Entscheidungsstichwort (Thema)
Höhe des Zuschlags zum Kindergeld (22 %) vor Inkrafttreten des 12. BKGGÄndG. authentische Interpretation des Gesetzgebers. Rückwirkung von Gesetzen. Gesetzeslücke. teleologische Reduktion
Orientierungssatz
Ist das zu versteuernde Einkommen (§ 2 Abs 5 EStG) des Berechtigten geringer als der Grundfreibetrag nach § 32a Abs 1 EStG, ist das Kindergeld für die Kinder, für das dem Berechtigten der Kinderfreibetrag zusteht, in vollem Umfange um den nach § 11a Abs 6 BKGG idF vom 27.6.1985 bemessenen Zuschlag zu erhöhen. Dies gilt auch für den Fall der Besteuerung nach § 32b EStG.
Normenkette
BKGG § 11a Abs 6 Fassung: 1985-06-27; BKGG § 11a Abs 6 S 2 Fassung: 1989-06-30; EStG § 2 Abs 5, § 32a Abs 1 Nr 1, § 32b Abs 1, § 32b Abs 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des Zuschlags zum Kindergeld (§ 11a des Bundeskindergeldgesetzes -BKGG-) für das Jahr 1987.
Nach dem Steuerbescheid vom 31. März 1988 erzielten der Kläger und seine Ehefrau im Veranlagungszeitraum 1987 unter Berücksichtigung zweier Kinderfreibeträge von je 2.484,- DM ein zu versteuerndes Einkommen von 4.062,- DM. Da die Ehegatten zusätzliche Leistungen iS von § 32b Abs 1 Ziff 1 Einkommensteuergesetz (EStG) bezogen, wurde ein besonderer Steuersatz (§ 32b Abs 2 EStG) in Höhe von 6,719 % errechnet. Mit Bescheid vom 29. April 1988 bewilligte die Beklagte den Kindergeldzuschlag für das Jahr 1987 nach einem Prozentsatz von 15,281 (22 - 6,719). Hiergegen erhob der Kläger erfolglos Widerspruch (Bescheid vom 7. Juni 1988).
Im Klageverfahren hat das Sozialgericht die Beklagte antragsgemäß unter Abänderung des Bescheides vom 29. April 1988 idF des Widerspruchsbescheides verurteilt, dem Kläger für das Jahr 1987 Kindergeldzuschlag nach einem Prozentsatz von 22 zu gewähren (Urteil vom 17. November 1988). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und im wesentlichen ausgeführt (Urteil vom 28. Februar 1989): Der Kläger habe nach dem Wortlaut des Gesetzes Anspruch auf einen Kindergeldzuschlag in Höhe von 22 vH des Unterschiedsbetrages zwischen seinem zu versteuernden Einkommen und dem Grundfreibetrag für Verheiratete. Es liege auch keine Gesetzeslücke vor, die im Wege der Rechtsanalogie durch die Rechtsprechung auszufüllen wäre. Der Gesetzgeber habe mit Einführung des Kindergeldzuschlags Eltern mit niedrigem und deshalb ganz oder teilweise steuerfreiem Einkommen den steuerpflichtigen Kindergeldempfängern gleichstellen wollen, deren Steuerschuld in Höhe des Kinderfreibetrages nach dem Steuersatz der unteren Proportionalzone des Einkommensteuertarifs, dh 22 vH, gemindert werde. Allerdings sei dem Gesetzgeber bekannt gewesen, daß im Einzelfall für Teile des zu versteuernden Einkommens ein anderer, niedrigerer Steuersatz gelte. Das besondere Besteuerungsverfahren nach § 32b EStG sei jedoch bei der Festsetzung der Höhe des Kindergeldzuschlags nicht besonders berücksichtigt worden. Eine Regelungslücke liege insbesondere deshalb nicht vor, weil sich der Gesetzgeber aus Kostenerwägungen, aber auch aus Gründen der Praktikabilität bei der Berechnung des Kindergeldzuschlags für den Vomhundertsatz von 22 entschieden habe. Dem Gesetzgeber sei die Begünstigung einkommensschwacher Eltern im Besteuerungsverfahren nach § 32b EStG auch nachträglich bekannt geworden. Dennoch habe er bisher keine Veranlassung gesehen, das Gesetz entsprechend zu ändern. Es bestehe daher keine Veranlassung, vom klaren Wortlaut des Gesetzes abzuweichen.
Die Beklagte rügt mit der vom LSG zugelassenen Revision eine Verletzung des § 11a Abs 6 BKGG. Nach dem Zweck und der Konstruktion des Gesetzes könne nicht davon ausgegangen werden, daß der Gesetzgeber aus Vereinfachungsgründen bewußt eine Begünstigung der der Besteuerung nach § 32b EStG unterliegenden Steuerpflichtigen in Kauf nehmen wollte, zumal die Begünstigung keineswegs geringfügig sei. Es handele sich somit um eine planwidrige Gesetzeslücke, die dahingehend auszufüllen sei, daß sich der Kindergeldzuschlag in Fällen der Besteuerung nach § 32b EStG nicht nach dem Satz von 22 % bemesse, sondern nach der Differenz zwischen 22 % und dem für den Berechtigten festgestellten individuellen besonderen Steuersatz. Dies ergebe sich vor allem aus dem Umstand, daß der Gesetzgeber diese Lücke mit dem Zwölften Gesetz zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes (12. BKGG-ÄndG) vom 30. Juni 1989 (BGBl I 1294 -nF-) iS der bisherigen Praxis der Kindergeldkassen geschlossen habe. Hierbei handele es sich um eine klarstellende Regelung, die auch für die nach altem Recht zu beurteilenden Fälle gelte. Dies ergebe sich aus der Gesetzesbegründung und aus dem Fehlen einer Überleitungsvorschrift. Würde man anders verfahren, dann wäre auch zu prüfen, ob der Gesetzgeber damit nicht Ungleiches gleich behandeln würde und damit gegen Art 3 des Grundgesetzes (GG) verstoßen hätte.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 28. Februar 1989 und des Sozialgerichts Aurich vom 17. November 1988 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Der Kläger hält das angefochtene Urteil für zutreffend. Insbesondere liege eine Gesetzeslücke nicht vor. Der Gesetzgeber habe bei der bisherigen Fassung des BKGG bewußt auf eine Differenzierung des Prozentsatzes verzichtet.
Entscheidungsgründe
Der Senat hat mit Zustimmung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entschieden (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG).
Die Revision ist unbegründet. Die Vorinstanzen haben die Beklagte zu Recht verurteilt, dem Kläger den für die streitige Zeit zu zahlenden Zuschlag zum Kindergeld nach dem in § 11a Abs 6 BKGG aF genannten Vomhundertsatz von 22 zu gewähren.
Anzuwenden ist § 11a BKGG idF des Elften Gesetzes zur Änderung des Bundeskindergeldgesetzes (11. BKGG-ÄndG) vom 27. Juni 1985 (BGBl I S 1251 = BKGG aF). Nach Abs 1 dieser Vorschrift ist das Kindergeld für die Kinder, für die dem Berechtigten der Kinderfreibetrag nach § 32 Abs 6 des EStG zusteht, um den nach Abs 6 bemessenen Zuschlag zu erhöhen, wenn das zu versteuernde Einkommen (§ 2 Abs 5 EStG) des Berechtigten geringer ist als der Grundfreibetrag nach § 32a Abs 1 Nr 1 des EStG. Das zu versteuernde Einkommen wird berücksichtigt, soweit und wie es der Besteuerung zugrunde gelegt wurde. Ist die tarifliche Einkommensteuer nach § 32a Abs 5 oder 6 EStG berechnet worden, tritt an die Stelle des Grundfreibetrages das Zweifache dieses Betrages. Die Höhe des Zuschlags beträgt gemäß § 11a Abs 6 BKGG aF ein Zwölftel von 22 vH des Unterschiedsbetrages zwischen dem zu versteuernden Einkommen und dem maßgeblichen Grundfreibetrag, höchstens von 22 vH der Summe der dem Berechtigten zustehenden Kinderfreibeträge. Die Herabsetzung des Prozentsatzes auf 19 vH aus Anlaß des Steuerreformgesetzes 1990 vom 25. Juli 1988 (BGBl I S 1093) hat dabei außer Betracht zu bleiben (vgl die Übergangsvorschrift in § 44b BKGG).
Hingegen ist entgegen der Annahme der Beklagten die Vorschrift des § 11a Abs 6 Satz 2 BKGG nF nicht entscheidungserheblich. Diese gesetzliche Neuregelung - eingefügt durch das 12. BKGG-ÄndG vom 30. Juni 1989 (BGBl I S 1294) - bestimmt, daß in Fällen der Steuerfestsetzung nach § 32b des EStG an die Stelle des nach Satz 1 maßgeblichen Vomhundertsatzes ein Vomhundertsatz in Höhe des Unterschiedes zwischen dem nach Satz 1 maßgeblichen Vomhundertsatz und dem im Steuerbescheid ausgewiesenen besonderen Steuersatz tritt. Der Anwendbarkeit dieser Fassung steht entgegen, daß der Vorschrift des § 11a Abs 6 Satz 2 BKGG nF keine Rückwirkung beigegeben ist. Auch aus dem Fehlen einer Übergangsvorschrift folgt, daß § 11a Abs 6 Satz 2 BKGG nF frühestens am Tage nach der Verkündung (8. Juli 1989) in Kraft getreten ist (Art 8 des 12. BKGG-ÄndG, aaO). Ebensowenig können aus der Gesetzesbegründung Hinweise für eine sog authentische Interpretation des Gesetzgebers, dh eine Klarstellung, wie die schon bisher bestehende gesetzliche Bestimmung zu verstehen war, entnommen werden (vgl BSGE 58, 243, 246). Der Gesetzgeber (vgl BT-Drucks 11/4686) ist zwar in der allgemeinen Begründung zum Entwurf des 12. BKGG-ÄndG von zum Teil klarstellenden Änderungen ausgegangen. Zweifelhaft ist jedoch bereits, ob dies auch auf die Einfügung des § 11a Abs 6 Satz 2 BKGG nF bezogen werden kann. Das kann jedoch offen bleiben. Denn auch bei einer beabsichtigten Klarstellung kann jedenfalls dann nicht auf eine Rückwirkung der Gesetzesänderung geschlossen werden, wenn - wie hier - in der Gesetzesbegründung (aaO) weder der Gesichtspunkt der Rückwirkung noch der einer "authentischen Interpretation" angesprochen worden ist. Die Gesetzesbegründung läßt nicht einmal erkennen, daß die Neufassung die bisherige Auslegung der Vorschrift durch die Beklagte nachträglich bestätigen wollte. Somit sind hinreichende Anhaltspunkte aus den Gesetzesmaterialien für eine rückwirkende Geltung der Neufassung des § 11a Abs 6 Satz 2 BKGG nicht erkennbar.
Überdies wäre eine ausdrückliche gesetzliche Regelung über die Rückwirkung aus Gründen der Rechtssicherheit erforderlich. Das Rechtsstaatsprinzip gebietet, mit hinreichender Klarheit ersichtlich zu machen, zu welchem Zeitpunkt ein Gesetz und insbesondere, ob es mit Rückwirkung in Kraft treten soll. Sowohl Normadressaten als auch Exekutive und Gerichte müssen auf möglichst einfache und eindeutige Weise feststellen können, ab wann die neue Vorschrift anzuwenden ist (vgl BVerfGE 42, 263, 285). Nach der Gesetzesfassung und den entsprechenden Materialien kann dies frühestens der Tag nach der Verkündung des Änderungsgesetzes sein.
Die Revision kann sich ferner nicht auf die Entstehungsgeschichte des § 11a BKGG berufen. Mit der Einführung des Kindergeldzuschlags ab 1. Januar 1986 wollte der Gesetzgeber den Eltern, denen für ihre Kinder Kindergeld und der vom gleichen Zeitpunkt an auf 2.484,- DM erhöhte Kinderfreibetrag des EStG zusteht, die aber mangels hinreichendem Einkommen den Kinderfreibetrag nicht oder nicht voll nützen können, einen Ersatz in Form eines Zuschlags zum Kindergeld gewähren (vgl BT-Drucks 10/2886, S 7). Der Vomhundertsatz von 22 vH des nicht genutzten Teiles des Kinderfreibetrages entsprach dem Steuersatz, der damals für die unterste Progressionszone des Einkommensteuertarifs galt. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen (BT-Drucks aaO), daß im Interesse der Praktikabilität der Regelung außer Betracht bleiben müsse, ob im Einzelfall für Teile des zu versteuernden Einkommens ein anderer, niedrigerer Steuersatz gelte. Aus Gründen dieses dualen Systems zwischen der kinderbezogenen steuerlichen Entlastung und dem Kindergeld hat sich der Gesetzgeber bei der Fassung des § 11a BKGG somit an das geltende Einkommensteuerrecht angelehnt. Dabei hat er für die Höhe des Zuschlags zum Kindergeld eine pauschale Regelung gewählt.
Ohne Bedeutung ist, ob es gesetzestechnisch ohne weiteres möglich gewesen wäre, die Regelung des Kindergeldzuschlages vollständig an die Neugestaltung des steuerlichen Familienlastenausgleichs anzupassen.
Die Revision kann schließlich nicht einwenden, der Gesetzgeber habe die in § 32b Abs 1 Ziff 1 EStG erfaßten Sachverhalte nicht gesehen, und deshalb sei diese Lücke bereits für die alte Fassung des § 11a Abs 6 BKGG nach dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Vorschrift auszufüllen. Methodisch will die Beklagte damit eine teleologische Reduktion des § 11a Abs 6 BKGG aF iS der Neuregelung des § 11a Abs 6 Satz 2 BKGG nF erreichen. Eine derartige Lücke bestand jedoch nicht. Denn es ist nicht erkennbar, daß es sich um eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes handelte (vgl BSG in SozR 4100 § 138 Nr 17; BSGE 25, 150, 151; BVerfGE 34, 269, 286 f; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl 1983, S 354 f, 358). Ob sie vorliegt, ist nach der dem Gesetz zugrundeliegenden Regelungsabsicht, dem mit ihm verfolgten Zweck und dem Plan des Gesetzgebers zu beurteilen. Eine solche Gesetzeslücke, die zur gesetzesimmanenten Rechtsfortbildung berechtigt, ist jedoch abzugrenzen von einer fehlerhaften gesetzlichen Regelung im Sinne der Rechtspolitik. Letzteres ist anzunehmen, wenn das Gesetz nicht unvollständig, sondern aufgrund einer von außen an das Gesetz herangetragenen, rechtspolitisch begründeten Kritik als fehlerhaft erscheint (vgl Larenz, aaO). Dies ist im vorliegenden Rechtsstreit der Fall.
Es liegt auch ein Verstoß gegen Art 3 GG nicht vor. Wenn der Gesetzgeber einen Komplex von Sachverhalten ua aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität gleich regelt, können nicht einzelne Sachverhalte ohne ausdrückliche gesetzliche Legitimation davon ausgeklammert werden. Im übrigen besteht für den Gesetzgeber ein weiter Gestaltungsspielraum, dessen Grenzen erst überschritten sind, wenn sachlich einleuchtende Gründe für eine getroffene Differenzierung schlechterdings nicht mehr erkennbar sind (vgl BVerfGE 69, 150, 160 mwN). Schließlich ist zu bedenken, daß selbst bei der Annahme eines Verstoßes gegen den Gleichheitssatz im Rechtsstreit eines Angehörigen der begünstigten Gruppe eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht nach Art 100 GG unzulässig ist, da dieses nur im Rechtsstreit eines Angehörigen der benachteiligten Gruppe angerufen werden kann (vgl BVerfGE 66, 100).
Endlich sind auch die entgegenstehenden Durchführungsanweisungen (GMBl 1987, S 164), die der Verwaltungspraxis der Beklagten zugrunde liegen, nicht entscheidungserheblich. An sie ist allenfalls die Verwaltung (vgl § 15 Abs 1 BKGG), keinesfalls sind daran die Gerichte gebunden. Aus ihnen folgt lediglich, daß die von der Revision vertretene Auffassung rechtspolitisch erwünscht gewesen sein mag. Das Gesetz war jedoch dadurch nicht unvollständig, sondern bestenfalls änderungsbedürftig.
Da nach den unangefochtenen Tatsachenfeststellungen des LSG das zu versteuernde Einkommen (§ 2 Abs 5 EStG) des Klägers im Jahre 1986 geringer war als der Grundfreibetrag nach § 32a Abs 1 EStG, ist das Kindergeld für die Kinder, für das dem Kläger der Kinderfreibetrag zusteht, in vollem Umfange um den nach § 11a Abs 6 BKGG aF bemessenen Zuschlag zu erhöhen. Demgemäß entspricht das angefochtene Urteil der Sach- und Rechtslage.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen