Entscheidungsstichwort (Thema)
Besuch von Unterrichtsveranstaltungen kein Unterricht
Leitsatz (amtlich)
Eine fachliche Ausbildung, die Unterricht und andere Ausbildungsformen umfaßt, kann nur dann eine Fachschulausbildung sein, wenn der Unterricht in zeitlicher Hinsicht überwiegt.
Orientierungssatz
Der Besuch von Unterrichtsveranstaltungen im Rahmen eines Lehrgangs für Aushilfslehrer kann nicht als Unterricht angesehen werden. Denn dabei wird zwar den dortigen Schülern, nicht aber ihnen Unterricht erteilt. Das gilt auch, wenn die Lehrgangsteilnehmer geschlossen in Begleitung ihrer Ausbilder am Schulunterricht teilnehmen.
Normenkette
AVG § 36 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1957-02-23; RVO § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4 Buchst b Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 10.03.1981; Aktenzeichen L 6 An 107/79) |
SG Freiburg i. Br. (Entscheidung vom 27.10.1978; Aktenzeichen S 5 An 2018/77) |
Tatbestand
Streitig ist die Vormerkung einer Ausfallzeit.
Die Klägerin hat von Mai 1963 bis März 1964 erfolgreich an einem Vorbereitungslehrgang des Oberschulamts S für Aushilfslehrer teilgenommen. Eine Vormerkung dieser Zeit als Ausfallzeit lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 9. November 1976, Widerspruchsbescheid vom 11. Oktober 1977). Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte hierzu - und zwar vom 1. April 1963 an - verurteilt (Urteil vom 27. Oktober 1978). Das Landessozialgericht (LSG) hat dies mit der Maßgabe bestätigt, daß nur die Zeit (der tatsächlichen Lehrgangsdauer) vom 27. Mai 1963 bis zum 31. März 1964 vorzumerken sei (Urteil vom 10. März 1981). Das LSG meint, der Ausfallzeittatbestand eines Fachschulbesuchs sei erfüllt. Eine Ausbildung habe üblicherweise an zwei Vor- und zwei Nachmittagen in der Woche, ergänzt durch sonstige Veranstaltungen, mit einer durchschnittlichen wöchentlichen Belastung von ungefähr 14 bis 15 Stunden stattgefunden. Darin seien nach den vorgelegten Arbeitsplänen über 150 Stunden theoretischen Unterrichts enthalten; daneben seien an den beiden Vormittagen im Beisein der Ausbilder Unterrichtsveranstaltungen in Schulen besucht und anschließend besprochen worden. Einschließlich der geforderten Vorbereitung habe die Ausbildung die Teilnehmer voll in Anspruch genommen. Ihre Form sei eindeutig durch mündliche Unterrichtung geprägt, wenngleich ein Teil der Ausbildung in besonderer Praxisnähe stattgefunden habe. Auch der praxisbezogene Teil sei von den Personen bestimmt worden, die den theoretischen Unterricht erteilt hätten. Diese hätten bei der Besprechung der gehörten Unterrichtsstunden ihren theoretisch erteilten Unterricht vertieft und erläutert. Die formalen Voraussetzungen eines Stunden- und Lehrplanes seien erfüllt. Die Leistungen seien auch in schultypischer Weise überprüft worden. Die Teilnehmer hätten schon nach kurzer Zeit eigene Lehrproben halten müssen, die anschließend kritisiert und ausführlich besprochen worden seien. Am Ende sei eine Lehrprobe und ein Kolloquium zu absolvieren gewesen. Die Form der Ausbildung unterscheide sich damit grundlegend von der in der Entscheidung des Bundessozialgerichts -BSG- (BSGE 35, 52, 53) beurteilten Ausbildung in Niedersachsen. Dabei sei unerheblich, daß der Lehrgang abweichend von der ursprünglichen Konzeption des Kultusministeriums durchgeführt worden sei.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte, das LSG habe mit der Wertung des festgestellten Sachverhalts als Fachschulausbildung den § 36 Abs 1 Nr 4 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) verletzt. Wenn das BSG die Kurzausbildung in Niedersachsen bei etwa 144 Stunden theoretischen Unterrichts nicht als Fachschulausbildung anerkannt habe, so müsse dies auch für Baden-Württemberg gelten, da die Lehrpläne nach den Feststellungen des LSG etwa 150 Stunden theoretischen Unterricht vorgesehen hätten.
Die Beklagte beantragt,
unter Abänderung der vorinstanzlichen Urteile die
Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Beklagten war der Rechtsstreit an das Berufungsgericht in dem im Tenor bezeichneten Umfang zurückzuverweisen; insoweit sind für eine abschließende Entscheidung weitere tatrichterliche Feststellungen zur Ausgestaltung der Ausbildung erforderlich.
Der Begriff der Fachschulausbildung, der durch das Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) als Ausfallzeit-Tatbestand (§ 36 Abs 1 Satz 1 Nr 4 Buchst d AVG) eingeführt und von den Änderungen durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz (RVÄndG) und das Rentenreformgesetz (RRG) unberührt blieb, ist nach der Rechtsprechung des BSG mangels einer Erläuterung im Gesetz im wesentlichen so auszulegen, wie er in dem vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (BMA) herausgegebenen Fachschulverzeichnis verstanden wird (SozR 2200 § 1259 Nr 47 mwN). Für die Abgrenzung der Fachschulausbildung von der Schulausbildung einerseits und der Hochschulausbildung andererseits hat der Senat dabei auf den Status der schulischen Bildungsstätte abgestellt (SozR 2200 § 1259 Nr 52). Zur Abgrenzung der Fachschulausbildung von nichtschulischen Ausbildungsformen, insbesondere der betrieblichen Ausbildung, ist demgegenüber, wenn der formale Status der Bildungseinrichtung keine abschließende Beurteilung erlaubt, auf das Erscheinungsbild der Fachschule als Schule zurückzugreifen. Diese wird im allgemeinen durch ein räumliches Beisammensein von Lehrern und einer Mehrzahl von Schülern während des Unterrichts, die Einteilung der Schüler entsprechend ihrem Ausbildungsstand in Klassen sowie durch die ständige Leistungskontrolle im Unterricht und das Erteilen von Zeugnissen gekennzeichnet (so schon BSG SozR Nr 33 zu § 1267 RVO). Nicht jedes dieser Merkmale ist indes unerläßlich (BSGE 43, 44, 45). Es genügt, wenn die Einrichtung sich in einem "weitgefaßten Sinne" (SozR 2200 § 1259 Nrn 25 und 47) als Schule ansprechen läßt, worüber die vom LSG benutzte Formel "in weitestem Sinne" hinausgeht. Unverzichtbar ist jedoch auch bei einem weitgefaßten Verständnis des Schulbegriffs die Erteilung von Unterricht an mehrere Schüler (SozR 2200 § 1259 Nr 47). Umfaßt eine Ausbildung neben dem Unterricht andere Ausbildungsweisen, insbesondere die für eine betriebliche Ausbildung kennzeichnenden Formen der Beobachtung praktischer Berufstätigkeit und der Übung eigener praktischer Berufstätigkeit, so erfordert der Fachschulbegriff, daß der Unterricht zeitlich die Gesamtausbildung prägt.
Solche Ausbildungsverhältnisse hat die Rechtsprechung nämlich der betrieblichen oder berufspraktischen Ausbildung zugeordnet, wenn auf den schulmäßigen Unterricht weniger als die Hälfte der Ausbildungszeit entfiel und der Auszubildende wie bei einem Beschäftigungsverhältnis zur Ausbildung in den normalen Betriebsablauf eingegliedert war (so zur Ausbildung nach dem Krankenpflegegesetz - Lernschwester - BSGE 21, 247, 248 f und dem folgend das Bundesarbeitsgericht in den Urteilen vom 16. Dezember 1976 und vom 18. Juni 1980 AP § 611 BGB Ausbildungsverhältnis Nr 3 und Nr 4). Der erkennende Senat sieht es daher damit übereinstimmend umgekehrt für den Fachschulbegriff als unerläßlich an, daß der Unterricht beim Zusammentreffen mit anderen Ausbildungsformen in zeitlicher Hinsicht überwiegt. Das muß bei längeren Ausbildungszeiten um so mehr gelten, weil das Fachschulverzeichnis bei Ausbildungszeiten unter einem halben Jahr immerhin einen Unterrichtsanteil von mindestens 600 Stunden fordert.
Die Feststellungen des LSG ergeben im vorliegenden Falle nicht, daß der den Lehrgangsteilnehmern erteilte Unterricht die übrige Ausbildung überwogen hat. Insoweit kann jedenfalls der Besuch von Unterrichtsveranstaltungen durch die Lehrgangsteilnehmer nicht als Unterricht angesehen werden. Denn dabei wurde zwar den dortigen Schülern, nicht aber ihnen Unterricht erteilt. Den Lehrgangsteilnehmern wurde lediglich die Möglichkeit gegeben, die praktische Berufsausübung eines Lehrers zu beobachten. Das gilt auch, wenn die Lehrgangsteilnehmer geschlossen in Begleitung ihrer Ausbilder am Schulunterricht teilnahmen, wie dies das LSG festgestellt hat.
Auch die anschließende Besprechung dieser Unterrichtsstunden im Kreis der Lehrgangsteilnehmer kann aufgrund des vom LSG hierzu Bemerkten allenfalls teilweise als Unterricht an die Lehrgangsteilnehmer gewertet werden. Denn im Vordergrund stand dabei offenbar die Besprechung der Beobachtungen bei den Unterrichtsbesuchen. Allerdings spricht das LSG auch davon, daß bei dieser Gelegenheit der von den Lehrgangsausbildern erteilte (theoretische) Unterricht "vertieft und erläutert" worden sei. Allein dieser - möglicherweise nur im Schätzungswege abzugrenzende - Teil der Besprechung könnte bei unterrichtsmäßiger Ausgestaltung als ein schulischer Unterricht angesehen werden. Ähnliches muß für die Besprechung gelten, die den eigenen Lehrproben gefolgt sind.
Nach dem festgestellten Sachverhalt haben die Unterrichtsbesuche, die anschließenden Besprechungen und der den Lehrgangsteilnehmern erteilte theoretische Unterricht zusammen wöchentlich etwa 14 bis 15 Stunden umfaßt, was bei knapp zehn Monaten Ausbildungsdauer insgesamt 600 Stunden ausmachen kann. Hiervon entfielen auf den theoretischen Unterricht nach dem Berufungsurteil "über 150 Stunden". Damit bleibt offen, ob der den Lehrgangsteilnehmern erteilte Unterricht insgesamt das zeitliche Übergewicht hatte. Dieses wird das LSG nunmehr festzustellen haben.
Wenn der Senat hier eine solche Feststellung noch für erforderlich hält, so setzt er sich damit nicht in Widerspruch zu seinem Urteil vom 16. November 1972 (BSGE 35, 52), das für die Ausbildung von Aushilfslehrern in Niedersachsen eine Fachschulausbildung verneinte. Die Beklagte meint zu Unrecht, das BSG habe dort die Kurzausbildung in Niedersachsen bei etwa 144 Stunden theoretischen Unterrichts nicht als Fachschulausbildung anerkannt. Ein solcher theoretischer Unterricht war damals vom LSG nicht festgestellt; nach dessen Ausführungen war das Anhören von Vorlesungen und Vorträgen in pädagogischen Hochschulen als "freies Angebot" empfohlen; der Senat hat daher die damaligen Feststellungen dahin verstanden, daß Unterricht an die Lehrgangsteilnehmer - durch deren Ausbilder - praktisch nicht erteilt worden war.
Die übrigen Anspruchsvoraussetzungen hat das LSG zu Recht bejaht. Die Ausfallzeit der Fachschulausbildung verlangt nach dem Zweck der Ausfallzeitregelung außerdem eine volle Inanspruchnahme der Arbeitskraft durch diese Ausbildung einschließlich etwaiger Vorbereitungszeiten (SozR 2200 § 1259 Nr 47). Das ist der Fall, wenn die Ausbildung zu einer Belastung mit mehr als 40 Wochenstunden führt (SozR § 1262 Nr 9; BSGE 39, 156; s auch SozR 4100 § 103 Nr 12); daneben kann sich aber auch aus der Lage der Ausbildungszeit ergeben, daß eine mehr als nur geringfügige Tätigkeit nicht zu erwarten ist. Letzteres hat das LSG zu Recht angenommen, da die Ausbildung wöchentlich an vier Tagen, und zwar an zwei Tagen vormittags und an zwei Tagen nachmittags erfolgte. Auf den zeitlichen Umfang der erforderlichen häuslichen Vorbereitungszeit kommt es damit nicht mehr an.
Die Sache war daher an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben wird.
Fundstellen