Entscheidungsstichwort (Thema)
Gegenstand des Berufungsverfahrens bei Rückforderungsbescheid
Leitsatz (redaktionell)
Bei einem Rückforderungsbescheid nach RVO § 1301 ist Gegenstand des Berufungsverfahrens nicht die Vorfrage, ob und für welche Zeit Rente zu Unrecht gezahlt worden ist, sondern allein der davon verschiedene einmalige Anspruch des Rentenversicherungsträgers auf Rückerstattung der zu Unrecht erbrachten Leistung. Für einen solchen Anspruch kann die Berufung nicht nach SGG § 146, sondern allenfalls nach SGG § 149 ausgeschlossen sein, wenn nämlich der Beschwerdewert die dort genannte Grenze nicht übersteigt.
Normenkette
RVO § 1301 Fassung: 1965-06-09; SGG § 146 Fassung: 1958-06-25, § 149 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Entscheidung vom 23.08.1976; Aktenzeichen L 3 J 347/75) |
SG Schleswig (Entscheidung vom 27.08.1975; Aktenzeichen S 6 J 359/74) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. August 1976 aufgehoben; der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Beklagte berechtigt ist, das dem Kläger für die Zeit vom 1. August 1974 bis zum 31. Oktober 1974 gezahlte Altersruhegeld zurückzufordern.
Der am 8. Juli 1910 geborene Kläger, der als selbständiger Schneider tätig war, beantragte am 24. Juni 1974 das Altersruhegeld nach § 1248 Abs 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) wegen Vollendung des 63. Lebensjahres. Als Zeitpunkt des Rentenbeginns bestimmte er den 1. August 1974. Im Antrag gab er an, er werde vom 1. November 1974 an eine Geschäftseinschränkung vornehmen und nur noch Einkünfte von monatlich bis zu 750,- DM haben. Die Beklagte gewährte dem Kläger mit Bescheid vom 10. Oktober 1974 das Altersruhegeld für die Zeit vom 1. August 1974 an. Im Bescheid wies sie den Kläger darauf hin, daß das Altersruhegeld mit Beginn des Monats wegfalle, in dem eine Beschäftigung oder Erwerbstätigkeit aufgenommen oder ausgeübt werde, die die in den beigefügten Erläuterungen genannte Zeitdauer oder die Entgelts- bzw Arbeitseinkommensgrenze überschreite. Der Kläger hat diesen Bescheid wegen der Rentenhöhe mit der Klage angefochten.
Nachdem der Kläger der Beklagten eine Einkommensaufstellung für die Monate August bis Oktober 1974 vorgelegt hatte, forderte diese mit Bescheid vom 14. Februar 1975 das für diese Monate gezahlte Altersruhegeld in Höhe von insgesamt 2.658,- DM zurück, weil das Einkommen des Klägers die Verdienstgrenze des § 1248 Abs 4 RVO von monatlich 750,- DM überschritten habe. Der Widerspruch des Klägers gegen diesen Bescheid hatte keinen Erfolg.
Die dagegen erhobene Klage hat das Sozialgericht (SG) mit der bereits anhängigen Klage wegen der Rentenhöhe zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Das SG hat mit Urteil vom 27. August 1975 den Bescheid der Beklagten vom 14. Februar 1975 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. Juni 1975 aufgehoben und im übrigen die Klage (wegen der Rentenhöhe) abgewiesen. Den Rückforderungsanspruch der Beklagten hat das SG mit der Begründung verneint, es lasse sich nicht feststellen, daß der Kläger wußte oder habe wissen müssen, daß ihm das Altersruhegeld für die Zeit von August bis Oktober 1974 nicht zugestanden habe.
Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 23. August 1976 die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen. Es hat die Ansicht vertreten, die Berufung sei nach § 146 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ausgeschlossen, weil sie lediglich Rente für bereits abgelaufene Zeiträume betreffe. Der Anwendung des § 146 SGG stehe nicht entgegen, daß die Beklagte mit ihren Bescheiden nicht nur die Rente für die Monate August bis Oktober 1974 versagt oder entzogen, sondern zugleich auch die gezahlten Rentenbeträge zurückgefordert habe. Zwar sei nach einer Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) für Rückerstattungsansprüche wegen zu Unrecht gezahlter Rente § 149 SGG und nicht § 146 SGG anzuwenden (BSGE 34, 29). Das treffe jedoch nur dann zu, wenn lediglich die Rückzahlungsverpflichtung des Rentenempfängers im Streit sei, wenn also die Rentenüberzahlung und damit die Unrechtmäßigkeit der Rentenleistung zwischen den Beteiligten bindend feststehe. Werde aber zugleich über den Rückforderungsanspruch des Versicherungsträgers und über die Rechtmäßigkeit der Zahlung der zurückgeforderten Leistung gestritten, so sei zwar hinsichtlich der Rückforderung auch § 149 SGG zu prüfen; jedoch seien nachrangig auch die weiteren Ausschließungsgründe der §§ 146, 148 SGG anzuwenden. Die nach § 146 SGG ausgeschlossene Berufung sei auch nicht nach § 150 SGG statthaft.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, das LSG habe die Berufung zu Unrecht als unzulässig verworfen. Bei der Rückforderung von Leistungen nach § 1301 RVO richte sich die Statthaftigkeit der Berufung nicht nach § 146 SGG, sondern nach § 149 SGG. Nach dieser Vorschrift sei die Berufung aber nicht ausgeschlossen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 23. August 1976 aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil im Ergebnis für richtig.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision der Beklagten hat insofern Erfolg, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen wird. Das LSG hat zu Unrecht die Berufung der Beklagten als unzulässig verworfen.
Die Berufung der Beklagten ist - entgegen der Ansicht des LSG - nicht nach § 146 SGG ausgeschlossen. Das Rechtsmittel betrifft nicht Rente für abgelaufene Zeiträume, sondern die Rückerstattung von Leistungen im Sinne des § 149 SGG. Der erkennende Senat hat bereits entschieden, daß der Anspruch des Versicherungsträgers gegen den Versicherten auf Rückerstattung zu Unrecht gezahlter Leistungen ein Anspruch auf eine einmalige Leistung ist (vgl SozR Nr 16 zu § 149 SGG). Die Rentenüberzahlung ist zwar Voraussetzung für die Entstehung des Rückerstattungsanspruchs, berührt aber seine Art und seinen Inhalt nicht. Die Beantwortung der Frage, ob die Berufung ausgeschlossen ist, richtet sich daher nicht nach § 146 SGG, sondern ausschließlich nach der für Rückerstattungsansprüche erlassenen Sondervorschrift des § 149 SGG. Das gilt unabhängig davon, ob die Rentenüberzahlung bereits bindend festgestellt oder noch streitig ist. Der Anspruch des Versicherten auf Rente und der Anspruch des Versicherungsträgers auf Rückerstattung bereits erbrachter Leistungen sind zwei selbständige Ansprüche, für die die Statthaftigkeit der Berufung unabhängig voneinander zu prüfen ist, sofern beide Gegenstand des Berufungsverfahrens sind. Von diesem Grundsatz gibt es zwar eine Ausnahme. Sind zwei in einer Klage zusammengefaßte Ansprüche derart voneinander abhängig, daß der eine präjudiziell für den anderen ist, so ist die Berufung für den abhängigen Anspruch trotz Vorliegens eines Berufungsausschließungsgrundes statthaft, wenn sie für den präjudiziellen Anspruch statthaft ist (vgl Urteil des erkennenden Senats in SozR Nr 14 zu § 149 SGG). Diese Ausnahme von dem Grundsatz, daß die Statthaftigkeit der Berufung für jeden der mit der Berufung geltend gemachten selbständigen Ansprüche unabhängig von dem anderen zu prüfen ist, kann nicht dazu führen, daß die Berufung für den abhängigen Anspruch ausgeschlossen ist, wenn der präjudizielle Anspruch unter einen Berufungsausschließungsgrund fällt.
Im vorliegenden Fall ist ausschließlich der Rückerstattungsanspruch der Beklagten Gegenstand des Berufungsverfahrens geworden. Wenn auch über den Rückerstattungsanspruch des Versicherungsträgers nicht ohne Prüfung der Frage entschieden werden kann, ob die zurückgeforderte Leistung zu Unrecht erbracht worden ist, so muß der Rentenanspruch des Versicherten doch nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens sein. Die Anspruchsberechtigung des Versicherten kann bei einer Entscheidung über den Rückerstattungsanspruch des Versicherungsträgers auch als Vorfrage geprüft werden, wenn lediglich dieser Rückerstattungsanspruch Gegenstand des Berufungsverfahrens ist. Das SG hat nicht über die Frage entschieden, ob dem Kläger das Altersruhegeld für die Zeit vom 1. August 1974 bis zum 31. Oktober 1974 zustand. Vielmehr hat es ausschließlich den Rückerstattungsanspruch der Beklagten verneint, weil der Kläger nach den Gesamtumständen des Falles im Sinne des § 1301 RVO nicht wußte und auch nicht wissen mußte, daß er für diese Zeit keinen Anspruch auf das Altersruhegeld hatte. Die vom SG nicht entschiedene Frage der Anspruchsberechtigung des Versicherten konnte also nicht Gegenstand des Berufungsverfahrens werden. Die Beklagte hat auch lediglich den vom SG entschiedenen Anspruch auf Rückerstattung der erbrachten Leistungen zum Gegenstand des Berufungsverfahrens gemacht, so daß die Berufung lediglich diesen Rückerstattungsanspruch der Beklagten betrifft. Die Statthaftigkeit der Berufung richtet sich daher ausschließlich nach § 149 SGG. Bei einem Beschwerdewert von 2.658,- DM ist die Berufung nach § 149 SGG nicht ausgeschlossen, so daß sie nach § 143 SGG statthaft ist. Das LSG hätte daher sachlich über den Rückerstattungsanspruch der Beklagten entscheiden müssen.
Der erkennende Senat hat die danach auf einer Gesetzesverletzung beruhende Entscheidung des LSG aufgehoben. Mangels ausreichender Tatsachenfeststellungen kann er über die zulässige Berufung der Beklagten nicht selbst materiell entscheiden, sondern hat den Rechtsstreit zur Nachholung dieser Feststellungen an das LSG zurückverwiesen. Das LSG wird nach Prüfung der Frage, ob die Beklagte den Rentenfeststellungsbescheid für die Monate Juli bis Oktober 1974 aufgehoben hat und aufheben durfte, die erforderlichen Feststellungen zu den Fragen treffen müssen, ob und in welchem Umfang die Beklagte oder der Kläger die Überzahlung verschuldet hat, ob der Kläger wußte oder wissen mußte, daß ihm die Leistung nicht oder nicht in der gewährten Höhe zustand, und ob die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers die Rückforderung vertretbar erscheinen lassen.
Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.
Fundstellen