Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärung. Beweiswürdigung Kausalität
Orientierungssatz
Wird in der medizinischen Literatur die Auslösung oder Verschlimmerung einer Erkrankung der Art, wie sie beim Kläger besteht, durch exogene Einflüsse für möglich gehalten, äußern die vom Gericht gehörten medizinischen Sachverständigen jedoch sich nicht zu dieser Zusammenhangsfrage, so reicht der Hinweis des LSG darauf, daß die Wirbelsäule durch den Unfall nicht geschädigt worden sei, für sich allein nicht aus, um die Verneinung des ursächlichen Zusammenhangs zu rechtfertigen. Das Gericht hätte sich zur Klärung dieser Frage der Hilfe eines Arztes bedienen müssen.
Normenkette
SGG §§ 103, 128; RVO § 542
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 08.05.1962) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 8. Mai 1962 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben. Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger, der als Lokomotivschlosser im Bahnbetriebswerk Darmstadt beschäftigt war, geriet am 12. November 1948 bei Reparaturarbeiten an einer Lokomotive zwischen das Bremsgestänge einer aus unbekannten Gründen anziehenden Bremse. Er wurde bis zum 3. Dezember 1948 in der Chirurgischen Klinik Darmstadt-Eberstadt der Städtischen Krankenanstalt Darmstadt stationär behandelt und vom 27. Dezember 1948 an wieder arbeitsfähig geschrieben. In einem von dem Chefarzt dieser Klinik Dr. G und Dr. B erstatteten Gutachten vom 10. August 1949 wurde die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) vom 27. Januar 1949 an auf 15 v. H. und vom 10. August 1949 an auf 10 v. H. geschätzt. Auch ein Gutachten der Medizinischen Klinik der Städtischen Krankenanstalt vom 11. Oktober 1949 kam zu dem Ergebnis, daß eine Einschränkung der Erwerbsfähigkeit durch den Unfall nicht mehr vorliege.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 3. November 1949 die Gewährung von Entschädigung mit der Begründung ab, ein Anspruch auf Rente bestehe nicht, weil die MdE nicht mindestens 20 v. H. betrage.
Dieser Bescheid ist nicht angefochten worden.
Erst mit Schreiben vom 17. Februar 1959 machte der Kläger einen Anspruch auf Rentengewährung geltend und führte zur Begründung aus: Die Arbeit sei für ihn nach dem Unfall an sich zu schwer gewesen. Er habe aber dank des Entgegenkommens von Arbeitskollegen 10 Jahre lang seinen Arbeitsanteil herunterarbeiten können. Er habe Schmerzen, besonders am Brustkorb und im Rücken, seit 1959 auch an den beiden Schultern und Unterarmen, und diese seien wesentlich schlimmer geworden.
Die Beklagte ließ den Kläger im E. in Darmstadt untersuchen. Das von Prof. Dr. R und Dr. F erstattete Gutachten vom 11. Mai 1959 kam zu dem Ergebnis, an der Wirbelsäule seien spondylotische Veränderungen der Halswirbelsäule und degenerative Veränderungen der unteren Brust- und Lendenwirbelsäule mit schmerzhaften Bewegungseinschränkungen festzustellen, für die jedoch das Trauma vom Jahre 1948 nicht ursächlich verantwortlich gemacht werden könne.
Durch Bescheid vom 5. Januar 1960 lehnte die Beklagte den Antrag auf Rentengewährung mit der Begründung ab, die Beschwerden des Klägers seien Folgen einer schicksalsmäßigen Verschleißerscheinung und nicht traumatischen Ursprungs.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Darmstadt erhoben. Dieses hat auf Grund eines auf § 109 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) gestützten Antrags ein Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. Walter K in Darmstadt vom 18. März 1961 beigezogen, das zu dem Ergebnis kommt, beim Kläger bestünden eine Osteochondrose und Spondylosis an verschiedenen Abschnitten der Wirbelsäule sowie eine leichte Arthrosis der Schulter- und Hüftgelenke; die Infraktion der 8. Rippe rechts sei folgenlos verheilt. Bei den degenerativen Veränderungen handele es sich um Verschleißerscheinungen, die nicht als Unfallfolge anzusehen seien. Der Unfall habe jedoch zu einem deutlichen körperlichen und seelischen Leistungsknick geführt. Das Trauma habe sich psychisch so stark verankert, daß man fast von einer zwangsneurotischen Einstellung sprechen müsse, und die seelischen Veränderungen stünden weit mehr im Vordergrund als die körperlichen, wenngleich die körperlichen Beschwerden weitgehend Ausfluß einer seelischen Reaktionsveränderung seien.
Das SG hat durch Urteil vom 13. Juli 1961 die Klage abgewiesen. Im Verfahren über die Berufung des Klägers hat das Hessische Landessozialgericht (LSG) die Rentenakten der Bundesbahn-Versicherungsanstalt beigezogen, aus denen sich ergibt, daß diese dem Kläger durch Bescheid vom 31. Oktober 1961 vom 1. April 1961 an die Rente wegen Erwerbsunfähigkeit bewilligt hat.
Durch Urteil vom 8. Mai 1962 hat das LSG die Berufung des Klägers als unbegründet zurückgewiesen. Dieses Urteil ist dem Kläger am 17. Mai 1962 zugestellt worden.
Mit Schriftsatz vom 14. Juni 1962, der am 15. Juni 1962 beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen und von der Ehefrau des Klägers unterzeichnet ist, hat der Kläger gegen das Urteil "Berufung" beim BSG eingelegt und dargelegt, daß er nicht in der Lage sei, die Kosten für einen Rechtsanwalt aufzubringen.
Durch Beschluß vom 2. November 1962 hat der Senat dem Kläger das Armenrecht bewilligt und ihm Rechtsanwalt L in Kassel als Prozeßbevollmächtigten beigeordnet.
Dieser hat mit Schriftsatz vom 6. Dezember 1962, der an demselben Tage beim BSG eingegangen ist, Revision eingelegt und sie zugleich auch begründet.
Er beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Der Senat hat von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht (vgl. § 124 Abs. 2 SGG).
II
Der von der Ehefrau des Klägers unterzeichnete Schriftsatz vom 14. Juni 1962 ist zwar innerhalb der Monatsfrist für die Einlegung der Revision (§ 164 SGG) beim BSG eingegangen. Er war jedoch nicht geeignet, diese Frist zu wahren, denn infolge des vor dem BSG bestehenden Vertretungszwangs (§ 166 SGG) können die Beteiligten - abgesehen von Behörden und Körperschaften oder Anstalten des öffentlichen Rechts - Prozeßhandlungen nur durch zugelassene Prozeßbevollmächtigte wirksam vornehmen.
Der Kläger war jedoch nicht in der Lage, die Kosten für die Beauftragung eines Rechtsanwalts zu tragen. Dieses Hindernis ist erst durch den am 10. November 1962 zugestellten Beschluß des Senats vom 2. November 1962 beseitigt worden, durch den dem Kläger - auf den im Schriftsatz vom 14. Juni 1962 enthaltenen Antrag - das Armenrecht bewilligt und Rechtsanwalt L als Prozeßbevollmächtigter beigeordnet worden ist. Da der Prozeßbevollmächtigte die Einlegung und Begründung der Revision am 6. Dezember 1962 formgerecht nachgeholt hat, ist dem Kläger gegen die Versäumung der Revisionsfrist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren (§ 67 SGG).
Die Statthaftigkeit der Revision hängt, da das LSG sie nicht zugelassen hat (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG), davon ab, ob die Voraussetzungen der Nr. 2 oder der Nr. 3 des § 162 Abs. 1 SGG gegeben sind.
Die Revision rügt, das LSG habe den Sachverhalt in medizinischer Hinsicht insofern nicht hinreichend aufgeklärt (§ 103 SGG), als es unterlassen habe, einen ausführlichen Bericht über das Ergebnis der Untersuchung des Klägers in der Universitäts-Nervenklinik in Frankfurt (M) beizuziehen. Diese Rüge ist berechtigt.
Das LSG hat seine Entscheidung darüber, ob die durch den Unfall vom 12. November 1948 verursachten Gesundheitsstörungen des Klägers sich seit der Erteilung des Bescheides vom 3. November 1949 wesentlich geändert haben (vgl. § 608 der Reichsversicherungsordnung), im wesentlichen auf das Gutachten des Facharztes für Orthopädie Dr. K vom 18. März 1961 gestützt. Dieses Gutachten war zu dem Ergebnis gelangt, daß die beim Kläger festgestellten organischen Erkrankungen (Osteochondrose und Spondylose an verschiedenen Abschnitten der Wirbelsäule, Arthrose der Schulter- und Hüftgelenke, Gastritis) nicht durch den Unfall verursacht seien, und hat im übrigen die Beschwerden des Klägers auf eine psychische Reaktion zurückgeführt. Wie aus dem in den Rentenakten der Bundesbahn-Versicherungsanstalt befindlichen Bericht des Vertrauensarztes Dr. S vom 12. Juli 1961 hervorgeht, hat jedoch die Untersuchung des Klägers in der Frankfurter Universitäts-Nervenklinik ergeben, daß der Kläger an einer schweren organischen Erkrankung leidet, die von den im Verfahren über den Unfallrentenanspruch des Klägers gehörten Sachverständigen nicht erkannt worden ist oder zur Zeit der früheren Untersuchungen noch nicht feststellbar war, zu der also diese Gutachter sich noch nicht hatten äußern können. Unter diesen Umständen durfte sich das LSG nicht mit dem kurzen Bericht des Dr. S begnügen, sondern hätte sich mindestens darüber Klarheit verschaffen müssen, welche Befunde in der Frankfurter Klinik erhoben worden sind.
Das LSG hat allerdings nicht verkannt, daß der Auffassung des Dr. K ein erheblicher Teil der Beschwerden des Klägers sei seelisch bedingt, durch die Diagnose der Frankfurter Klinik der Boden entzogen war. Es ist der Auffassung, die Beschwerden, die durch die erst in Frankfurt festgestellte Erkrankung verursacht werden, hätten den Kläger veranlaßt, im Jahre 1959 einen Antrag auf Gewährung einer Rente zu stellen. Die Erkrankung stehe jedoch mit dem Unfall vom 12. November 1948 nicht im Zusammenhang.
Die Revision rügt jedoch mit Recht als eine Verletzung der §§ 103, 128 SGG, daß das LSG diese - naturwissenschaftlich schwierige - Zusammenhangsfrage entschieden hat, ohne sich hierbei der Hilfe eines ärztlichen Sachverständigen zu bedienen (vgl. auch SozR SGG § 128 Bl. Da 19 Nr. 45).
Das LSG hat nicht geklärt, ob sich die Frankfurter Universitäts-Nervenklinik eine Meinung zu der Frage des Zusammenhangs zwischen der Erkrankung und dem Unfall vom Jahre 1948 gebildet hat, und auch der kurze Bericht des Vertrauensarztes Dr. S äußert sich hierzu nicht. Die Revision weist zutreffend darauf hin, daß in der medizinischen Literatur die Auslösung oder Verschlimmerung einer Erkrankung der Art, wie sie beim Kläger besteht, durch exogene Einflüsse für möglich gehalten wird (vgl. Reichardt, Einführung in die Unfall- und Rentenbegutachtung, 4. Aufl., S. 379; Töbel in Fischer-Herget-Molineus, Das ärztliche Gutachten im Versicherungswesen, 1955, Band II S. 1174, 1175; Kloos in Bürkle de la Camp/Rostock, Handbuch der gesamten Unfallheilkunde, 2. Aufl., Bd. I S. 509; Meyeringh, Versicherungsrechtliche Beurteilung innerer Krankheiten S. 117). Unter diesen Umständen reicht der Hinweis des LSG darauf, daß die Wirbelsäule durch den Unfall nicht geschädigt worden sei, für sich allein nicht aus, um die Verneinung des ursächlichen Zusammenhangs zu rechtfertigen.
Das Verfahren des LSG leidet also an wesentlichen Mängeln, die von der Revision gerügt sind. Die Revision ist statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Die Revision ist auch begründet, denn es ist nicht völlig auszuschließen, daß das LSG zu einem für den Kläger günstigeren Ergebnis hinsichtlich der Frage gelangt wäre, ob die durch den Unfall vom Jahre 1948 verursachten Gesundheitsstörungen sich so wesentlich verändert haben, daß jetzt ein Anspruch auf Rente besteht, wenn es den Sachverhalt in medizinischer Hinsicht durch Beiziehung der Unterlagen der Universitäts-Nervenklinik Frankfurt (M) und eines weiteren ärztlichen Gutachtens vollständiger aufgeklärt hätte.
Da eine Entscheidung des Senats in der Sache selbst infolge des Fehlens ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht möglich ist, mußte das Urteil des LSG aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 SGG).
Die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen