Leitsatz (amtlich)
1. Ist entgegen den Angaben in der Zustellungsurkunde tatsächlich nicht der Person, der zugestellt werden soll, sondern einer Ersatzperson (ZPO §§ 181 ff) zugestellt worden, so ist die Zustellung jedenfalls insofern unwirksam, als die Rechtsmittelfrist nicht in Lauf gesetzt worden ist.
2. Zur Wirksamkeit einer Ersatzzustellung an die Ehefrau eines Arztes in dessen Praxisräumen.
Normenkette
ZPO § 181 Abs. 1 Fassung: 1950-09-12, § 183 Abs. 1 Fassung: 1950-09-12, § 191 Nr. 4 Fassung: 1950-09-12, § 195 Abs. 2 Fassung: 1950-09-12; VwZG § 3 Abs. 2 S. 1
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 21. Mai 1975 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Der Kläger, der als Internist zur Kassenpraxis zugelassen ist, hat die Erteilung einer zweiten Zulassung als Facharzt für Röntgenologie und Strahlenheilkunde beantragt. Nach ausdrücklicher Ablehnung dieses Antrages durch den beklagten Berufungsausschuß - der Zulassungsausschuß hatte die bisherige Zulassung des Klägers "in eine, solche als Facharzt für Röntgen- und Strahlenheilkunde ... erweitert" - hat auch das Sozialgericht (SG) die Klage mit Urteil vom 2. Oktober 1974 abgewiesen. Das Urteil ist dem Kläger laut Postzustellungsurkunde am 8. November 1974 in seiner Praxis zugestellt worden. Seine am 3. Februar 1975 beim Landessozialgericht (LSG) eingegangene Berufung, mit der er zugleich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragte, hat das LSG als unzulässig verworfen, dem Kläger Kosten wegen mutwilliger Rechtsverfolgung auferlegt und u.a. ausgeführt: Die Postzustellungsurkunde beweise, daß das Urteil dem Kläger selbst übergeben worden sei. Ob die Postbedienstete das Schriftstück an die Ehefrau des Klägers zugestellt habe, wie dieser meine, sei unerheblich. Die Zustellung wäre nicht deshalb unwirksam gewesen, weil sie entgegen dem Inhalt der Zustellungsurkunde nicht an den Kläger, sondern an dessen Ehefrau erfolgt sei, da diese kraft Gesetzes zum Empfang der Sendung berechtigt gewesen sei (Urteil vom 21. Mai 1975).
Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt und u.a. eine Verletzung des § 191 Nr. 4 iVm § 195 Abs. 2 der Zivilprozeßordnung (ZPO) und § 3 Abs. 3 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) gerügt: Das LSG habe eine Ersatzzustellung an die Ehefrau zu Unrecht auch dann für wirksam gehalten, wenn sie nicht aus der Zustellungsurkunde ersichtlich sei. Im übrigen sei die Ersatzzustellung außerhalb der Wohnung des Klägers nicht zulässig gewesen. Ihm seien auch zu Unrecht Mutwillenskosten auferlegt worden.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und den Beklagten unter Änderung seines Widerspruchsbescheides und des Bescheides des Zulassungsausschusses zu verpflichten, ihm zusätzlich zu seiner Zulassung als Internist eine zweite formelle Zulassung als Facharzt für Röntgen- und Strahlenheilkunde zu erteilen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Er hält das Begehren des Klägers auch in der Sache für unbegründet.
Die beigeladenen Landesverbände der Krankenkassen und die beigeladene Kassenärztliche Vereinigung beantragen ebenfalls, die Revision zurückzuweisen.
Alle Beteiligten haben einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf unrichtiger Anwendung der §§ 181, 191 Nr. 4, 195 Abs. 2 ZPO iVm § 63 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und § 3 Abs. 3 VwZG. Entgegen der Ansicht des LSG läßt sich noch nicht abschließend entscheiden, ob das Urteil des SG dem Kläger am 8. November 1974 wirksam zugestellt worden ist und damit seine am 3. Februar 1975 eingelegte Berufung verspätet war.
Soll das Urteil eines Sozialgerichts, wie im vorliegenden Fall geschehen, durch die Post mit Zustellungsurkunde zugestellt werden (vgl. §§ 63 Abs. 1, 135 SGG), so gelten nach § 3 Abs. 3 VwZG für das Zustellen durch den Postbediensteten die Vorschriften der §§ 180 bis 186 und 195 Abs. 2 ZPO. Nach der zuletzt genannten Vorschrift ist über die Zustellung von dem Postbediensteten eine Urkunde aufzunehmen, die den Vorschriften des § 191 Nr. 1, 3 bis 5, 7 ZPO entsprechen muß. Danach muß die Zustellungsurkunde u.a. die Bezeichnung der Person enthalten, der zugestellt worden ist, in den Fällen der §§ 181, 183, 184 ZPO außerdem die Angabe des Grundes, durch den die (Ersatz-)Zustellung an die bezeichnete Person gerechtfertigt wird (§ 191 Nr. 4 ZPO). Da hiernach bei einer Ersatzzustellung nach §§ 181, 183, 184 ZPO deren Grund in der Urkunde angegeben werden muß, aus der Urkunde also ersichtlich sein muß, warum nicht an den Zustellungsadressaten (§ 191 Nr. 3 ZPO) zugestellt worden ist (z.B. wegen dessen Abwesenheit in der Wohnung oder im Geschäftslokal) und warum der tatsächliche Zustellungsempfänger (z.B. als Hausgenosse oder Gewerbegehilfe des Adressaten) zu den im Gesetz vorgesehenen "Ersatzpersonen" gehört, so muß sich aus der Urkunde auch ergeben, daß überhaupt eine Ersatzzustellung vorgenommen worden ist. Läßt die Urkunde dies (oder den Grund der Ersatzzustellung, vgl. BSGE 15, 216, 221) nicht erkennen, dann ist die Zustellung mangelhaft und, da gegen eine zwingende Zustellungsvorschrift verstoßen worden ist, jedenfalls in dem Sinn unwirksam, daß durch sie die Frist für die Einlegung eines Rechtsmittels nicht in Lauf gesetzt wird (§ 9 Absätze 1 und 2 VwZG; vgl. auch Beschluß des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 9. November 1976 - GmS-OGB 2/75 -; nach einem Beschluß des Bundesgerichtshofes vom 13. Dezember 1955, Lindenmaier-Möhring, Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, § 181 ZPO Nr. 1, ist die Zustellung in diesem Falle schlechthin unwirksam; gleicher Ansicht die im Beschluß Genannten sowie Stein-Jonas, ZPO, 19. Aufl., § 191 Anm. I und II 4, ferner Rosenberg-Schwab, Zivilprozeßrecht, 11. Aufl., § 76 II 1 und 2, S. 385; nicht eindeutig Baumbach, ZPO, 32. Aufl., § 191 Anm. 1 und 2 D).
Die vom LSG angeführte Entscheidung des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 7. November 1963 (IV 105/61, nicht veröffentlicht, zitiert bei Kohlrust-Eimert, Das Zustellungsverfahren nach dem Verwaltungszustellungsgesetz, § 3 VwZG, Anm. 5, und Deutsches Steuerrecht 1965, 33, 35) widerspricht nicht der herrschenden, auch vom Senat vertretenen Auffassung. In dem vom BFH entschiedenen Falle war offenbar die Ersatzzustellung nach § 181 ZPO aus der Zustellungsurkunde ersichtlich, allerdings war sie nicht an die in der Urkunde bezeichnete Ehefrau, sondern an die Haushälterin erfolgt. Nur eine solche Personenverwechslung hat der BFH für unschädlich gehalten, weil sowohl die Ehefrau wie die Haushälterin in gleicher Weise zum Empfang der Sendung berechtigt gewesen seien (ebenso Kohlrust-Eimert aaO und für ähnliche Fälle einer Namens- und Personenverwechslung Baumbach aaO § 191 Anm. 2 D).
Wie die Revision zutreffend rügt, könnte hier die Zustellung des sozialgerichtlichen Urteils noch an einem weiteren Mangel leiden. Für Ersatzzustellungen im "Geschäftslokal" des Zustellungsadressaten (§ 183 ZPO) - zu den Geschäftslokalen in diesem Sinne rechnet auch die Praxis eines Arztes (vgl. Baumbach aaO § 183 Anm. 1) - kommt als Ersatzperson nur ein "anwesender Gewerbegehilfe" in Betracht. Ob die Ehefrau des Klägers, falls ihr das Urteil in der Praxis des Klägers zugestellt worden sein sollte, zu dessen Gewerbegehilfen gehört hat, ist fraglich. Als "erwachsener Hausgenosse" (§ 181 ZPO) wäre sie nur bei einer Ersatzzustellung in der Wohnung des Klägers eine geeignete Ersatzperson gewesen.
Kann hiernach der Rechtsauffassung des LSG nicht gefolgt werden, daß nämlich die Zustellung des sozialgerichtlichen Urteils auch dann wirksam gewesen wäre, wenn sie entgegen dem Inhalt der Zustellungsurkunde nicht an den Kläger, sondern an dessen Ehefrau erfolgt wäre, so hätte das LSG die vom Kläger beantragten Ermittlungen über den tatsächlichen Zustellungsempfänger nicht als unerheblich ablehnen dürfen. Sollten die Ermittlungen ergeben, daß das Urteil tatsächlich nicht dem Kläger, wie in der Zustellungsurkunde bezeugt ist, sondern seiner Ehefrau zugestellt worden ist, dann wäre die Beweiskraft, die der Zustellungsurkunde als einer öffentlichen Urkunde im Sinne der §§ 415, 418 ZPO zukommt, durch den - gesetzlich zugelassenen - Beweis der Unrichtigkeit der bezeugten Tatsachen beseitigt (§ 418 Abs. 2 ZPO). Da die an die Ehefrau erfolgte Zustellung wegen Verletzung des § 191 Nr. 4 ZPO und möglicherweise auch der §§ 181 oder 183 mangelhaft gewesen wäre, hätte sie die Berufungsfrist gegen den Kläger nicht in Lauf gesetzt; seine Berufung wäre dann noch rechtzeitig eingelegt worden.
Zur Nachholung der entsprechenden Ermittlungen hat der Senat den Rechtsstreit an das LSG zurückverwiesen.
Bevor die Frage der Zulassung der Berufung nicht geklärt ist, kann dem Antrag des Beklagten auf eine Sachentscheidung nicht entsprochen werden. Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben. Soweit es sich um die Zulässigkeit der Berufung handelt, deretwegen der Senat die Revision zugelassen hat, dürfen dem Kläger Mutwillenskosten nach § 192 SGG nicht auferlegt werden.
Fundstellen