Leitsatz (redaktionell)
Durch einen "Abweg" auf dem Heimwege von der Arbeitsstätte wird der Versicherungsschutz dann nicht unterbrochen, wenn die Abweichung einer dem mutmaßlichen Willen des Unternehmers entsprechenden Tätigkeit diente.
Normenkette
RVO § 543 Fassung: 1943-03-09
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 6. November 1959 wird aufgehoben.
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 11. Juli 1958 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Für die als Verkäuferin bei einer Konsumfiliale in Hamburg, Borsteler Chaussee, beschäftigte Klägerin verlief der Weg von der Arbeitsstätte von der Borsteler Chaussee aus durch den Rosenbrook zur Tarpenbeckstraße ; dort zweigte alsbald die Kösterstraße ab, wo die Klägerin wohnte. Am 31. Dezember 1956 verließ die Klägerin nach Arbeitsschluß gegen 18 Uhr das Konsumgeschäft und begab sich auf den Heimweg in Begleitung ihrer Kollegin Helga B (B.), die in der Kegelhofstraße wohnte; dies war ebenfalls eine Querstraße der Tarpenbeckstraße , sie zweigte jedoch erst an deren Ende ab, nach der Kreuzung mit dem Lokstedterweg - einer Hauptverkehrsstraße -. Frl. B., die sich bereits tagsüber nicht wohl gefühlt hatte und der die Klägerin deshalb schon zu Beginn des Heimweges das Schieben des Fahrrades abnahm, bat bei Erreichen der Kösterstraße die Klägerin, diese möge sie noch weiter bis nach Hause begleiten. Die Klägerin tat dies und brachte Frl. B. bis zur Abzweigung der Kegelhofstraße, wo Frl. B. erklärte, sie könne nun den Rest ihres Heimweges allein zurücklegen, da in der Kegelhofstraße keine Verkehrsgefahren drohten. Die Kolleginnen trennten sich. Frl. B. ging in ihre Wohnung und begab sich wegen ihres Unwohlseins sogleich zur Ruhe. Die Klägerin ging die Tarpenbeckstraße wieder zurück; bevor sie jedoch die Einbiegung der Kösterstraße erreichte, wurde sie beim Überschreiten des Lokstedterweges von einem Kraftwagen angefahren und erlitt einen Schädelbruch nebst Hirnverletzung.
Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch ab mit der Begründung, die Unfallstelle habe sich nicht auf dem sonst üblichen direkten Weg der Klägerin von der Arbeitsstätte zur Wohnung befunden, sondern auf dem durch die Begleitung der Kollegin B. bedingten eindeutigen Abweg. Dieser habe nicht mit der Tätigkeit im Unternehmen zusammengehangen, mithin entfalle der Versicherungsschutz für die Klägerin im Zeitpunkt des Unfalls.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, für die Folgen des Arbeitsunfalles vom 31. Dezember 1956 der Klägerin die gesetzliche Entschädigung zu gewähren: Dem Versicherungsschutz des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unterlägen auch Umwege, wenn sie mit den betrieblichen Verhältnissen in unmittelbarem Zusammenhang stünden. Die Klägerin und Frl. B. seien seit etwa drei Jahren Arbeitskolleginnen im gleichen Einzelhandelsgeschäft. In Auswirkung dieser kollegialen Arbeitsverbundenheit habe die Klägerin das erkrankte Frl. B. begleitet. Die Klägerin habe auch gewußt, daß der Filialleiter T (T.) für erkrankte Betriebsangehörige sorgte und sie erforderlichenfalls durch Kollegen nach Hause begleiten ließ. Am Unfalltage habe T. eine solche Anordnung für Frl. B. wohl nur deshalb unterlassen, weil er sich nicht in deren private Verhältnisse einmischen wollte. Es sei anzunehmen, daß die Klägerin mit der Übernahme der Begleitung für die erkrankte Kollegin nicht bloß aus allgemein kollegialen Gründen gehandelt, sondern auch gleichsam die betriebliche Fürsorge an Stelle des Filialleiters - wenn auch ohne dessen ausdrücklichen Auftrag - ausgeübt habe. Deshalb hänge der auf dem Rückweg von dieser Fürsorgetätigkeit eingetretene Verkehrsunfall der Klägerin mit den betrieblichen Verhältnissen zusammen.
Im Berufungsverfahren sind u. a. Frl. B. und der Filialleiter T. erneut als Zeugen vernommen worden. Die ebenfalls zur Sache gehörte Klägerin hat erklärt, sie würde auch jetzt eine Kollegin, die sich nicht wohl fühlt, ohne weiteres nach Hause begleiten, und zwar sowohl im Interesse des Betriebes als auch aus rein menschlichen Erwägungen; es sei bei ihnen im Betrieb üblich, daß jeder für den anderen eintrete, wenn es nötig sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen: Da die Entfernung zwischen der Abzweigung der Kösterstraße und der Abzweigung der Kegelhofstraße etwa 480 m betrage, sei der von der Klägerin am Unfalltag eingeschlagene Umweg als erheblich anzusehen. Die Auffassung der Klägerin, der Versicherungsschutz sei hierdurch nicht unterbrochen worden, da sie den Umweg nicht aus persönlichen Gründen gemacht habe, sondern um mit der Hilfeleistung für eine Kollegin zugleich das betriebliche Interesse zu wahren, träfe zu, wenn es sich infolgedessen nicht um einen Umweg, sondern um einen Betriebsweg gehandelt hätte. Dies sei jedoch nicht der Fall.
Der Filialleiter T. habe bekundet, er würde selbst für die Begleitung der Zeugin B. gesorgt haben, wenn diese ihn hierum gebeten hätte. Da nun Frl. B. nicht ihren Vorgesetzten T., sondern die Klägerin um die Begleitung nach Hause gebeten habe, sei zu prüfen, ob etwa die Klägerin an Stelle von T. in Geschäftsführung ohne Auftrag gehandelt habe. Die Grundsätze dieses Rechtsinstituts (§§ 677 ff des Bürgerlichen Gesetzesbuches - BGB -) seien auch im Recht der Unfallversicherung anzuwenden, soweit sie mit diesem vereinbar seien und nicht den Versicherungsschutz über die durch das Dritte Buch der RVO gezogenen Grenzen hinaus ausdehnten. Im Unfallversicherungsrecht könne daher eine Geschäftsführung ohne Auftrag nur dann anerkannt werden, wenn die Übernahme des Geschäfts dem Geschäftsherrn objektiv nützlich sei (§ 683 Satz 1 BGB); auf die subjektive Überzeugung des Geschäftsführenden von der Nützlichkeit seines Tuns komme es nicht an.
Die Beweisaufnahme habe ergeben, daß der betriebliche Zusammenhalt unter den in der Konsumfiliale Beschäftigten ua dadurch gepflegt worden sei, daß eine Arbeitskollegin die andere nach Hause begleitete, wenn diese wegen Unwohlseins darum bat. Die Klägerin habe also mit der Begleitung des Frl. B. auch dem Bedürfnis einer Förderung des betrieblichen Zusammenhalts zu entsprechen geglaubt. Eine solche Förderung des "Betriebsklimas" genüge aber nicht, um einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit herzustellen. Das allgemeine Interesse des Unternehmens an der Gesundheit und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten sei zwar ua auch darauf gerichtet, das ungefährdete Nachhausegelangen eines Betriebsangehörigen zu ermöglichen, der aus nicht ernstlicher Ursache nicht ganz im Vollbesitz seiner Kräfte sei; ähnliche betriebliche Interessen bestünden aber auch an zahlreichen anderen Verrichtungen im Rahmen des unversicherten persönlichen Lebensbereichs der Beschäftigten; auf Tätigkeiten zur Wahrung solcher - mit der unmittelbaren Betriebssphäre nur lose verknüpften - Interessen könne sich aber der Versicherungsschutz nicht mehr erstrecken (BSG 9, 222, 226). Insoweit dürfe auch die Erwägung des SG, die Klägerin habe in Wahrnehmung einer betrieblichen Fürsorgepflicht gehandelt, nicht beliebig weit ausgedehnt werden.
Die Rechtslage wäre nur dann günstiger für die Klägerin, wenn die Begleitung der Kollegin B. wesentlich betrieblichen Belangen gedient hätte, etwa, weil ein schwerer Krankheitsfall vorlag oder der Filialleiter die Klägerin ausdrücklich angewiesen hätte. Bei Frl. B. habe es sich indessen nur um das normale Frauenunwohlsein gehandelt; dieser Zustand erfordere, wie auch der Zeuge T. richtig angenommen habe, üblicherweise nicht, daß der Unternehmer für eine Begleitung auf dem Nachhauseweg sorge. Dafür, daß Frl. B. nicht an außergewöhnlichen Beschwerden gelitten habe, spreche auch der Umstand, daß sie sich an der Abzweigung der Kegelhofstraße imstande gefühlt habe, den Rest ihres Weges allein zurückzulegen.
Da die Klägerin immerhin aus Gründen der Betriebsverbundenheit sich zu dem Umweg bewogen gefühlt habe, bedeute dieser nicht die Beendigung, sondern nur eine Unterbrechung des Versicherungsschutzes (SozR RVO § 543 Bl. Aa Nr. 7). Für einen Unfall, welcher der Klägerin erst nach Erreichen der Kösterstraße zugestoßen wäre, könnte sie also Entschädigung beanspruchen. Der streitige Unfall habe sich jedoch an einer Stelle ereignet, wo die durch den Umweg herbeigeführte Unterbrechung des Versicherungsschutzes noch bestanden habe.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 17. Dezember 1959 zugestellte Urteil hat die Klägerin am 15. Januar 1960 Revision eingelegt und sie am 13. Februar 1960 wie folgt begründet: Das LSG habe bei der Anwendung der Begriffe "Geschäftsführung ohne Auftrag" und "betriebliches Interesse" eine irrige Rechtsauffassung vertreten. Da eine Begleitung des erkrankten Frl. B. durchaus erforderlich gewesen sei und der Filialleiter T. diese Begleitung notfalls auch selbst übernommen hätte, dürfe der Umstand, daß die Klägerin wegen des guten Betriebsklimas ohne direkten Auftrag handelte, ihr nicht zum Nachteil gereichen. Das vom LSG für Fälle dieser Art aufgestellte Erfordernis einer ernstlichen Erkrankung des zu Begleitenden sei eine ungerechtfertigte Einschränkung des Versicherungsschutzes. Der zum Unfall führende Umweg der Klägerin habe nicht sog. eigenwirtschaftlichen, sondern betriebsbezogenen Zwecken gedient. Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des LSG-Urteils die Berufung gegen das Urteil des SG zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie pflichtet dem angefochtenen Urteil bei und meint, dieses stehe mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) in Einklang.
II
Die Revision ist statthaft durch Zulassung gemäß § 162 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Sie ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, daher zulässig. Sie hatte auch Erfolg.
Die Klägerin hat ihren, dem Versicherungsschutz nach § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO unterliegenden Heimweg von der Arbeitsstätte beim Erreichen der Kösterstraße dadurch verlängert, daß sie mit der Kollegin B. in der Tarpenbeckstraße bis zur Abzweigung der Kegelhofstraße weiterging, um von dort aus wieder zum Ausgangspunkt zurückzukehren. Im Verlauf dieses, dem eigentlichen Heimweg hinzugefügten Wegestückes hat sie den Unfall erlitten. Da sich die Klägerin auf dieser zusätzlichen Strecke dem endgültigen Ziel des Heimweges - ihrer Wohnung in der Kösterstraße - nicht genähert, sondern im Gegenteil wieder von ihm entfernt hatte, geht es nicht an, hierfür den von den Vorinstanzen angeführten Begriff des "Umweges" heranzuziehen (vgl. RVO EuM 23, 168; SozR RVO § 543 Bl. Aa 8 Nr. 12, Aa 17 Nr. 23). In Fällen dieser Art bewirkt das Abweichen von der als Heimweg in Betracht kommenden Strecke in der Regel eine Unterbrechung des Weges im Sinne des § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO, ohne daß es noch einer Prüfung bedarf, ob die zusätzlich zurückgelegte Strecke im Verhältnis zum Ausmaß des eigentlichen Heimweges nur als unbedeutend anzusehen ist. Wie das LSG sonach im Ergebnis zutreffend angenommen hat, wäre der Versicherungsschutz aus § 543 Abs. 1 Satz 1 RVO für die Klägerin erst dann wieder aufgelebt, wenn sie nach der Trennung von ihrer Kollegin und dem Rückweg durch die Tarpenbeckstraße wieder die Einmündung der Kösterstraße erreicht hätte.
Zu Unrecht hat das LSG hingegen den Versicherungsschutz für die Klägerin im Augenblick ihres Unfalls auch unter dem rechtlichen Gesichtspunkt eines Betriebsweges (§ 542 Abs. 1 RVO) verneint. Das LSG wäre, wie den Gründen seiner Entscheidung zu entnehmen ist, geneigt gewesen, der Klägerin den Versicherungsschutz zuzubilligen, wenn etwa bei der nach Hause gebrachten Arbeitskollegin ein schwerer ernstlicher Krankheitsfall vorgelegen hätte, der eine Begleitung gebieterisch erforderlich machte, oder wenn der Filialleiter der Klägerin eine entsprechende Weisung gegeben hätte. Diese Betrachtungsweise ist zu eng und wird den Besonderheiten des hier zu beurteilenden Sachverhalts nicht gerecht. Zu der Frage, wie der "mutmaßliche Wille" des Unternehmers zu erschließen ist, hat der erkennende Senat (BSG 5, 168, 172) - ohne übrigens hierbei auf das bürgerliche Recht (§§ 677 ff BGB) zurückgreifen zu müssen - hervorgehoben, daß ein moderner Unternehmer sich nicht um alle Einzelheiten seines Betriebes selbst kümmern kann, sondern auf die Eigeninitiative seiner Mitarbeiter angewiesen ist. Hiervon ausgehend ist aus den tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils zu folgern, daß die Klägerin die Begleitung ihrer Kollegin B. in der berechtigten Überzeugung auf sich genommen hat, mit dieser Hilfeleistung wesentliche betriebliche Belange zu fördern. Denn aus dem vom LSG festgestellten Sachverhalt geht hervor, daß in dem Unternehmen, in dem die Klägerin beschäftigt war, Wert darauf gelegt wurde, solche Betriebsangehörige, die sich gesundheitlich nicht auf der Höhe fühlten, sicher nach Hause zu bringen; wie der Zeuge T. hierzu des näheren angegeben hat, geschah dies meist aus eigener Initiative der Verkäuferinnen, die sich untereinander halfen, während er als Filialleiter persönlich nur eingriff, wenn diese Selbsthilfe nicht ausreichte. Das Handeln der Klägerin entsprach somit, auch ohne daß vor dem Verlassen des Geschäfts an dem fraglichen Abend mit T. hierüber gesprochen worden wäre, dem mutmaßlichen Willen des den Unternehmer repräsentierenden Filialleiters, der bei seiner Vernehmung ausdrücklich erklärt hat, er wisse, daß er sich auf die Bereitschaft seiner Angestellten zur gegenseitigen Hilfe verlassen könne. Unter diesen Umständen hätte eine Weigerung, die Kollegin B. nach Haus zu bringen, der Klägerin mit gutem Grund nicht bloß als persönliche Ungefälligkeit, sondern als ein betriebsfeindliches, dem vom Betrieb geförderten kollegialen Zusammenhalt zuwiderlaufendes Verhalten erscheinen müssen.
Dem Umstand, daß Frl. B. an dem betreffenden Abend nicht schwer krank, sondern nur unpässlich war und schon vor dem Erreichen ihrer Wohnung allein weitergehen konnte, hat das LSG nach Meinung des Senats eine übersteigerte Bedeutung beigemessen. Auch hat es dabei außer acht gelassen, daß im Großstadtverkehr - der Heimweg der Zeugin B. kreuzte nach den Feststellungen des LSG eine Hauptverkehrsstraße - andere Maßstäbe an die Notwendigkeit einer Begleitung zu legen sind als etwa auf dem Lande oder in ruhigen Wohnvierteln. Auf jeden Fall war im Nachhausebringen der Kollegin unter den hier gegebenen Verhältnissen nicht nur ein Verhalten zu erblicken, welches lediglich der Bequemlichkeit der Begleiteten diente (vgl. SozR RVO § 543 Bl. Aa 26 Nr. 33), sondern es hatte eine weitaus stärker betriebsbezogene Bedeutung. Neben der Fürsorge für die Kollegin, die wegen Unwohlseins die Begleitung ausdrücklich erbeten hatte und deren Leidenszustand von der Klägerin ja nur ungefähr beurteilt werden konnte, sind sonstige Beweggründe, welche die Klägerin zur Abweichung von ihrem üblichen Heimweg veranlaßt haben könnten - insbesondere solche rein privater Art, wie etwa die Fortsetzung in Gang befindlicher Gespräche oder dergleichen - in keiner Weise ersichtlich. Die vom LSG vertretene Auffassung, im Unfallzeitpunkt habe für die Klägerin kein Versicherungsschutz bestanden, läßt sich somit auf Grund der getroffenen Feststellungen nicht rechtfertigen.
Auf die hiernach begründete Revision mußte das angefochtene Urteil aufgehoben werden. Die Berufung der Beklagten gegen das im Ergebnis zutreffende Urteil des SG war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen