Orientierungssatz
Zur Frage, wann bei einem ledigen Teilnehmer einer Fortbildungsmaßnahme eine auswärtige Unterbringung iS des AFG § 45 erforderlich ist.
Normenkette
AFG § 45 Fassung: 1969-06-25; AFuU § 16 Fassung: 1969-12-18; AFuU 1969 § 16 Fassung: 1969-12-18
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Entscheidung vom 05.06.1973; Aktenzeichen L 7 Ar 4/73) |
SG Oldenburg (Entscheidung vom 08.12.1972; Aktenzeichen S 4 Ar 58/71) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 5. Juni 1973 aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger Kosten für Unterkunft und Verpflegung während seines Besuchs der Technikerschule W zu erstatten.
Der 1948 geborene Kläger verpflichtete sich vom 3. April 1966 bis zum 3. April 1970 als Soldat auf Zeit. Seinen Eltern, die in R ein Eigenheim gebaut hatten, zahlte er eine "Wohngeldentschädigung" in Höhe von 100,- DM monatlich, wofür die Eltern ihm ein möbliertes Zimmer freihielten. Der Kläger nahm während seiner Dienstzeit an Lehrgängen teil, die ihm eine Ausbildung als Rundfunk- und Fernsehmechaniker vermittelten. Er legte am 9. Dezember 1969 seine Gesellenprüfung als Radio- und Fernsehmechaniker ab.
Nach seiner Entlassung aus der Bundeswehr (3. April 1970) besuchte er (ab 6. April 1970) die Technikerschule W - Abt. Elektrotechnik/Maschinenbau -. Die Beklagte lehnte zunächst die Gewährung von Unterhaltsgeld ab, bewilligte es jedoch mit Bescheid vom 2. Oktober 1970 rückwirkend ab 6. April 1970.
Am 27. August 1971 heiratete der Kläger. Seine Ausbildung in W schloß er am 30. September 1971 ab. Er verzog am 1. Oktober 1971 nach Dachau.
Seinen Antrag, ihm neben dem Unterhaltsgeld Beträge für Unterkunft und Verpflegung zu zahlen, lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 1. März 1971, Widerspruchsbescheid vom 9. August 1971).
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 8. Dezember 1972 die Beklagte verurteilt, dem Kläger vom 6. April 1970 bis 27. August 1971 (Zeitpunkt seiner Eheschließung) die gesetzlich vorgesehenen Beträge für Unterkunft, Verpflegung und monatliche Heimfahrten zu gewähren.
Das Landessozialgericht (LSG) hat (Urteil vom 5. Juni 1973) das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Es hat ausgeführt:
Nach § 45 des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) trage die Beklagte nur die notwendigen Kosten der Fortbildungsmaßnahme. Gemäß § 39 AFG bestimme die Bundesanstalt durch Anordnungen das Nähere über Voraussetzungen, Art und Umfang der Förderung. Nach § 16 der Anordnung des Verwaltungsrates der Beklagten über die individuelle Förderung der beruflichen Fortbildung und Umschulung (AFuU) vom 18. Dezember 1969 sei die Erstattung von Unterkunfts- und Verpflegungsmehrkosten nur zulässig, wenn die auswärtige Unterbringung notwendig sei. Das sei hier nicht der Fall. Im Falle eines Umzuges entfielen besondere Kosten für eine zweite Haushaltsführung.
Da Fortbildungsmaßnahmen von der Bundesanstalt im allgemeinen nur gefördert würden, wenn sie einen Zeitraum von zwei Jahren nicht überstiegen, sei es in aller Regel Teilnehmern, die Hauptmieter oder Eigentümer einer Wohnung seien, nicht zuzumuten, umzuziehen. Anders sei dies bei Teilnehmern, die ledig seien und bei ihren Eltern wohnten, ohne jedoch einen eigenen Hausstand als Hauptmieter oder Eigentümer einer Wohnung zu führen. Ihnen sei ein Umzug zuzumuten, sofern die Fortbildungsmaßnahme auf eine Dauer von drei Monaten oder länger ausgerichtet sei.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Der Kläger rügt mit seiner Revision eine Verletzung des § 45 AFG durch das LSG und bringt hierzu vor:
Es könne nicht Sinn der §§ 45 AFG, 16 AFuU 1969 sein, eine Aufgabe der familiären Zusammengehörigkeit und des familiären Zusammenlebens zu erzwingen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 5. Juni 1973 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Oldenburg vom 8. Dezember 1972 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Im übrigen wird auf das weitere Vorbringen der Beteiligten verwiesen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist zulässig und in dem Sinne begründet, daß die Sache an das LSG zurückzuverweisen ist.
Die Zulässigkeit der Berufung, eine auch bei zugelassener Revision von Amts wegen zu prüfenden Frage, hat das LSG zutreffend bejaht. Insbesondere war die Berufung nicht nach § 147 SGG ausgeschlossen. Diese Vorschrift gilt zwar, wie der Senat bereits entschieden hat, auch für die Aufgaben der Beklagten im Bereich der beruflichen Bildungsförderung (vgl. Urteile vom 16. März 1973 - 7 RAr 36/72 - insoweit in BSGE 35, 262 nicht abgedruckt und vom 21. September 1967 - 7 RAr 31/65 - Breithaupt 1968, 523). Bei einem Streit darüber, ob Erstattung von Kosten für auswärtige Unterbringung und Verpflegung nach § 45 AFG verlangt werden kann, handelt es sich jedoch nicht um eine Frage nach der Höhe einer Leistung, sondern darum, ob der Anspruch als solcher dem Grunde nach besteht. Die in § 45 AFG geregelte Kostenerstattung betrifft nämlich nicht insgesamt einen einheitlichen Anspruch, der von den einzelnen Kostengründen her nur der Höhe nach bestimmt wird; vielmehr sind hier eine Reihe einzelner Ansprüche zusammengefaßt geregelt, die sowohl gegenüber den jeweils anderen Ansprüchen im Rahmen des § 45 AFG als auch gegenüber sonstigen Ansprüchen im Rahmen der beruflichen Bildungsförderung nach dem AFG, z. B. gegenüber dem Unterhaltsgeld nach § 44 AFG, selbständigen Charakter haben (vgl. Schönefelder/Kranz/Wanka, Komm. z. AFG, Anm. 1 und 2 zu § 45 AFG).
Ob die Voraussetzungen des § 45 AFG vorliegen, läßt sich auf Grund der vom LSG bisher getroffenen Feststellungen nicht abschließend entscheiden. Nach § 45 AFG trägt die Bundesanstalt für Arbeit ganz oder teilweise die notwendigen Kosten, die durch die Fortbildungs- oder Umschulungsmaßnahme (vgl. § 47 Abs. 1 Satz 2 AFG) unmittelbar entstehen. Hierzu gehören u. a. Kosten der Unterkunft und Verpflegung, wenn die Teilnahme an einer Maßnahme auswärtige Unterbringung erfordert. Diese Vorschrift beschränkt den Erstattungsanspruch für Mehraufwand an Verpflegungs- und Unterkunftskosten aus Anlaß der Teilnahme an einer Maßnahme der beruflichen Bildung nach §§ 41, 47 AFG auf den Fall, daß die Maßnahme nicht am Wohnort des Teilnehmers stattfindet und ihm auch nicht zugemutet werden kann, den Maßnahmeort von seinem Wohnort aus durch tägliches Pendeln zu erreichen, der Besuch der Maßnahme vom bisherigen Wohnort des Teilnehmers aus folglich nicht möglich ist (vgl. zu BT-Drucks. V/4110 S. 10 zu § 44 AFG). Im Rahmen ihres Satzungsrechts nach § 39 AFG (vgl. BSGE 35, 164) hat die Beklagte lediglich für den Fall der internatsmäßigen Unterbringung am Wohnort des Teilnehmers eine Ausnahme hiervon zugelassen (vgl. § 16 Abs. 1 AFuU 1969).
Dieser für den Begriff der Auswärtigkeit i. S. von § 45 AFG und § 16 AFuU 1969 maßgebliche geographische Unterschied zwischen Wohnort und Maßnahmeort ist im Fall des Klägers gegeben, wenn er in R seinen Wohnsitz hatte und von dort den Maßnahmeort W nicht durch tägliches Pendeln erreichen konnte.
Entgegen der Meinung des LSG brauchte der Kläger, wenn er in R weiter seinen Hauptwohnsitz hatte, nicht umzuziehen. Das Gesetz enthält keinen Anhalt dafür, daß der Anspruch auf Erstattung eines erhöhten Unterkunfts- und Verpflegungskostenaufwandes nach § 45 AFG von der Frage abhängen soll, ob einem Teilnehmer die Verlegung seines Wohnsitzes an den Maßnahmeort zuzumuten ist. Insbesondere kann diese Bedingung für den Erstattungsanspruch nicht aus dem Begriff der Erforderlichkeit auswärtiger Unterbringung i. S. von § 45 AFG bzw. der Notwendigkeit auswärtiger Unterbringung i. S. von § 16 Abs. 1 AFuU 1969 hergeleitet werden. Diese Regelungen betreffen - wie schon ausgeführt - lediglich die Frage, ob Wohnort des Teilnehmers und Maßnahmeort identisch sind bzw. ob der Teilnehmer von seinem beibehaltenen bisherigen Wohnort aus den "auswärtigen" Maßnahmeort - ggf. im Pendelverkehr - erreichen kann oder nicht. Diese sich auf den erklärten Willen des Gesetzgebers stützende Auslegung rechtfertigt sich auch deshalb, weil es sich bei der Wahl des Wohnsitzes um eine höchstpersönliche Entscheidung handelt, die von einer Vielzahl oft unwägbarer Gründe abhängig ist. Ein Eingriff in eine solche höchstpersönliche Entscheidung wird vom AFG nicht gefordert und wäre auch nicht gerechtfertigt. Sie besitzt im übrigen mit der stets nur eine vorübergehende Situation betreffenden Maßnahme der beruflichen Bildung keinen inneren Zusammenhang. Infolgedessen erfordert es auch der Sachzusammenhang nicht, die Frage der Erforderlichkeit bzw. Notwendigkeit auswärtiger Unterbringung in diesen Fällen von dem Ergebnis der Prüfung abhängig zu machen, ob die Aufgabe des bisherigen Wohnsitzes zumutbar ist oder nicht. Eine solche Prüfung würde im übrigen zur Offenlegung bzw. Ermittlung privater Verhältnisse zwingen, also eine weitere Anspruchsvoraussetzung bezüglich der Person des Bildungswilligen begründen, die über das hinausgeht, was insoweit in den §§ 36, 42 AFG geregelt worden ist. Ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung ist daher die Bundesanstalt für Arbeit im Rahmen ihres Auftrages zur individuellen Förderung der beruflichen Bildung nicht befugt, die Erforschung dieser Einzelheiten aus der Privatsphäre des Antragstellers vorzunehmen.
Maßgebend für die hier anzustellende Betrachtung ist es, wo der Teilnehmer an einer Bildungsmaßnahme im Zeitpunkt ihres Beginns den Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse hat. Dies gilt auch für den ledigen Teilnehmer an einer Bildungsmaßnahme bei der Entscheidung über die Erforderlichkeit der auswärtigen Unterbringung i. S. von § 45 AFG. Das Gesetz enthält in bezug auf diesen Personenkreis keine Ausnahmeregelungen, ebenso nicht die AFuU 1969, so daß dahinstehen kann, ob eine entsprechende anderweitige Anordnungsregelung ermächtigungskonform wäre (§ 39 AFG). Regelungen der Beklagten in Dienstanweisungen bedürfen in diesem Zusammenhang keiner Prüfung, denn sie haben keine die Gerichte bindende Wirkung. Zur Vermeidung von Mißbräuchen bleibt der Beklagten die Möglichkeit, im Rahmen ihres Anordnungsrechts für besondere Gruppen von Fällen sachgerechte Sonderregelungen zu treffen.
Die Unterhaltung eines Wohnsitzes für die Dauer der Maßnahme am Maßnahmeort kann allerdings nur dann "auswärtige Unterbringung" i. S. von § 45 AFG sein, wenn der Wohnsitz des Teilnehmers an einem anderen Ort weiterhin der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse geblieben ist. Dies ist nach den Umständen des Einzelfalles zu beurteilen und läßt sich in der Regel nach der stärkeren und dauerhafteren Bedeutung des Wohnort-Wohnsitzes im Verhältnis zu der nur vorübergehenden Unterkunft am Maßnahme-Wohnsitz bestimmen (vgl. auch BSGE 2, 78; 5, 165; 35, 32; 37, 98 mit weiteren Nachweisen). Im Falle des Klägers kann nicht abschließend entschieden werden, ob der Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse in R lag oder sich nach W verlagert hatte. Die Feststellungen des LSG reichen hierfür nicht aus.
Bei einem Erwachsenen, der sich bereits seit mehreren Jahren außerhalb des elterlichen Hauses aufhält, ist zwar grundsätzlich davon auszugehen, daß er sich aus der elterlichen Hausgemeinschaft gelöst und einen neuen Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse gefunden hat. Das gilt insbesondere, wenn er außerhalb des Wohnortes seiner Eltern Arbeit und Verdienst gefunden hat. Eine andere Beurteilung ist jedoch geboten, wenn besondere Umstände vorliegen, die deutlich erkennen lassen, daß der elterliche Haushalt nach wie vor stärkere Bedeutung für die Lebensgestaltung hat. Dafür genügt es nicht, daß der Kläger in der Regel seine freien Tage (Wochenenden, Feiertage) im elterlichen Haus verbringt, weil regelmäßige Besuche, auch wenn sie häufig erfolgen, noch nichts darüber aussagen, wo der Schwerpunkt für die Lebensgestaltung liegt. Hinzu kommen müssen weitere Anhaltspunkte, die erkennen lassen, daß der Wohnsitz bei den Eltern für den Kläger der eigentliche Mittelpunkt seines Lebens ist, wie z. B. das Vorhandensein eigener Räumlichkeiten, in denen sich der überwiegende Teil des Hausrats und der den Freizeitinteressen dienenden Gegenstände befinden, besondere Aufgaben oder sonst starke soziale Bindungen.
Ergeben die notwendigen Ermittlungen des LSG, daß R für den Kläger weiterhin Mittelpunkt seiner Lebensverhältnisse war, so wird das LSG sich weiter zu der Frage zu äußern haben, ob der Kläger nicht in der Lage war, von seinem Elternhaus täglich zum Unterricht zu fahren.
Feststellungen sind schließlich auch noch darüber erforderlich, ob die Maßnahme für den Kläger der einzige Grund war, in W zu wohnen. Sollte dies der Fall sein, so ist die Maßnahme die alleinige Ursache für die Kosten der Unterkunft und Verpflegung.
Wegen der noch erforderlichen Feststellungen, die der Senat nicht selbst treffen kann, ist die Sache zur weiteren Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Das LSG wird bei seiner abschließenden Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen