Leitsatz (amtlich)
Verfolgte, die sich aus Verfolgungsgründen vom deutschen Volkstum bzw vom deutschen Sprach- und Kulturkreis abgewandt hatten, können im Rahmen des FRG und des § 20 WGSVG Vertriebenen iS des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG (Aussiedlers) nur dann gleichgestellt werden, wenn die frühere Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum bzw zum deutschen Sprach- und Kulturkreis für das Verlassen des Vertreibungsgebietes ursächlich - dh wesentliche Bedingung - gewesen ist; bei einem Verlassen des Vertreibungsgebietes nach dem 30.9.1953 ist ein solcher Ursachenzusammenhang nicht zu vermuten.
Normenkette
VuVO § 11 Abs 2 Fassung: 1960-03-03; FRG § 1; WGSVG § 20 Fassung: 1977-06-27, § 19 Abs 2 Buchst a Halbs 2 Fassung: 1977-06-27; BVFG § 1 Abs 2 Nr 3
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger aufgrund des Fremdrentengesetzes (FRG) iVm § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) die Herstellung von Versicherungsunterlagen über Versicherungszeiten in Rumänien verlangen kann.
Der im Jahr 1911 in Siebenbürgen/Ungarn (jetzt Rumänien) geborene Kläger ist Verfolgter des Nationalsozialismus. Er wuchs im deutschen Sprach- und Kulturkreis (dSK) auf, entschied sich aber dann unter dem Eindruck seines Verfolgungsschicksals (ua Freiheitsentziehung von November 1942 bis Oktober 1944) gegen das Festhalten am deutschen Volkstum und an der deutschen Sprache. Seit seiner zweiten Eheschließung im Jahr 1949 sprach er in seiner Familie ungarisch. Im November 1959 wanderte er von Rumänien nach Israel aus. Er ist israelischer Staatsbürger.
Im Dezember 1975 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Herstellung von Versicherungsunterlagen über die von ihm in Rumänien zurückgelegten Versicherungszeiten. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 28. September 1979 den Antrag ab, weil der Kläger nicht als Vertriebener anerkannt sei und auch nicht nach § 20 WGSVG einem anerkannten Vertriebenen gleichstehe. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos.
Die Klage ist abgewiesen (Urteil vom 2. September 1982), die Berufung des Klägers ist zurückgewiesen worden. In den Entscheidungsgründen des Berufungsurteils ist ausgeführt: Der Kläger habe keinen Anspruch auf die Herstellung von Versicherungsunterlagen, weil das allein einen solchen Anspruch gebende FRG nicht zu seinen Gunsten herangezogen werden könne. Er gehöre zu keiner der im Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge (Bundesvertriebenengesetz -BVFG-) aufgeführten Personengruppen. Auch § 20 WGSVG sei nicht anwendbar. Dafür sei weder entscheidend, daß der Kläger etwa nicht dem dSK zugeordnet werden könne, noch, daß er sich von der deutschen Sprache abgewandt habe. Aber ein Vertreibungstatbestand könne nicht festgestellt werden. Der dafür erforderliche Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zum dSK und der Auswanderung aus der Heimat habe nicht vorgelegen, aber auch kein sonstiger Vertreibungsdruck, der sich zB in der Vereinsamung oder in dem Unbehagen an der nicht mehr deutschsprachigen Umgebung hätte darstellen können. Der Kläger habe vielmehr Rumänien aus Gründen verlassen, die auch im weitesten Sinne nichts mit gegen Angehörige des dSK gerichteten Vertreibungsmaßnahmen zu tun hatten. Eine sonstige die Auswanderung verursachende Zwangslage, die ihrer Struktur nach dem Vertreibungstatbestand entsprochen habe, sei nicht einmal glaubhaft gemacht.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision trägt der Kläger vor: Das Landessozialgericht (LSG) habe zu Unrecht den Anspruch des Klägers davon abhängig gemacht, daß dessen Aussiedlung mit einem Vertreibungsdruck und mit einer wirklichen Vertreibung im Zusammenhang gestanden hätte. Der Aussiedler (§ 1 Abs 2 Nr 3 BVFG) sei Vertriebener auch, wenn er freiwillig, dh nicht durch Ausweisung, Flucht oder politischen Druck gezwungen, das Vertreibungsgebiet verlassen habe. Es sei keine Vertreibung oder Flucht erforderlich, auch der Grund für das "Verlassen" sei nicht von Bedeutung. Das LSG werfe dem Kläger vor, daß er im Jahr 1949 eine fremdsprachige Frau geheiratet habe. Das dürfe ihm, dem Kläger, aber ebensowenig zum Nachteil gereichen, wie der auf Verfolgungsmaßnahmen beruhende Auswanderungsentschluß und der Verbleib in Rumänien bis 1959. Die Aussiedlereigenschaft dürfe weder von irgendwelchen Diskriminierungen oder Benachteiligungen noch von staatlichem Zwang der Oststaaten oder deren Bevölkerung abhängig gemacht werden. Ein freiwilliger, durch NS-Verfolgungsmaßnahmen geprägter Entschluß zur Auswanderung nach Israel sei nicht vertreibungs- oder aussiedlungsfremd. Das gelte auch für das verfolgungsbedingte Nichtfesthalten am Gebrauch der deutschen Sprache im Aussiedlungsgebiet und für die Eheschließung mit einem Ehepartner nichtdeutscher Muttersprache.
Der Kläger beantragt, die Urteile der Vorinstanzen sowie den Bescheid der Beklagten vom 28. September 1979 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, über seine rumänischen Versicherungszeiten eine Versicherungsunterlage nach Maßgabe des FRG iVm § 11 Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) herzustellen.
Die Beklagte beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Der Bescheid der Beklagten vom 28. September 1979, mit dem die Beklagte den Antrag auf Herstellung von Versicherungsunterlagen abgelehnt hat, ist rechtmäßig.
Als Rechtsgrundlage für den etwaigen Anspruch des Klägers auf Herstellung von Versicherungsunterlagen über die von ihm in Rumänien zurückgelegten Versicherungszeiten kommt nur § 11 Abs 2 VuVO in Frage. Die Vorschrift sieht vor, daß außerhalb des Leistungsfeststellungsverfahrens nach Maßgabe des FRG auch Versicherungsunterlagen für Zeiten hergestellt werden können, die nach dem FRG anrechenbar sind. Die Versicherungszeiten, die der Kläger in Rumänien zurückgelegt hat, sind aber nicht nach dem FRG anrechenbar, weil dieses Gesetz auf den Kläger nicht anwendbar ist. Der Kläger gehört zu keiner der in § 1 FRG aufgeführten Personengruppen. Das bedarf für die Gruppen der Buchstaben b) bis e) des § 1 FRG keiner weiteren Begründung. Aber auch § 1 Buchst a) FRG kommt nicht in Frage, weil der Kläger nicht als Vertriebener iS des § 1 BVFG im Geltungsbereich des FRG anerkannt ist.
Nach § 20 Satz 1 WGSVG stehen zwar bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iS des BVFG diejenigen vertriebenen Verfolgten gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, läßt § 20 Satz 2 WGSVG iVm § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 bei ihnen genügen, daß sie im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört haben. Diese Bestimmung kann dem Kläger bei wörtlicher Anwendung aber ebenfalls nicht zum Erfolg verhelfen, weil er "im Zeitpunkt des Verlassens" von Rumänien dem dSK nicht mehr angehört hat.
In der Rechtsprechung des BSG (SozR 5070 § 20 Nr 2) ist allerdings - auch schon im Hinblick auf die hier anzuwendende Fassung der §§ 19 und 20 WGSVG - bereits entschieden, daß ein vertriebener Verfolgter beim Verlassen des Vertreibungsgebietes dem dSK nicht mehr anzugehören brauchte, wenn er sich - wie es beim Kläger der Fall war - schon vorher wegen der Verfolgungsmaßnahmen vom deutschen Volkstum abgewandt hatte. Aus dieser Entscheidung, die ein Verlassen des Vertreibungsgebietes im Jahre 1948 betraf, kann der 1959 aus Rumänien ausgewanderte Kläger indessen ebenfalls keine für ihn günstigen Folgen herleiten.
Als Vertreibungstatbestand, der hier erfüllt sein müßte (vgl § 1 Buchst a FRG), kommt nur § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG in Betracht. Danach ist Vertriebener auch, "wer als deutscher Staatsangehöriger oder deutscher Volkszugehöriger nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen ... Rumänien ... verlassen hat"; zu dieser Gruppe der "Aussiedler" rechnet im Hinblick auf § 20 WGSVG, wer das Gebiet "als Angehöriger des dSK" verlassen hat.
Aus Wortlaut und Sinn der genannten Regelung hat die Rechtsprechung hergeleitet, daß dabei (im letzteren Falle) die Zugehörigkeit zum dSK eine Ursache (wesentliche Bedingung im Sinne der sozialrechtlichen Kausalitätslehre) für das Verlassen des Vertreibungsgebietes gewesen sein muß. Hierzu hat der erkennende Senat im Urteil vom 5. November 1980 - 11 RA 74/79 - (BSGE 50, 279, 283 = SozR aaO Nr 3) im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs (BGH), nicht dagegen auch der damaligen des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) ausgeführt: Sinn und Zweck des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG ließen es nicht zu, auf jegliche Nachprüfung der Zusammenhangsfrage zu verzichten; noch weniger könne die Nachprüfung aber dann unterbleiben, wenn der Verfolgte Entschädigungsleistungen begehre. Es entbehre der inneren Berechtigung, Verfolgten nach § 20 WGSVG iVm dem FRG Sicherungen in der bundesdeutschen Rentenversicherung auch dann zukommen zu lassen, wenn sie das Vertreibungsgebiet nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen ohne Zusammenhang mit einer Deutschsprachigkeit aus sonstigen persönlichen oder politischen Gründen verlassen hätten. Der 12. Senat (Urteil vom 16. Februar 1983 - 12 RK 29/82 -), der 5. Senat (SozR aa0 Nr 6), der 4. Senat (SozR aa0 Nr 7 und Urteil vom 29. Juni 1984 - 4 RJ 87/83 -) und der 1. Senat des BSG (Urteil vom 15. November 1983 - 1 RJ 2/83 -) haben sich der Rechtsansicht des erkennenden Senats angeschlossen.
Derselben Meinung ist neben dem BGH (vgl noch dessen Urteil vom 31. Januar 1980, LM Nr 70 zu § 64 BEG 1956 = RzW 1980, 59) inzwischen auch das BVerwG zu § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG. Es hat in den Urteilen vom 4. Februar 1981 - 8 C 4.80 - (Buchholz 412.3 § 1 BVFG Nr 25) und vom 11. Februar 1983 - 8 C 178.81 - (BVerwGE 67, 13, 14 = Buchholz aa0 Nr 29 = NVwZ 84, 41) erklärt, daß Vertriebener im Sinne dieser Vorschrift (Aussiedler) nur sein könne, wer das Vertreibungsgebiet wegen der Nachwirkungen der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen verlassen habe; träfen vertreibungsbedingte mit vertreibungsfremden Gründen zusammen, so komme es darauf an, ob die vertreibungsbedingten das Verlassen des Vertreibungsgebietes wesentlich mitverursacht hätten. Diese nunmehrige Einstimmigkeit bestärkt den Senat, an seiner bisherigen Rechtsprechung festzuhalten.
Im vorliegenden Falle ist aber nun zu entscheiden, welche Bedeutung diese Rechtsprechung für Verfolgte hat, die sich - wie der Kläger - schon vor dem Verlassen des Vertreibungsgebietes wegen der Verfolgungsmaßnahmen vom deutschen Volkstum bzw dem dSK abgewandt hatten; sie können nämlich das Gebiet nicht im Zusammenhang mit einer zu diesem Zeitpunkt noch bestehenden Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum bzw zum dSK verlassen haben. Der 12. Senat des BSG hat insoweit in einem - nicht veröffentlichten - Urteil vom 16. Februar 1983 - 12 RK 24/82 - gemeint, es sei klar, daß dann ein Zusammenhang zwischen einer - nicht (mehr) bestehenden - Zugehörigkeit zum dSK und der Aussiedlung nicht gefordert werden könne. Dieser das damalige Urteil nicht tragenden Auffassung kann sich der erkennende Senat nicht anschließen. Er ist zwar nach wie vor der Meinung, daß es Verfolgten grundsätzlich nicht zum Nachteil gereichen darf, wenn sie sich vor dem Verlassen des Vertreibungsgebietes wegen der Verfolgungsmaßnahmen vom deutschen Volkstum bzw dem dSK abgewandt haben; bei ihnen muß daher die frühere Zugehörigkeit maßgebend bleiben. Das kann aber nicht heißen, daß es bei solchen Verfolgten einfach genüge, daß sie nach Abschluß der allgemeinen Vertreibungsmaßnahmen das Vertreibungsgebiet, gleichgültig aus welchen Gründen verlassen haben. Denn dann würden nicht nur lediglich Nachteile für sie ausgeglichen; sie würden vielmehr gegenüber den anderen Verfolgten, die bis zuletzt am deutschen Volkstum festgehalten haben, eindeutig bevorzugt. Es besteht jedoch kein Grund, die beiden Gruppen in dieser Weise unterschiedlich zu behandeln. Vielmehr bietet es sich als sachgerecht an, bei den Verfolgten, die sich aus Verfolgungsgründen vom deutschen Volkstum bzw dem dSK abgewandt hatten, auch im Rahmen des § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG auf die frühere Zugehörigkeit zu diesem Personenkreis zurückzugreifen und zu fordern, daß die frühere Zugehörigkeit für das Verlassen des Vertreibungsgebietes ursächlich, dh eine wesentliche Bedingung dafür gewesen ist.
Ein solcher Ursachenzusammenhang ist in Fällen, in denen das Vertreibungsgebiet nach dem 30. September 1953 verlassen worden ist, nicht zu vermuten; insoweit kann nichts anderes gelten, als für den Zusammenhang mit einer beim Verlassen des Vertreibungsgebietes noch bestehenden Zugehörigkeit zum deutschen Volkstum bzw dem dSK (BSGE 50, 279 = SozR 5070 § 20 Nr 3). Es muß also glaubhaft gemacht sein, daß die frühere Zugehörigkeit eine wesentliche Bedingung für das Verlassen des Vertreibungsgebietes gewesen ist. Dies ist beim Kläger nicht der Fall; das LSG hat keine Gründe festgestellt, die dartun würden, daß die frühere Zugehörigkeit des Klägers zum dSK eine wesentliche Bedingung für seine 1959 erfolgte Auswanderung von Rumänien nach Israel gewesen ist. Gegen diese tatsächlichen Feststellungen hat der Kläger keine Revisionsrügen vorgebracht; sie binden daher den Senat.
Die Revision des Klägers war somit als unbegründet zurückzuweisen. Da für die Entscheidung des Senats die Religionszugehörigkeit des Verfolgten (christlich, mosaisch) keine Rolle spielt, kann durch sie auch nicht der Gleichheitssatz verletzt sein.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen