Leitsatz (amtlich)
Wer ein Kraftfahrzeug führt, verliert den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung, wenn er sich aus unternehmensfremden Gründen durch Alkoholgenuß in einen Zustand versetzt hat, in dem er fahruntüchtig ist, dh nicht mehr verkehrssicher fahren kann.
Fahruntüchtig ist ein Kraftfahrer jedenfalls dann, wenn bei ihm eine höhere Blutalkoholkonzentration als 1,5 0 /00 festgestellt worden ist, keine besonderen Umstände gegen die Richtigkeit dieser Blutalkoholbestimmung sprechen und nur allgemeine Bekundungen von Zeugen über seine angebliche Fahrtüchtigkeit vorliegen.
Normenkette
RVO § 542 Abs. 1 Fassung: 1942-03-09, § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision der Klägerinnen gegen das Urteil des Landessozialgerichts Celle vom 13. September 1955 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
Der Ehemann der Klägerin zu 1) und Vater der Klägerinnen zu 2) und 3), der Kaufmann Hermann U., war am 21. Oktober 1952 den Tag über mit seinem Kraftwagen unterwegs gewesen. Auf der Rückfahrt blieb der Kraftwagen in der Nacht kurz vor Hannover auf der Autobahn Ruhrgebiet - Hannover stehen. Gleichzeitig fiel die Beleuchtung aus. Während U., links neben dem Kraftwagen gehend, den unbeleuchteten Kraftwagen nach dem rechten Rand der Autobahn schob, wurde er vom Anhänger eines überholenden Lastkraftwagens erfaßt und so schwer verletzt, daß er am folgenden Tag gegen 3.00 Uhr morgens gestorben ist. Das Institut für gerichtliche Medizin und Kriminalistik der Universität Göttingen hat in der dem Verunglückten entnommenen Blutprobe eine Blutalkoholkonzentration von 1,3 0 / 00 festgestellt und in seinem Gutachten für den Unfallzeitpunkt eine Blutalkoholkonzentration von 1,57 0 / 00 errechnet.
Die beklagte Berufsgenossenschaft hat die Ansprüche der Hinterbliebenen durch Bescheid vom 28. Mai 1954 abgelehnt. Sie ist der Auffassung, daß die Fahrt, auf der sich der Unfall ereignet hat, nicht mehr als Geschäftsfahrt unter Versicherungsschutz gestanden habe. Außerdem hat sie sich darauf berufen, daß U. sich durch Alkoholgenuß außer Stand gesetzt habe, ein Kraftfahrzeug zu führen, und sich dadurch vom Betrieb gelöst habe.
Die Klage gegen diesen Bescheid hat das Sozialgericht Lüneburg durch Urteil vom 24. Februar 1955 abgewiesen. Das Sozialgericht hat das Bestehen des Versicherungsschutzes mit folgender Begründung verneint: U. habe die Rückfahrt solange im eigenwirtschaftlichen Interesse unterbrochen, daß der Rest des Rückwegs nicht mehr als Rückweg von der geschäftlichen Tätigkeit angesehen werden könne; im übrigen sei der Zusammenhang mit der vorherigen Betriebstätigkeit auch durch Alkoholaufnahme gelöst gewesen, und dieser Alkoholeinfluß habe den Unfall wesentlich mit herbeigeführt; die Frage eines etwaigen Verschuldens berühre jedoch die einmal objektiv eingetretene Lösung des Zusammenhangs mit der Betriebstätigkeit nicht.
Die Berufung der Klägerin gegen dieses Urteil ist vom Landessozialgericht Celle mit Urteil vom 13. September 1955 zurückgewiesen worden. Das Landessozialgericht hat es dahingestellt gelassen, ob die Aussagen der im Verfahren vor dem Landessozialgericht vernommenen Zeugen die Feststellungen des Sozialgerichts in Frage stellen, auf Grund deren das Sozialgericht angenommen hat, daß die Fahrt im Zeitpunkt des Unfalls eine unversicherte Privatfahrt gewesen sei. Es hat auf Grund der Blutalkoholkonzentration von 1,57 0 / 00 als erwiesen angesehen, daß U. fahruntüchtig gewesen sei, und hat eine Lösung vom Betrieb angenommen, weil U. sich trotz seiner Trunkenheit an das Steuer des Kraftfahrzeugs gesetzt habe. Darauf, ob diese Trunkenheit den Unfall verursacht hat, kommt es auch nach der Meinung des Landessozialgerichts nicht an.
Das Landessozialgericht hat die Revision im Urteil zugelassen.
Gegen dieses Urteil, das am 2. November 1955 zugestellt worden ist, haben die Klägerinnen mit Schriftsatz vom 29. November 1955 (eingegangen beim Bundessozialgericht am 30. November 1955) Revision eingelegt. Mit Schriftsatz vom 1. Dezember 1955 (eingegangen beim Bundessozialgericht am 2. Dezember 1955) haben sie den Revisionsschriftsatz dahin ergänzt, daß sie beantragen, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils dem Klageantrag entsprechend zu erkennen. Mit Schriftsatz vom 23. Dezember 1955 (eingegangen beim Bundessozialgericht am 27. Dezember 1955) haben sie die Revision begründet.
Die Beklagte beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Die Revision ist statthaft (§§ 160, 161 Abs. 1 Nr. 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) und in der gesetzlichen Form und Frist eingelegt und begründet worden (§ 164 SGG). Sie ist jedoch nicht begründet.
Das Landessozialgericht hat im Gegensatz zur Beklagten und dem Sozialgericht die Verneinung des Versicherungsschutzes für den tödlichen Unfall lediglich mit einer "Lösung vom Betrieb" durch Alkoholgenuß begründet. Die Entscheidung über die Revision hängt also davon ab, ob diese Begründung die Ablehnung der Entschädigungsansprüche rechtfertigt.
Das Reichsversicherungsamt hat ursprünglich nur dann angenommen, daß ein Versicherter durch Trunkenheit "vom Betrieb gelöst" und damit ohne Versicherungsschutz ist, wenn die Alkoholeinwirkung jede Arbeitsverrichtung irgendwelcher Art schlechthin unmöglich machte (vgl. Reichsversicherungsordnung, herausgegeben von Mitgliedern des Reichsversicherungsamts, 2. Aufl. § 544 S. 61 und die dort angeführten Entscheidungen). Die neuere Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts hat es jedoch bei der Prüfung, ob eine Lösung des ursächlichen Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit eingetreten war, auf die jeweils tatsächlich in Frage stehenden Verrichtungen, d.h. auf die Tätigkeiten abgestellt, auf die sich der Versicherungsschutz im Einzelfall erstreckte (vgl. EuM. Bd. 46 S. 405). Wenn die Tätigkeit, für die der Versicherungsschutz streitig ist, im Lenken eines Kraftfahrzeugs bestand, kommt es nach dieser Rechtsmeinung darauf an, ob der Lenker des Kraftfahrzeugs noch die hierzu erforderlichen Fähigkeiten besaß oder sie durch die Alkoholeinwirkung verloren hatte.
Diese Rechtsmeinung, auf der das angefochtene Urteil beruht, hat auch in der Rechtsprechung und im Schrifttum der Nachkriegszeit weitgehende Zustimmung gefunden (vgl. z.B. Bayer. LVAmt, Breithaupt 1952 S. 654, Hess. LSG., Breithaupt 1955 S. 477, LSG. Celle, Breithaupt 1955 S. 931, Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 1. - 4. Aufl., Bd. II S. 489, Wagner, Der Arbeitsunfall, 3. Aufl. 1955 S. 150 f., Sperling in Berufsgenossenschaft 1956 S. 116; a.A. z.B. LSG. Baden-Württemberg, Breithaupt 1954 S. 897, Klink, Wege zur Sozialversicherung, 1956 S. 166).
Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsmeinung angeschlossen. Jedoch ist darauf hinzuweisen, daß der Versicherungsschutz nicht schlechthin dadurch entfällt, daß der Versicherte aus irgendwelchen Gründen nicht mehr in der Lage ist, die Tätigkeit auszuüben, auf die sich dieser Versicherungsschutz bezieht. Eine Lösung des ursächlichen Zusammenhangs mit der versicherten Tätigkeit wird vielmehr nur dann herbeigeführt, wenn der Versicherte sich aus unternehmensfremden Gründen selbst durch Alkoholgenuß in einen Zustand versetzt hat, in dem er nicht mehr die für die Ausübung der in Betracht kommenden Betriebstätigkeit erforderlichen Fähigkeiten besitzt.
Im vorliegenden Fall umfaßte der Versicherungsschutz für die geschäftliche Tätigkeit U. auch das Führen des Kraftfahrzeugs, dessen sich U. für seine Geschäftsfahrten bediente. Die Tätigkeit, bei der sich der Unfall ereignet hat, stand auch noch in unmittelbarem Zusammenhang mit dieser Tätigkeit des Kraftfahrzeugführens.
Infolgedessen ist entscheidend, ob das Landessozialgericht mit Recht angenommen hat, daß U. infolge des vorangegangenen Alkoholgenusses nicht mehr zum Fahren des Kraftfahrzeugs fähig war.
Bei der Prüfung dieser Frage muß nach der Auffassung des Senats auf die erhöhte Verantwortung Rücksicht genommen werden, die unter den heutigen Verkehrsverhältnissen mit dem Lenken eines Kraftfahrzeuges im Verkehr verbunden ist und deren Berücksichtigung ein gerechtes Anliegen der Allgemeinheit ist (vgl. Lauterbach, Unfallversicherung, 2. Aufl., Band Januar 1956, § 542 3 II o, Bemerkung zu dem in Breithaupt 1952 S. 1233 veröffentlichten Urteil des LVAmts Württ.-Baden vom 23.4.1952). Ein Kraftfahrer ist deshalb schon dann als fahrunfähig, d.h. als unfähig anzusehen das Kraftfahrzeug zu lenken, wenn seine Trunkenheit einen solchen Grad erreicht hat, daß er nicht mehr verkehrssicher fahren kann.
Nach der weitaus herrschenden Meinung ist ein solcher Grad der Trunkenheit spätestens bei einer Blutalkoholkonzentration von 1,5 0 / 00 erreicht. Die Fahrfähigkeit ist nach dieser Auffassung in der Regel schon bei einem weitaus geringeren Grad von Alkoholbeeinflussung infolge der Herabsetzung der Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeit, der Störung des Gleichgewichtssinns und der enthemmenden Wirkungen des Alkohols so wesentlich beeinträchtigt, daß schwierigere Verkehrslagen nicht mehr gemeistert werden können und somit die im heutigen Verkehr erforderliche Sicherheit im Lenken des Kraftfahrzeugs nicht mehr gegeben ist. Die Grenze von 1,5 0 / 00 ist bewußt weit gezogen worden und berücksichtigt bereits die individuellen Verschiedenheiten in der Alkoholverträglichkeit und die Schwankungsbreite der zur Feststellung der Blutalkoholkonzentration benutzten Verfahren.
Dieser Auffassung hat sich auch der Bundesgerichtshof in seiner neueren Rechtsprechung angeschlossen (vgl. z.B. BGH. in BGHSt. Bd. 5 S. 168 und in NJW. 1956 S. 21). Auf Grund der Bedenken, die dagegen in Schrifttum und Rechtsprechung geäußert worden waren, hat der Bundesminister des Innern auf Veranlassung des Bundesministers der Justiz den Präsidenten des Bundesgesundheitsamtes mit der Erstattung eines Gutachtens beauftragt, das vom Bundesverkehrsministerium veröffentlicht worden und allgemein erhältlich ist (Kirschbaum-Verlag, Bielefeld), so daß gegen seine Verwertung im vorliegenden Verfahren keine Bedenken bestehen. Dieses Gutachten kommt zu dem Ergebnis: "Es sind keine wissenschaftlich begründeten Tatsachen bekannt, auf Grund deren angenommen werden kann, daß jenseits einer Blutalkoholkonzentration von 1,5 0 / 00 noch Fahrtüchtigkeit besteht" (S. 6, vgl. auch S. 46).
Im vorliegenden Fall hat die Revision keine Gründe vorgetragen, die geeignet sind, die im Urteil des Landessozialgerichts übernommene Feststellung des Göttinger Universitäts-Instituts in Frage zu stellen, daß die Untersuchung der bei U. entnommenen Blutprobe eine Blutalkoholkonzentration von 1,3 0 / 00 ergeben hat. Der Senat mußte deshalb nach § 163 SGG von dieser Feststellung ausgehen.
In der mündlichen Verhandlung hat der Bevollmächtigte der Klägerinnen die Ausführungen in der Revisionsbegründung dahin ergänzt, daß die aus dieser Feststellung gezogenen Schlußfolgerungen, d.h. die Berechnung einer Blutalkoholkonzentration von 1,57 0 / 00 für den Zeitraum des Unfalls rechtsirrig seien. Die Revision will damit die Richtigkeit der Erfahrungssätze über die Resorptions- und Abbaugeschwindigkeit in Zweifel ziehen, die das Göttinger Universitäts-Institut seinem Gutachten zugrunde gelegt hat. Es kann dahingestellt bleiben, ob diese nachträgliche Rüge noch zulässig war; denn nach der Auffassung des Senats ist es nicht zu beanstanden, daß das Landessozialgericht sich auf ein Gutachten gestützt hat, dessen Berechnungen die allgemein anerkannten Abbauwerte zugrunde liegen (vgl. auch Gutachten des Bundesgesundheitsamtes S. 39 ff.), zumal da in dem Gutachten des Göttinger Universitäts-Instituts ausdrücklich bemerkt ist, die tatsächliche Blutalkoholkonzentration habe annehmbar höher gelegen, weil infolge des unsachgemäßen Verschlusses des Reagenzglases mit einem Wattebausch bereits Alkohol verdunstet gewesen sein könne. Die Feststellung des Landessozialgerichts, daß die Blutalkoholkonzentration bei U. im Zeitpunkt des Unfalls mindestens 1,57 0 / 00 betragen habe, ist infolgedessen für das Revisionsgericht gleichfalls bindend (§ 163 SGG).
In der Revisionsbegründung ist darüber hinaus noch gerügt worden, daß das Landessozialgericht die Annahme, U. sei fahruntüchtig gewesen, lediglich auf die festgestellte Blutalkoholkonzentration gestützt und, ohne die Zeugen F. und S. nochmals zu vernehmen, deren Aussagen nicht berücksichtigt habe, aus denen hervorgehe, daß U. fahrtüchtig gewesen sei.
Es kann dahingestellt bleiben, ob bei einer ordnungsmäßig festgestellten Blutalkoholkonzentration von mehr als 1,5 0 / 00 überhaupt noch die Möglichkeit besteht, Fahrtüchtigkeit anzunehmen. Jedenfalls genügen die Aussagen von Zeugen, die lediglich allgemein ihren Eindruck hinsichtlich der Fahrtüchtigkeit wiedergeben, nicht, die aus der Blutalkoholkonzentration gezogenen Schlußfolgerungen in Frage zu stellen.
Das Landessozialgericht hat somit ohne Verstoß gegen Verfahrensvorschriften und ohne Rechtsirrtum als erwiesen angesehen, daß U. während der Fahrt, auf der sich der Unfall ereignet hat, fahrunfähig war.
Damit ist nach der Rechtsauffassung des Senats auch die Schlußfolgerung gerechtfertigt, daß U. während dieser Fahrt nicht unter Versicherungsschutz gestanden hat.
Ob die Trunkenheit auch für den Unfall ursächlich war, ist nach der Auffassung des Senats unerheblich. Das Landessozialgericht konnte deshalb davon absehen, zu den Ausführungen im Urteil des Sozialgerichts Stellung zu nehmen, das, obwohl es diese Frage gleichfalls für unerheblich gehalten hat, zutreffend auf den Umstand hinweist, U. sei, wie sich aus den Aussagen der Zeugin Flamme ergibt, nicht sofort und in erster Linie bemüht gewesen, den unbeleuchteten Wagen aus dem Gefahrenbereich der Fahrbahn zu entfernen.
Die Revision der Klägerinnen war deshalb als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen