Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 28.08.1961) |
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. August 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Die Klägerin ist als Reinmachefrau bei der Bezirksverwaltung der Barmer Ersatzkasse in Kiel-Gaarden, Elisabethstraße 32, beschäftigte. Die Büroräume hat sie nach Dienstschluß zu reinigen. Dies hatte sie wie üblich auch am 28. Dezember 1959 vor. Sie begab sich daher gegen 16.30 Uhr von ihrer Wohnung in Kiel-Ellerbek, Hollwisch 22, aus zu der Dienststelle. Dort erfuhr sie, daß sie mit ihrer Tätigkeit erst später beginnen könne, da die Büroräume noch von den Angestellten, die Überstunden zu leisten hatten, benutzt wurden. Sie kehrte nicht in ihre eigene Wohnung zurück, sondern fuhr mit der Straßenbahn zur Wohnung ihres. Sohnes in Kiel, Hamburger Chaussee 203. Dort hielt sie sich bis gegen 21.30 Uhr auf. Im Anschluß daran trat sie mit der Straßenbahn die Fahrt nach den Geschäftsräumen der Barmer Ersatzkasse an. Beim Umsteigen wurde sie von einem Personenkraftwagen angefahren und erheblich verletzt.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 24. Juni 1960 den Entschädigungsanspruch der Klägerin ab, weil sie nicht auf einem mit ihrer versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg verunglückt sei.
Mit der hiergegen erhobenen Klage hat die Klägerin geltend gemacht, zu ihrem mehrstündigen Besuch in der Wohnung ihres Sohnes sei sie durch unternehmensbedingte Umstände veranlaßt worden, da sie bis zum möglichen Arbeitsbeginn habe warten müssen. Das Sozialgericht (SG) Schleswig hat die Klage abgewiesen. Es ist der Ansicht, der Besuch der Klägerin in der Wohnung ihres Sohnes habe rein privaten Zwecken gedient; daher habe auch ihr Weg von dort zur Arbeitsstätte nicht mit ihrer Tätigkeit als Reinmachefrau in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang gestanden.
Im Berufungsverfahren hat die Klägerin vorgebracht: Ihr Sohn, dessen Wohnung sie am Unfalltag aufgesucht habe, sei als Angestellter bei der Barmer Ersatzkasse in Kiel beschäftigt; er sei abends nach Beendigung der Überstunden erwartungsgemäß nach Hause gekommen und habe sie dort unvorbereitet angetroffen. Nachdem man gemeinsam gegessen und sich unterhalten habe, sei sie gegen 21.30 Uhr fortgefahren, um ihre Tätigkeit in den Büroräumen der Barmer Ersatzkasse aufzunehmen. Das Heimkommen des Sohnes vom Dienst habe ihr die Beendigung der Überstundenarbeit am Unfalltag angezeigt. Das Landessozialgericht (LSG) hat durch Urteil vom 28. August 1961 die Beklagte verurteilt, der Klägerin wegen der Folgen des Unfalls vom 28. Dezember 1959 Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung zu gewähren. Es hat zur Begründung ausgeführt: Die Klägerin habe sich zwar am Unfalltag in die Wohnung ihres Sohnes in der Absicht eines Besuches begeben; dieser Besuch könne jedoch nicht unabhängig von den Arbeitserfordernissen gewertet werden, denen die Klägerin damals unterlag. Da im Bürobetrieb Überstunden geleistet werden mußten, also aus rein betrieblichen Gründen, sei sie an der Aufnahme ihrer Reinigungsarbeit gehindert und genötigt worden, außerhalb des Betriebes zu warten, bis die Diensträume frei wurden. Dieser Umstand habe das Aufsuchen eines geeigneten Warteplatzes erfordert. Sie habe die Wartezeit in der Wohnung ihres Sohnes verbracht. Daß für sie beim Aufsuchen dieser Wohnung vornehmlich andere Gründe als die Überbrückung der Wartezeit ausschlaggebend gewesen seien, sei nicht zu ersehen. Wohl hätte sie sich in jener Zeit in ihrer eigenen Häuslichkeit aufhalten können; ebenso habe sich ihr aber auch die in etwa derselben Zeit erreichbare Wohnung ihres Sohnes als Warteplatz angeboten, da sich für sie mit dem Nachhausekommen ihres Sohnes von seinem Dienst bei der Barmer Ersatzkasse ein sicheres Anzeichen für die Beendigung der Überstundenarbeit ergeben habe. Für die Annahme, daß die Klägerin auch ohne die Verhinderung der Arbeitsaufnahme aus betrieblichen Gründen beabsichtigt hätte, an diesem Tage nach der Wohnung ihres Sohnes zu fahren, sei kein Anhalt gegebene Deshalb stehe die betriebsbedingte Überbrückung der Wartezeit derart im Vordergrund des Geschehens, daß der private Zweck des Besuchs als rechtlich unwesentlich erscheine; dieser Besuch sei jedenfalls als die sinnvolle Ausnutzung einer betriebsbedingten Notwendigkeit anzusehen. Dies rechtfertige die Schlußfolgerung, daß die Klägerin auf einem mit ihrer versicherten Tätigkeit zusammenhängenden Weg verunglückt sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 26. September 1961 zugestellt worden. Sie hat am 13. Oktober 1961 Revision eingelegt und diese gleichzeitig begründet. Die Revision rügt unrichtige Anwendung des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Sie führt aus: Das LSG hätte klären müssen, ob die Klägerin vor der Fahrt zur Wohnung ihres Sohnes auf dem Büro der Barmer Ersatzkasse wirklich erfahren habe, daß nicht abzusehen sei, wann sie an dem Abend mit dem Reinigen der Räume beginnen könne. Dies zu klären, sei notwendig gewesen, weil sich die Klägerin nach dem vergeblichen Versuch zur Arbeitsaufnahme fünf Stunden in der Wohnung ihres Sohnes aufgehalten habe und es zweifelhaft erscheine, ob dieser mehrstündige Aufenthalt durch ihre Beschäftigungsweise gerechtfertigt war. Für die Beurteilung der streitigen Zusammenhangsfrage sei von Bedeutung, wann die Geschäftsräume zur Reinigung frei wurden. Das LSG hätte daher, wenn auch der Klägerin eine bestimmte Arbeitszeit nicht vorgeschrieben gewesen sei, Anlaß gehabt festzustellen, wann der Sohn der Klägerin nach Beendigung der Überstundenarbeit nach Hause kam; seine Vernehmung hätte ergeben, daß die Klägerin noch mehrere Stunden mit ihm zusammen in der Wohnung geblieben sei, ehe sie zur Arbeit aufbrach. Unter diesen Umständen habe das Nachhausekommen des Sohnes den Sinn, die Arbeitsbeendigung anzuzeigen, verloren. Soweit das LSG in dem Besuch der Klägerin in der Wohnung ihres Sohnes die sinnvolle Ausnutzung einer betrieblichen Notwendigkeit erachtet habe, sei dagegen grundsätzlich nichts einzuwenden; immerhin hätte das LSG klären müssen, welche nähere Bewandtnis es mit diesem Besuch, insbesondere unter Berücksichtigung der ebenfalls erst noch festzustellenden Familienverhältnisse des Sohnes, gehabt habe. Wenn auch eine Beziehung zwischen dem Besuch und der versicherten Tätigkeit der Klägerin insofern bestanden habe, als sie durch die Verlegung des Arbeitsbeginns gezwungen gewesen sei, diese Zwischenzeit abzuwarten, sei doch diese Beziehung gegenüber dem privaten Zweck des Besuches als rechtlich unerheblich zu bewerten.
Die Beklagte beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des SG Schleswig vom 11. Januar 1961 zurückzuweisen.
hilfsweise,
die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
Die Klägerin hat in der Sache keinen Antrag gestellt. Sie hatte lediglich die Bewilligung des Armenrechts und die Beiordnung eines Rechtsanwalts als Prozeßbevollmächtigten beantragt. Dieser Antrag ist durch Beschluß vom 22. Februar 1962 abgelehnt worden, weil die Klägerin nach dem vorgelegten behördlichen Zeugnis nicht arm im Sinne des Gesetzes ist.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes –SGG–); sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, also zulässig. Das Rechtsmittel hatte jedoch keinen Erfolg.
Die Auffassung des LSG, die Klägerin habe auf dem zum Unfall führenden Weg nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO unter Versicherungsschutz gestanden, trifft zu. Nach den. Feststellungen des angefochtenen Urteils war die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls nach ihrer Arbeitsstätte unterwegs, um dort ihre Reinmachetätigkeit aufzunehmen. Dies zieht auch die Revision nicht in Zweifel. Allerdings hatte die Klägerin diesen Weg nicht von ihrer eigenen Wohnung aus, sondern im Anschluß an einen Besuchsaufenthalt in der Wohnung ihres Sohnes von dort aus angetreten. Auf einen solchen Weg ist jedoch die Anwendbarkeit des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO nicht ausgeschlossen. Das Gesetz beschränkt den Versicherungsschutz nicht auf Wege zwischen der Wohnung des Versicherten und der Arbeitsstätte, sondern fordert lediglich, daß die Arbeitsstätte Ziel oder Ausgangspunkt des Weges ist. Freilich ist nicht jeder Weg geschützt, der nach der Arbeitsstätte führt oder von ihr aus angetreten wird; er muß vielmehr mit der Tätigkeit in dem Unternehmen in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang stehen (vgl. BSG 1, 171, 172; SozR RVO § 543 Bl. Aa 25 Nr. 32). Diesen Zusammenhang hat das LSG im vorliegenden Fall zu Recht angenommen, obwohl sich die Klägerin vor Antritt des unfallbringenden Weges ungefähr fünf Stunden in der Wohnung ihres Sohnes aufgehalten hatte und diese Wohnung, von der Arbeitsstätte aus gesehen, in entgegengesetzter Richtung zu der eigenen Wohnung der Klägerin lag. Die Wohnung ihres Sohnes hatte sie nach den vom LSG getroffenen Feststellungen aufgesucht, weil sie ihre Reinmachetätigkeit aus betriebstechnischen Gründen ihrer Dienststelle nicht zur üblichen Zeit am Spätnachmittag aufnehmen konnte, sondern auf den Abend verschieben mußte. Ob für die Überbrückung dieser Wartezeit noch andere als betriebliche Gründe für die Klägerin bewogen haben, nicht nach Hause zu gehen, sondern sich in die Wohnung ihres Sohnes zu begeben, hat das LSG allerdings nicht näher geprüft; dazu hat es sich nicht veranlaßt gesehen, weil nicht zu erkennen sei, daß für die Klägerin beim Aufsuchen dieser Wohnung vornehmlich andere Gründe als die Überbrückung der Wartezeit ausschlaggebend gewesen seien. Hierin liegt entgegen der Ansicht der Revision kein Mangel der für die rechtliche Beurteilung des Falles notwendigen Sachaufklärung. Nach dem gesamten Vorbringen der Revision ist kein ausreichender Anhalt dafür gegeben, daß die Klägerin mit einer nur geringfügigen Dauer der Überstundenarbeit rechnen mußte. Die Beklagte stellt vielmehr selbst nicht in Abrede, daß in der Fahrt der Klägerin zur Wohnung ihres Sohnes eine zweckentsprechende Ausnutzung der Wartezeit lag. Demzufolge ist auch die Auffassung des LSG nicht zu beanstanden, daß die Klägerin die Wohnung ihres Sohnes als Warteplatz in sinnvoller Ausnutzung einer betriebsbedingten Gegebenheit gewählt habe und daß für die Beurteilung der streitigen Zusammenhangsfrage etwaigen mit dem Besuch gleichzeitig verbundenen privaten Zwecken keine ausschlaggebende Bedeutung beizumessen sei. Das LSG hat sich für diese Auffassung zu Recht auf die Feststellung berufen, daß die Klägerin in der Wohnung ihres Sohnes, der als Angestellter der Kieler Bezirksverwaltung der Barmer Ersatzkasse an der Überstundenarbeit beteiligt war, durch dessen Nachhausekommen ein sicheres Anzeichen für die Beendigung ihrer Arbeitsbehinderung erlangen konnte. Die Revision greift diese Feststellung nicht an; sie versucht lediglich ihre rechtliche Bedeutung dadurch zu; entkräften, daß die Klägerin trotz des Heimkommens ihres Sohnes nach der Überstundenarbeit noch mehrere Stunden mit dem Aufbrechen nach ihrer Arbeitsstätte gewartet habe. Diesem Einwand kommt nach Ansicht des erkennenden Senats kein ausschlaggebendes Gewicht zu, weil die Klägerin jedenfalls an dem Unfalltage keine bestimmte Arbeitszeit einzuhalten brauchte.
Hiernach hat das LSG den Unfall, der die Klägerin am 28. Dezember 1959 aus Anlaß ihres Weges nach der Arbeitsstätte betroffen hat, zu Recht als einen zur Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung berechtigenden Wegeunfall nach § 543 RVO angesehen.
Die Revision der Beklagten war somit unbegründet zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Unterschriften
Brackmann, Schmitt, Hunger
Fundstellen