Entscheidungsstichwort (Thema)
Antrag auf eine Geldleistung, deren Beginn kalendermäßig noch nicht festzustellen ist
Leitsatz (redaktionell)
Der Antrag auf eine Geldleistung, deren Beginn kalendermäßig noch nicht festzustellen ist (weil der Grund dafür eine Leidensverschlimmerung oder eine Gesetzesänderung sein kann), setzt nicht die für den Verzinsungsbeginn maßgebende Frist von sechs Monaten in Lauf.
Tatbestand
I
Die Klägerin setzt den Rechtsstreit ihres während des Revisionsverfahrens verstorbenen Ehemannes O. K. (K.) fort. Sie begehrt für die Zeit vom 1. September 1984 bis 31. Januar 1985 eine Verzinsung der Versorgungsbezüge in Höhe von 6.608,-- DM, die ihrem Ehemann im Februar 1985 für die Zeit ab 1. August 1984 nachgezahlt wurden. Auf seinen Antrag vom August 1983, den er mit einer Verschlimmerung seiner Schädigungsfolgen i.S. des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) begründete, gewährte ihm das Versorgungsamt eine Pflegezulage der Stufe II und eine Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe III statt der Stufe I und während des anschließenden Rechtsstreits durch außergerichtlichen Vergleich (schriftliches Angebot des Beklagten vom 22. Oktober 1984, schriftliche Annahme- und Erledigungserklärung des Klägers vom 7. November 1984, Ausführungsbescheid vom 15. Januar 1985) außer einer Ausgleichsrente ab 1. August 1984 die Pflegezulage der Stufe III und die Schwerstbeschädigtenzulage der Stufe VI. Das Versorgungsamt lehnte eine Verzinsung des Nachzahlungsbetrages ab (Bescheid vom 24. April 1985). Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 30. Januar 1986). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 12. April 1989). Nach der Auffassung des Berufungsgerichts bestimmt in diesem Fall, abweichend vom Ablauf eines Monats nach der Fälligkeit (§ 44 Abs. 1 Sozialgesetzbuch Allgemeiner Teil -SGB I-), gemäß § 44 Abs. 2 SGB I den frühesten Beginn der Verzinsung der Ablauf von sechs Monaten nach einem "vollständigen Antrag". Dieser könne erst von dem Zeitpunkt ab als gestellt angesehen werden, in dem die Leistung objektiv festgestellt und die Fälligkeit erkannt werden kann, d.h. im Fall des Klägers beginnend mit dem Anspruch auf höhere Versorgungsbezüge (1. August 1984).
Die Klägerin vertritt mit der - vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassenen - Revision die Auffassung, der Antrag ihres Ehemannes sei bereits mit dem Eingang bei der Verwaltung "vollständig" in dem Sinn gewesen, daß der Versorgungsberechtigte seine Mitwirkungspflicht erfüllt habe. Alles andere falle in den Aufgabenbereich der Verwaltung, die den Sachverhalt von Amts wegen aufzuklären habe. Hier hätten der Versorgungsverwaltung schon im Verwaltungsverfahren alle rechtserheblichen Erkenntnismittel zur Verfügung gestanden.
Die Klägerin beantragt,
|
das Urteil des LSG zu ändern und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des SG zurückzuweisen. |
|
Der Beklagte beantragt,
|
die Revision zurückzuweisen. |
|
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision ist nur teilweise erfolgreich. Abweichend vom Ablehnungsbescheid des Beklagten und vom Berufungsurteil kann die Klägerin wohl eine Verzinsung des Nachzahlungsanspruches verlangen, aber entgegen der Rechtsansicht des SG bloß für Januar 1985.
Der Zinsanspruch ist durch den außergerichtlichen Vergleich über höhere Versorgungsleistungen infolge tatsächlicher Veränderungen der maßgebenden Verhältnisse weder ausdrücklich noch stillschweigend ausgeschlossen worden. Die Sache braucht nicht zurückverwiesen zu werden für tatsächliche Feststellungen des LSG über den Inhalt des Vergleichs (vgl. dazu BSG SozR 1200 § 44 Nr. 14; BSG USK 86107). Bei einer typischen Fassung wie in diesem Fall, wenn sich die Beteiligten über das Eintreten der tatsächlichen Voraussetzungen für höhere Leistungen zu einem bestimmten Zeitpunkt vergleichen und wenn in dem für erledigt erklärten Rechtsstreit noch keine Verzinsung streitig war, bleibt eine spätere Entscheidung darüber offen.
Den Beginn der Verzinsung haben sowohl das SG als auch das LSG unzutreffend bestimmt. Er richtet sich nach dem zweiten Tatbestand des § 44 Abs. 2 SGB I vom 11. Dezember 1975 (BGBl. I 3015) mit der Folge, daß der Anspruch auf erhöhte Versorgungsbezüge - Pflegezulage und Schwerstbeschädigtenzulage nach höheren Stufen sowie Ausgleichsrente - allein für Januar 1985 zu verzinsen ist. Die Verzinsung endete zugleich in diesem Monat vor dem Auszahlungsmonat nach § 44 Abs. 1 SGB I.
Nach dem zweiten Tatbestand des § 44 Abs. 2 SGB I beginnt die Verzinsung beim Fehlen eines Antrags nach Ablauf eines Kalendermonats nach Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung. Der im November 1984 geschlossene Vergleich ist als Entscheidung in diesem Sinne zu beurteilen. Diese Regelung verdrängt hier sowohl diejenige des § 44 Abs. 1 SGB I, wonach die Verzinsung mit dem Ablauf eines Kalendermonats nach dem Eintritt der Fälligkeit beginnt - hier im September 1984 - als auch den ersten Tatbestand des § 44 Abs. 2 SGB I, wonach die Verzinsung frühestens nach Ablauf von sechs Monaten nach dem vollständigen Leistungsantrag beginnt - hier im Februar 1984 - als der Anspruch noch nicht fällig war, oder im Februar 1985, gerechnet ab weiterem Antrag im Fälligkeitsmonat (August 1984).
Allerdings wäre nach § 44 Abs. 1 SGB I der Nachzahlungsanspruch ab 1. September 1984 zu verzinsen, wie das SG angenommen hat; denn er war ab August 1984 mangels einer anderen besonderen Regelung mit dem Entstehen fällig. Nach § 40 Abs. 1 SGB I entsteht ein Anspruch auf eine Sozialleistung, sobald seine gesetzlich bestimmten Voraussetzungen vorliegen (dazu BSGE 34, 1, 16 ff. = SozR Nr. 24 zu § 29 Reichsversicherungsordnung -RVO-; BSGE 64, 225, 232 = SozR 6710 § 291 Nr. 2; SozR 1200 § 44 Nr. 18). Das war hier die Verschlimmerung der Schädigungsfolgen, die einen Anspruch auf die genannten höheren Leistungen begründete. Nach § 60 Abs. 1 Satz 1 BVG (hier i.d.F. vom 22. Januar 1982 - BGBl. I 21 -) beginnt die Beschädigtenversorgung mit dem Monat, in dem ihre Voraussetzungen erfüllt sind. Dies gilt nach Abs. 2 Satz 1 Halbs. 1 entsprechend, wenn eine höhere Leistung beantragt wird. Über den maßgebenden Zeitpunkt, zu dem die umstritten gewesenen tatsächlichen Voraussetzungen eintraten, hatten sich die Beteiligten durch außergerichtlichen Vergleich (§ 54 Sozialgesetzbuch Verwaltungsverfahren, - SGB X - vom 18. August 1980 - BGBl. I 1469 -) geeinigt. Diese Vereinbarung ist maßgebend für das Entstehen des Anspruchs und damit für die Fälligkeit.
Indes begann hier die Verzinsung "frühestens", d.h. abweichend von der nach § 44 Abs. 1 SGB I maßgebenden Fälligkeit, nach dem zweiten Tatbestand des § 44 Abs. 2 SGB I, mithin mit Januar 1985, nämlich "nach Ablauf eines Kalendermonats nach der Bekanntgabe der Entscheidung über die Leistung". Die einseitige "Entscheidung" der Verwaltung wurde in diesem Fall durch den Vergleich ersetzt. Dieser kam durch die Annahme des Angebots im November 1984 zustande und war dem damaligen Kläger mit der eigenen Annahmeerklärung zugleich im Sinn der genannten Vorschrift "bekanntgegeben". Dagegen enthält der Ausführungsbescheid vom Januar 1985 keine hier maßgebende Entscheidung über die Voraussetzungen und Bestimmungsgrößen des höheren Versorgungsanspruches, sondern nur eine Berechnung des Zahlbetrages. Dieser Fall ist so zu behandeln, als hätte ein Antrag gefehlt, was der zweite Tatbestand des § 44 Abs. 2 SGB I voraussetzt. In solcher Weise ist das Gesetz, abweichend vom tatsächlichen Ablauf, ebenso auszulegen, wie wenn ein nicht notwendiger Antrag, der tatsächlich gestellt wurde, den Verzinsungsbeginn anstelle einer eigentlich von Amts wegen zu treffenden Verwaltungsentscheidung bestimmen kann (BSGE 55, 238, 239 = SozR 1200 § 44 Nr. 7).
Es kommt nicht auf den "frühesten" Beginn der Verzinsung nach Ablauf von sechs Monaten an, nachdem der "vollständige Leistungsantrag beim zuständigen Leistungsträger" eingegangen ist, nach Auffassung der Klägerin beginnend sechs Monate nach dem Antrag von August 1983, nach Auffassung des LSG beginnend mit dem durch Entstehen des Anspruchs wirksam werdenden Antrags, d.h. ab August 1984. In diesem Fall endete die sechsmonatige Bearbeitungsfrist im Februar 1985, und eine Verzinsung wäre ausgeschlossen, weil in diesem Monat schon ausgezahlt wurde. Falls dagegen von der tatsächlichen Antragstellung auszugehen wäre, läge der Ablauf von sechs Monaten bereits vor dem Eintritt der Fälligkeit, und dann würde die Regelung des § 44 Abs. 1 SGB I nicht durch die erste in Absatz 2 außer kraft gesetzt, die Verzinsung also nach dem Monat der Fälligkeit einsetzen. Jedoch ist der Antrag vom August 1983 nicht rechtserheblich in jenem Sinn.
Dieser Antrag (§ 16 SGB I, § 6 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung i.d.F. des Art II § 16 SGB X) mag "vollständig" in dem Sinn gewesen sein, daß der Ehemann der Klägerin damals seiner Mitwirkungspflicht (§§ 60 bis 65 SGB I, § 21 Abs. 2 SGB X; BSGE 66, 234, 235 f. = SozR 3-1200 § 44 Nr. 1) im Verwaltungsverfahren (§ 8 SGB X) genügte, indem er auf eine Verschlimmerung hinwies, die nach seiner Auffassung höhere Leistungen rechtfertigte. Damit ermöglichte er die der Verwaltung obliegende Sachaufklärung (§ 20 Abs. 1 und 2, § 21 SGB X) ebenso wie eine Entscheidung. Vom "vollständigen" Antrag in diesem Sinn ist die Fälligkeit mit ihren Voraussetzungen (s. o.) zu unterscheiden (BSG SozR 1200 § 44 Nr. 5 und ständige Rechtsprechung). Aber wegen des Zweckes der Regelungen des § 44 Abs. 2 SGB I und der ihnen zugrundeliegenden Wertung wirkt ein "vollständiger" Antrag nicht weitergehend für den Verzinsungsbeginn, als daß er einen späteren Beginn, der nach dem zweiten Tatbestand von der Verwaltungsentscheidung abhängt, verhindern soll. Der Zeitpunkt der Entscheidung soll nicht zu Lasten des Berechtigten die Verzinsung verspätet beginnen lasen. Dabei ist für den zweiten Tatbestand die tatsächliche Bearbeitungszeit, für den ersten der Zeitraum von sechs Monaten nach dem Antrag maßgebend. Die Verspätungszinsen sollen nicht eine von der Verwaltung zu vertretende Nachlässigkeit "bestrafen". Mit Hilfe eines rechtzeitigen Antrags kann der Berechtigte die Verzinsung früher beginnen lassen. Der Antrag ist grundsätzlich als auf alle Leistungen gerichtet anzusehen, die nach dem bekannten und noch zu erforschenden Sachverhalt in Betracht kommen (BSG SozR 3100 § 31 Nr. 22). Indes ist der Antrag erschöpft, wenn ihn die Verwaltung - wie hier im Dezember 1983 - zutreffend abgelehnt hat, was nach der gemäß dem Vergleich endgültig festgestellten Sachlage feststeht. Die Verzinsung soll den Gläubiger dafür entschädigen, daß ihm eine zustehende Geldleistung zeitweilig vorenthalten wurde, und soll die zügige Befriedigung durch den Schuldner fördern (BSG SozR 1200 § 44 Nr. 13). Das setzt einen Anspruch voraus. Falls sich nachträglich die Verhältnisse ändern und der beantragte Anspruch erst entsteht, worüber neu zu entscheiden ist (§ 48 Abs. 1 Satz 1 SGB X; während des Verfahrens uU auch ohne eine strenge Bindung nach dieser Vorschrift, vgl. BSG-Urteil vom 7. November 1979 - 9 RVs 6/78 -), wirkt erst ein darauf gerichteter und für den Anspruch maßgebender Antrag (§ 60 Abs. 1 und 2 BVG), der in der fortdauernden Anfechtung gesehen werden kann, bezüglich dieses neuen Anspruches für den Verzinsungsbeginn nach dem ersten Tatbestand des § 44 Abs. 2 SGB I. Dieser begrenzten Wirkung des Antrages steht nicht entgegen, daß der Beklagte sich im Vergleich bereiterklärt hat, auf den im August 1983 gestellten Antrag neu zu entscheiden. Für die noch nicht streitige Verzinsung war dies unerheblich. Im übrigen hätte die Verwaltung die höhere Leistung auch von Amts wegen feststellen können (§ 60 Abs. 3 Satz 1 BVG). Ein neuer, erst ab August 1984 wirksamer Antrag war in diesem Fall für die Bestimmung eines früheren Verzinsungsbeginns deshalb entbehrlich, weil die Verwaltung vor Ablauf einer neuen sechsmonatigen Bearbeitungszeit entschieden hat. In einem Fall, der durch eine allmähliche Verschlimmerung der Schädigungsfolgen geprägt wird, ist der zweite Tatbestand des § 44 Abs. 2 SGB I ebenso für den Beginn der Verzinsung maßgebend, wie wenn während eines schwebenden Verfahrens erst eine Rechtsänderung den zu verzinsenden Anspruch begründet hat (BSGE 56, 1, 4 = SozR 1200 § 44 Nr. 9).
Diese beiden Fallgruppen einer nicht vorhersehbaren tatsächlichen oder rechtlichen Änderung während eines Verfahrens sind zu unterscheiden von vorzeitig gestellten Anträgen auf Leistungen, die vom späteren Eintritt eines genau bestimmbaren Alters abhängen, z.B. auf Altersruhegeld aus der Rentenversicherung.
Nach § 291 Satz 1 Halbs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) hat der Schuldner eine bürgerlich-rechtliche Geldschuld erst von der Fälligkeit ab, die während der Rechtshängigkeit eintritt, statt schon seit Beginn der Rechtshängigkeit, d.h. der Klageerhebung (§ 253 Abs. 1 Zivilprozeßordnung), nach Halbsatz 1 zu verzinsen. Diese Prozeßzinsen stehen den Verspätungszinsen des § 44 SGB I nahe. Aber für diese gelten Sonderregelungen über den "frühesten" Beginn in § 44 Abs. 2 SGB I, die auf Besonderheiten des Verwaltungsverfahrens abgestellt sind. Das rechtfertigt die Verschiebung des Verzinsungsbeginns nach Eintritt der Fälligkeit um eine weitere sechsmonatige Bearbeitungszeit.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.9a/9 RV 29/89
BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen