Entscheidungsstichwort (Thema)

Arbeitsunfall. Geschäftsreise. selbstgeschaffene Gefahr. betriebsfremdes Motiv. entfallene Zigarette. Autofahrt

 

Orientierungssatz

1. Wer auf einer Geschäftsreise ununterbrochen einen betrieblichen Zweck verfolgt, verliert weder durch verbotswidriges Handeln noch durch schuldhaftes Verursachen eines Arbeitsunfalls den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 548 Abs 3, § 553 RVO). Unter dieser Voraussetzung geht der Versicherungsschutz auch nicht wegen einer sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr verloren. Nur wer aus selbständigen, betriebsfremden Motiven unabhängig von dem Betriebszweck eine selbstgeschaffene erhöhte Gefahr herbeigeführt hat, kann keine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung verlangen, wenn die selbstgeschaffene Gefahr die zunächst noch vorhandenen betriebsbedingten Umstände soweit zurückgedrängt hat, daß sie keine wesentlichen Bedingungen mehr für den Unfall gebildet haben.

2. Zur Frage, ob das Bücken und Suchen nach einer entfallenen Zigarette während einer Betriebsfahrt mit dem Pkw über die Autobahn von einem derart selbständigen, betriebsfremden Zweck getragen wird, daß dadurch das Gewicht aller betriebsbedingten Umstände der Fahrt als wesentliche Bedingungen des Unfalls aufgewogen oder in den Hintergrund gedrängt worden ist.

 

Normenkette

RVO § 548 Abs 1 S 1

 

Verfahrensgang

SG Braunschweig (Entscheidung vom 10.06.1987; Aktenzeichen S 9 U 102/85)

 

Tatbestand

Streitig ist, ob die bei einem Verkehrsunfall erlittenen Verletzungen der Klägerin Folgen eines Arbeitsunfalls sind.

Der Arbeitgeber der Klägerin veranstaltete für seine Arbeitnehmer eine Gebietstagung in Kassel. Am 20. November 1984 fuhr die Klägerin in einem Personenkraftwagen (Pkw) von ihrer Wohnung in Wolfenbüttel über die Autobahn in eine brennende Zigarette auf den Wagenboden. Sofort versuchte sie, die Zigarette wieder aufzuheben, ohne dabei die Fahrt zu unterbrechen. Daraufhin geriet der Pkw ins Schleudern, kam von der Fahrbahn ab und prallte auf einen Betonsockel. Hierdurch erlitt die Klägerin eine Schädelprellung, eine Kopfplatzwunde, einen Bruch des linken Schlüsselbeins und eine Oberschenkelprellung links.

Nach Einleitung der berufsgenossenschaftlichen Heilbehandlung durch den Durchgangsarzt ermittelte die Beklagte die Einzelheiten des Sachverhalts und lehnte es sodann ab, den Unfall als Arbeitsunfall anzuerkennen sowie Entschädigungsleistungen zu gewähren (Bescheid vom 13. März 1985, Widerspruchsbescheid vom 8. Mai 1985).

Das Sozialgericht (SG) Braunschweig hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 10. Juni 1987): Die Behauptung der Klägerin möge zutreffen, sie habe sich reflexartig nach der brennenden Zigarette zum reinen Selbstschutz gebückt. Das ändere aber nichts daran, daß sie dabei nicht unter Unfallversicherungsschutz gestanden habe. Denn sie sei bei einem sorglosen und vernunftswidrigen Handeln verunglückt, das im eigenwirtschaftlichen Bereich gelegen habe.

Mit der - vom SG durch Beschluß zugelassenen - Sprungrevision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Ihre Verletzungen seien Folgen eines Arbeitsunfalls auf der Fahrt vom Wohnort zum auswärtigen Ort einer betrieblichen Tagung. Weder der äußere noch der innere Zusammenhang der Reise mit dem Betrieb seien unterbrochen gewesen.

Die Klägerin beantragt,

das angefochtene Urteil sowie die angefochtenen Bescheide aufzuheben und festzustellen, daß die Gesundheitsstörungen "Schädelprellung, Kopfplatzwunde, Schlüsselbeinbruch links und Oberschenkelprellung links", die sie am 20. November 1984 erlitten habe, Folgen eines Arbeitsunfalls sind.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

Die Sprungrevision ist begründet.

Die geltend gemachten Gesundheitsstörungen sind Folgen eines Arbeitsunfalls.

Die mit der Anfechtungsklage verbundene Feststellungsklage ist nach § 55 Abs 1 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zulässig. Der Senat konnte es trotz des zunächst unvollständig formulierten Klageantrags offenlassen, ob eine Feststellungsklage zulässig sein könnte, die unabhängig von bestimmten Unfallfolgen auf die Feststellung gerichtet wird, daß ein bestimmtes Ereignis ein Arbeitsunfall ist (dagegen: LSG Baden-Württemberg Breithaupt 1973, 761; Peters/Sautter/Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, 4. Aufl, Anm 2 zu §55; Hennig/Danckwerts/König, SGG, Anm 4 zu § 55 SGG; dafür nach § 55 Abs 1 Nr3 SGG: Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 10. Aufl, Band II S 240m IV und Meyer-Ladewig, SGG, 3. Aufl, RdNr 13 zu § 55). Der Antrag der Klägerin stand von vornherein iS von § 55 Abs 1 Nr 3 SGG im Zusammenhang mit den bestimmten Verletzungsfolgen, die das SG im einzelnen festgestellt hat. Das war - im Hinblick darauf, daß für die Klägerin niemand an der mündlichen Verhandlung vor dem SG teilgenommen hatte - der Klageschrift zu entnehmen. Mangels weiterer Ermittlungen der Beklagten hinsichtlich der Schadenshöhe ist es auch zulässig, sich gegenüber dieser Körperschaft des öffentlichen Rechts mit einer Feststellungsklage anstelle einer Leistungsklage zu begnügen (s BSGE 10, 21, 25; 36, 71, 72 und 111, 115).

Das Begehren der Klägerin ist auch in der Sache begründet. Auf ihrer Geschäftsreise nach Kassel als dem auswärtigen Ort einer betrieblichen Tagung stand sie nach § 548 Abs 1 Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz (vgl Brackmann, aaO, Band II S 481q mwN). Danach waren während der Fahrt im Pkw auf der Autobahn alle Tätigkeiten versichert, die dem Zweck dieser Reise dienten, vor allem das Führen des Kraftfahrzeugs in Richtung Kassel. Alle dabei auftretenden Gefahren wurden von dem Versicherungsschutz erfaßt. Nach den Feststellungen des SG hat die Klägerin diese versicherte Tätigkeit ununterbrochen bis zum Eintritt des Unfalls verrichtet. Ihr gesamtes Verhalten war während der andauernden Fahrt dem betrieblichen Zweck, nach Kassel zu gelangen, untergeordnet.

Wer auf einer Geschäftsreise ununterbrochen einen betrieblichen Zweck verfolgt, verliert weder durch verbotswidriges Handeln noch durch schuldhaftes Verursachen eines Arbeitsunfalls - ausgenommen den hier nicht festgestellten Fall der Absicht - den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung (§ 548 Abs 3, § 553 RVO). Unter dieser Voraussetzung geht der Versicherungsschutz auch nicht wegen einer sogenannten selbstgeschaffenen Gefahr verloren. Nur wer aus selbständigen, betriebsfremden Motiven unabhängig von dem Betriebszweck eine selbstgeschaffene erhöhte Gefahr herbeigeführt hat, kann keine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung verlangen, wenn die selbstgeschaffene Gefahr die zunächst noch vorhandenen betriebsbedingten Umstände soweit zurückgedrängt hat, daß sie keine wesentlichen Bedingungen mehr für den Unfall gebildet haben (ständige Rechtsprechung des Senats im Anschluß an die Rechtsprechung des Reichsversicherungsamts -RVA-, s SozR 2200 § 548 Nr 60 mwN und § 550 Nr 73 mwN). Im vorliegenden Fall wird das umstrittene Bücken und Suchen nach der entfallenen Zigarette nicht von einem derart selbständigen, betriebsfremden Zweck getragen. Dagegen stehen die vom SG festgestellten Tatsachen, daß die Klägerin die Fahrt ununterbrochen fortgesetzt und daß die entfallene Zigarette gebrannt hat. Beides spricht dafür, daß die Klägerin gerade in dieser Weise aus dem übergeordneten Zweck gehandelt hat, die Fahrt unversehrt fortzusetzen.

In der Bedeutung für die Unfallentstehung ist danach das Gewicht aller betriebsbedingten Umstände der Fahrt als wesentliche Bedingungen des Unfalls durch das umstrittene Bücken und Suchen nach der entfallenen Zigarette weder aufgewogen noch gar in den Hintergrund gedrängt worden. Dem vom SG hervorgehobenen Motiv, die entfallene Zigarette eigenwirtschaftlich weiterrauchen zu wollen, kann nur ein geringes, untergeordnetes Gewicht beigemessen werden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1666621

NJW 1988, 2638

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