Leitsatz (redaktionell)

1. Nach dem Gesetz wird Hilflosigkeit nur bei Blinden (BVG § 35 Abs 1 S 3) und bei erwerbsunfähigen Hirnverletzten (BVG § 35 Abs 1 S 4) - unwiderlegbar - vermutet, dh nur insoweit ist Pflegezulage ohne Prüfung der Hilflosigkeit zu gewähren, nicht aber bei Doppelamputierten.

2. BVGVwV § 35 Nr 8 Abs 1 stellt keine gesetzliche Grundlage für einen Anspruch auf Pflegezulage dar. Der Wortlaut der VV ("im allgemeinen") und ihr Sinn zwingen die Verwaltung nicht, jedem Doppelunterschenkelamputierten ohne Prüfung der Hilflosigkeit Pflegezulage zu gewähren; er schließt die Notwendigkeit der Prüfung nicht aus, wenn sie im Einzelfall nach Lage der Verhältnisse zweckmäßig erscheint.

Es kann dahingestellt bleiben, ob Versorgungsbehörden aufgrund der BVGVwV § 35 Nr 8 Abs 1 Doppelunterschenkelamputierten "stets" ohne Prüfung der Hilflosigkeit Pflegezulage gewährt haben; dies würde nicht dem Gesetz entsprechen.

Eine mehrjährige Verwaltungspraxis dieser Art würde weder ein Gewohnheitsrecht geschaffen haben noch würde sie im Falle der Versagung der Pflegezulage an einen Beschädigten, der nicht hilflos ist, die Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz des GG Art 3 rechtfertigen.

 

Orientierungssatz

Zur Frage der Gewährung von Pflegezulage an Doppelamputierte.

 

Normenkette

BVG § 35 Abs. 1 S. 3 Fassung: 1966-12-28, S. 4 Fassung: 1966-12-28; GG Art. 3; BVGVwV § 35 Nr. 8 Abs. 1 Fassung: 1965-01-23

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 29. Mai 1968 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Kläger erhält wegen "Amputation des linken Vorfußes im Chopart'schen Gelenk, Amputation des rechten Unterschenkels" als Schädigungsfolgen eine Versorgungsrente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100 v.H. und einen Berufsschadensausgleich.

Im Juli 1962 beantragte der Kläger, ihm eine Pflegezulage zu gewähren. Das Versorgungsamt M lehnte den Antrag mit Bescheid vom 10. Januar 1963 ab, weil der Kläger nicht hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) sei. Der Widerspruch blieb erfolglos (Bescheid vom 10.1.1964).

Das Sozialgericht (SG) München verurteilte den Beklagten, dem Kläger ab 1. Juli 1962 Pflegezulage nach der Stufe I zu gewähren (Urteil vom 19.4.1966). Es führte aus, es könne dahingestellt bleiben, ob der Kläger hilflos sei im Sinne des § 35 Abs. 1 BVG; in den jedenfalls für die Versorgungsbehörden rechtsverbindlichen Verwaltungsvorschriften Nr. 8 zu § 35 BVG heiße es, daß bei Doppelamputierten im allgemeinen eine Pflegezulage der Stufe I angemessen sei; der Kläger sei nach den medizinischen Erhebungen einem Doppelamputierten gleichzustellen; es sei daher ein "Ermessensverstoß", ihm die Pflegezulage zu versagen.

Auf die Berufung des Beklagten hob das Bayerische Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 29. Mai 1968 das Urteil des SG auf und wies die Klage ab. Es vertrat die Auffassung, das SG habe seine Entscheidung zu Unrecht auf Nr. 8 der Verwaltungsvorschrift zu § 35 BVG und auf einen "Ermessensfehlgebrauch" gestützt, ohne zu prüfen, ob der Kläger hilflos im Sinne des § 35 BVG sei. Dies sei nämlich nicht der Fall. Der Kläger sei zwar gehbehindert, er könne jedoch nach den medizinischen Erhebungen und auch nach seinem eigenen Vorbringen, die gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens allein vornehmen. Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Pflegezulage seien daher nicht erfüllt. Das LSG ließ die Revision zu.

Der Kläger legte fristgemäß und formgerecht Revision ein. Er beantragt,

das Urteil des Bayerischen LSG vom 29. Mai 1968 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG München vom 19. April 1966 zurückzuweisen.

Der Kläger rügt,

das LSG habe § 35 BVG (in Verbindung mit der hierzu ergangenen Verwaltungsvorschrift Nr. 8) verletzt; es habe ihm auf Grund der VV Nr. 8 zu § 35 BVG "ohne Anwendung des Begriffs der Hilflosigkeit" die Pflegezulage zusprechen müssen.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten erklärten sich mit einem Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden (§§ 124 Abs. 2; 153 Abs. 1, 165 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).

Die Revision des Klägers ist zulässig (§§ 162 Abs. 1 Nr. 1, 164, 166 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.

Streitig ist, ob dem Kläger (ab 1.7.1962) eine Pflegezulage zusteht. Das LSG hat dies zu Recht verneint.

Das LSG hat in tatsächlicher Hinsicht festgestellt, der Kläger sei aus ärztlicher Sicht einem Doppelunterschenkelamputierten gleichzustellen, obwohl er keinen Doppelgliedverlust erlitten habe; er sei zwar gehbehindert, er könne aber die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens ohne fremde Hilfe vornehmen, dies sei ihm auch ohne Aufwendung außergewöhnlicher Energie und ohne unzumutbare Anstrengungen möglich; der Kläger sei daher nicht hilflos i.S. des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG. Gegen diese Feststellungen des LSG sind keine Verfahrensrügen erhoben; sie sind daher für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG).

Der Beklagte hat danach zu Recht die Auffassung vertreten, dem Kläger stehe keine Pflegezulage zu, weil er nicht hilflos im Sinne des § 35 Abs. 1 Satz 1 BVG sei. Der Beklagte ist auf Grund der von ihm vorgenommenen Prüfung zu dem Ergebnis gekommen, daß Hilflosigkeit des Klägers nicht vorliege; er hat daher die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Anspruch auf Pflegezulage verneinen müssen. Unter diesen Umständen war kein Raum für eine Ermessensentscheidung der Verwaltung darüber, ob dem Kläger eine Pflegezulage dennoch zu gewähren ist oder nicht. Die Versagung der Pflegezulage kann nicht auf einem "Ermessensfehlgebrauch" der Verwaltung beruhen, weil das Gesetz die Gewährung einer Pflegezulage an den Kläger überhaupt nicht zuläßt. Der Kläger kann sich nicht mit Erfolg auf Nr. 8 Abs. 1 der Verwaltungsvorschriften zu § 35 BVG berufen, wonach "bei Doppelamputierten ohne weitere Gesundheitsstörung im allgemeinen die einfache Pflegezulage angemessen ist". Diese Vorschrift stellt keine gesetzliche Grundlage für einen Anspruch auf Pflegezulage dar. Nach dem Gesetz wird Hilflosigkeit nur bei Blinden (§ 35 Abs. 1 Satz 3 BVG) und bei erwerbsunfähigen Hirnverletzten (§ 35 Abs. 1 Satz 4 BVG) - unwiderlegbar - vermutet, d.h. nur insoweit ist Pflegezulage ohne Prüfung der Hilflosigkeit zu gewähren, nicht aber bei Doppelamputierten.

Sicher ist zwar bei vielen Doppelamputierten Hilflosigkeit gegeben, es ist dies aber - wie gerade die hier vom LSG getroffenen Feststellungen beweisen jedenfalls bei Doppelunterschenkelamputierten oder Beschädigten mit körperlichen Behinderungen, die denen eines Doppelunterschenkelamputierten vergleichbar sind - nicht allgemein der Fall. Der Wortlaut der Verwaltungsvorschrift Nr. 8 Abs. 1 zu § 35 BVG ("im allgemeinen") und ihr Sinn zwingen übrigens die Verwaltung auch nicht, jeden Doppelunterschenkelamputierten ohne Prüfung der Hilflosigkeit Pflegezulage zu gewähren; "er schließt die Notwendigkeit der Prüfung nicht aus, wenn sie im Einzelfall nach Lage der Verhältnisse zweckmäßig erscheint" (Wilke, Komm. zum BVG, 3. Aufl., Anm. VII zu § 35 BVG, S. 334). Es kann dahingestellt bleiben, ob Versorgungsbehörden auf Grund der Verwaltungsvorschrift Nr. 8 Abs. 1 Doppelunterschenkelamputierte "stets" ohne Prüfung der Hilflosigkeit Pflegezulage gewährt haben; dies würde nicht dem Gesetz entsprechen. Eine mehrjährige Verwaltungspraxis dieser Art würde weder ein Gewohnheitsrecht geschaffen haben noch würde sie im Falle der Versagung der Pflegezulage an einen Beschädigten, der nicht hilflos ist, die Berufung auf den Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 des Grundgesetzes rechtfertigen können (vgl. auch Urt. des BSG vom 30.9.1966, Soz R Nr. 18 zu § 35 BVG; BSG 15, 10; Urt. des BSG vom 8.12.1960 - 8 RV 153/59 -).

Das LSG hat danach die Rechtslage zutreffend beurteilt.

Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs. 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI2284989

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