der Kläger der Verwertung des Gutachtens widersprochen hatte, auch nicht anzunehmen. Da auf dem somit nicht verwertbaren Gutachten der Ärzte Dr. N und Dr. H das Urteil des LSG beruht, reichen die sonstigen - verfahrensfehlerfreien - Feststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung des Rechtsstreits durch das Revisionsgericht nicht aus (§ 170 Abs 2 SGG).

Entgegen der in der Revisionsbegründung vertretenen Ansicht ist die somit gebotene neue Entscheidung des LSG nicht durch ein angenommenes Teilanerkenntnis zeitlich beschränkt. Das LSG hat angenommen, daß mit dem Schreiben der Beklagten vom 21. Juli 1982 nicht die Abgabe eines Anerkenntnisses, sondern eines Vergleichsvorschlags gewollt war und daß im Schriftsatz des Bevollmächtigten des Klägers vom 3. August 1982 auch lediglich vom Vorliegen eines Vergleichsvorschlags ausgegangen und dieser abgelehnt worden ist. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese Auslegung der Willensrichtung der Beteiligten durch das LSG zutreffend ist. Hierbei handelt es sich jedenfalls um - das Revisionsgericht gemäß § 163 SGG bindende - Tatsachenfeststellungen (vgl BSG in SozR 2200 § 1265 Nr 24, S 75 mwN). Insoweit kann nur geprüft werden, ob das Berufungsgericht Verfahrensvorschriften, insbesondere Denkgesetze oder Erfahrungssätze verletzt hat. Da hier derartige Revisionsrügen nicht vorgebracht worden sind, ist der Senat an die genannten Feststellungen gebunden.

Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1656281

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