Leitsatz (amtlich)

Ein Bediensteter einer LVA, dem die Überwachung der Beitragsentrichtung der Betriebe (RVO § 1426 Abs 3) und die Überprüfung der Beitragseinzugsstellen (RVO § 1437) obliegt, ist in Kammern und Senaten, die über den Grund und die Höhe von Sozialversicherungsbeiträgen entscheiden, als ehrenamtlicher Beisitzer ausgeschlossen.

 

Normenkette

SGG § 17 Fassung: 1955-08-17; RVO § 1426 Abs. 3 Fassung: 1957-02-23, § 1437 Fassung: 1957-02-23

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 10. Februar 1959 mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht Hamburg zurückverwiesen.

Von Rechts wegen.

 

Tatbestand

Der Kläger war von 1949 bis 1952 in der Invalidenversicherung (JV) pflichtversichert, ohne die Versicherung freiwillig fortgesetzt zu haben. Im Mai 1957 beantragte er bei der Beklagten, ihm nach § 1303 der Reichsversicherungsordnung (RVO) die Hälfte der entrichteten Beiträge zu erstatten. Die Beklagte lehnte diesen Antrag durch Bescheid vom 2. September 1957 mit der Begründung ab, die Voraussetzungen des § 1303 RVO seien nicht erfüllt; denn nach dieser Vorschrift werde vorausgesetzt, daß die Versicherungspflicht nach dem Inkrafttreten des Neuregelungsgesetzes ihr Ende gefunden habe. Vorliegend sei dies aber schon im Jahre 1952 der Fall gewesen.

Das vom Kläger gegen diesen Bescheid angerufene Sozialgericht Hamburg hob durch Urteil vom 10. Februar 1958 den angefochtenen Bescheid auf und verurteilte die Beklagte, dem Kläger die in den entrichteten Beiträgen enthaltenen Arbeitnehmeranteile zu erstatten. Die gegen dieses Urteil eingelegte Berufung der Beklagten wies das Landessozialgericht durch Urteil vom 10. Februar 1959 in der Besetzung mit Landessozialgerichtsrat Dr. A als Vorsitzendem, den Landessozialgerichtsräten Dr. S und Dr. B als weiteren Berufsrichtern sowie den Landessozialrichtern H und S als ehrenamtlichen Beisitzern zurück. Es stellte sich auf den Standpunkt, daß auch diejenigen Versicherten einen Erstattungsanspruch nach § 1303 Abs. 1 RVO haben, deren Versicherungspflicht vor dem 1. Januar 1957 weggefallen ist. Diesem Anspruch stehe auch nicht entgegen, daß die Zweijahresfrist des § 1303 Abs. 1 Satz 3 RVO erst nach dem 31. Dezember 1956 abgelaufen sei. Es hat die Berufung zugelassen. Der Vertreter der Beklagten hatte in der mündlichen Verhandlung erklärt: "Ich weise darauf hin, daß bei dem heute mitwirkenden Landessozialrichter S die Ausschließungsgründe des § 35 Abs. 1 SGG in Verbindung mit § 17 Abs. 3 SGG vorzuliegen scheinen. Er ist als Beamter in unserer Abteilung 3, in welcher Beitragsstreitigkeiten bearbeitet werden, tätig." Der Landessozialrichter S hatte daraufhin erklärt: "Es ist zwar richtig, daß ich in der Abteilung 3 der Beklagten tätig bin. Diese Abteilung untergliedert sich aber in mehrere Arbeitsgruppen. Ich habe in meiner Arbeitsgruppe mit Beitragserstattungsstreitigkeiten bisher nichts zu tun gehabt und auch heute nichts zu tun. Mein Arbeitsgebiet ist die Prüfung der Einzugsstellen." Das Berufungsgericht hat zu der Frage, ob S als Landessozialrichter ausgeschlossen ist, keine Stellung genommen. Eine Anfrage bei der Beklagten hat ergeben, daß S mit der Überwachung der Beitragsentrichtung der Betriebe, für welche Betriebskrankenkassen errichtet sind (§ 1426 Abs. 3 RVO) und mit der Überprüfung der Beitragseinzugstellen der Krankenkassen (§ 1437 RVO) betraut war. Der erkennende Senat des Berufungsgerichts war nach dem Geschäftsverteilungsplan des Berufungsgerichts u.a. für Streitigkeiten über den Grund und die Höhe von Sozialversicherungsbeiträgen zuständig.

Gegen dieses, ihr am 24. März 1959 zugestellte Urteil hat die Beklagte mit Schriftsatz vom 6. April 1959, eingegangen am 10. April 1959, Revision eingelegt und diese mit Schriftsatz vom 5. Mai 1959, eingegangen am 12. Mai 1959, begründet.

Sie rügt, das Landessozialgericht sei nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen; denn der Landessozialrichter S sei nach § 35 in Verbindung mit § 17 Abs. 3 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) von der Mitwirkung als Richter ausgeschlossen gewesen, da er in ihren Diensten stehe und der erkennende Senat des Berufungsgerichts nach dem Geschäftsverteilungsplan über Streitigkeiten aus dem Arbeitsgebiet ihres Bediensteten S zu entscheiden habe. Der Begriff "Arbeitsgebiet" in § 17 Abs. 3 SGG könne nicht so eng aufgefaßt werden, daß darunter nur das tatsächliche, sachlich und räumlich abgegrenzte Arbeitsgebiet des jeweiligen Sozialrichters zu verstehen sei; denn eine solche Auslegung gehe an dem Sinn und Zweck der Vorschrift, eine Interessenkollision zu vermeiden, vorbei und beachte auch nicht deren Entstehungsgeschichte. Der Begriff müsse vielmehr auf den gesamten Aufgabenkreis des betreffenden Versicherungsträgers, dem der Bedienstete angehöre, bezogen werden. Nur durch diese Auslegung werde vermieden, daß bei jeder Sitzung, an der ein solcher Sozialrichter teilnehme, geprüft werden müsse, ob er nicht doch schon einmal, und sei es auch nur vertretungsweise, in dem betreffenden Arbeitsgebiet tätig gewesen sei. Zur Sache selbst vertritt sie den Standpunkt, daß mit § 1303 RVO ein neuer, auf die Erstattung von Beiträgen in einem bestimmten, gesetzlich vorgesehenen Umfang gerichteter Anspruch unter neuen rechtlichen Bedingungen geschaffen worden sei, wie ihn das bisherige Recht nicht gekannt habe. Es würden daher nur diejenigen Fälle erfaßt, in welchen die Versicherungspflicht nach dem Inkrafttreten des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) entfallen sei. Wäre beabsichtigt gewesen, die Erstattung auch in den Fällen zu gewähren, in denen die Versicherungspflicht vor diesem Zeitpunkt entfallen sei, so hätte dies im Gesetz seinen Ausdruck finden müssen. Dies sei aber nicht der Fall.

Sie hat beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 10. Februar 1959 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte hat keine Anträge gestellt und hat keine Stellung genommen.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden. Da das Landessozialgericht sie zugelassen hat, ist sie auch statthaft. Bedenken gegen ihre Zulässigkeit bestehen somit nicht. Es konnte ihr auch der Erfolg nicht versagt bleiben.

Wie die Beklagte zu Recht rügt, war der erkennende Senat des Berufungsgerichts fehlerhaft besetzt, da Schultz nach § 35 Abs. 1 Satz 2 SGG in Verbindung mit § 17 Abs. 3 SGG als Landessozialrichter in diesem Senat ausgeschlossen war.

§ 17 Abs. 3 SGG stellt einen gesetzlichen Ausschließungsgrund dar. Die Folgen der fehlerhaften Besetzung treten also kraft Gesetzes ein, ohne daß es einer Ablehnung des Richters bedarf. Liegt ein Ausschließungsgrund vor, trifft das Gericht seine Entscheidung aber trotzdem in der fehlerhaften Besetzung, so unterliegt diese Entscheidung, wenn ein Rechtsmittel eingelegt ist, der Aufhebung durch die Rechtsmittelinstanz. Etwas anderes könnte nur gelten, wenn das Vordergericht selbst schon entschieden hat, daß ein Ausschließungsgrund nicht vorliegt (vgl. hierzu Rosenberg, Lehrbuch des Deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl. § 22 II 3b). Vorliegend hat das Berufungsgericht jedoch hierüber selbst keine Entscheidung getroffen, obwohl die Beklagte auf diesen Mangel hingewiesen hat.

Der Wortlaut des § 17 Abs. 3 SGG gestattet einmal die Auslegung, daß es auf "das Arbeitsgebiet" des Bediensteten in dem Sinne seines Referats ankommt (so im Ergebnis LSG Baden-Württemberg, OrtsKK 1955 S. 81; LSG Celle, Sgb. 1954 S. 76; Rohwer-Kahlmann in DOK 1955 S. 476). Zum anderen gestattet er eine Auslegung dahin, daß unter "Arbeitsgebiet" die Materie, etwa Rentenfeststellung, Beitragseinziehung oder ärztlicher Dienst, verstanden wird, in welcher der betreffende Bedienstete tätig ist. Darüber hinaus wird auch die Ansicht vertreten, daß das Arbeitsgebiet eines solchen Bediensteten den gesamten Aufgabenkreis des Versicherungsträgers umfaßt (so Peters-Sautter-Wolff, Kommentar zur Sozialgerichtsbarkeit, Anm. 3b zu § 17; Bayer. LSG, Breithaupt 1954 S. 671; Sautter in Anm. zu dem Beschl. des Hess. LSG vom 11.8.1954 in Sgb. 1955 S. 106 ff.).

Der zweiten Auffassung ist der Vorzug vor der ersten zu geben, da sie im Gegensatz zu dieser zu einem sinnvollen Ergebnis führt. Wenn man bedenkt, daß dem begründeten Anliegen, als Richter denjenigen auszuschließen, der in derselben Sache bereits in dem vorhergehenden Verwaltungsverfahren mitgewirkt hat, schon in § 60 Abs. 2 SGG Rechnung getragen ist, so ist nicht recht verständlich, warum jemand darüber hinaus als Richter in einer Kammer ausgeschlossen sein soll, nur weil diese auch zur Entscheidung über Sachen zuständig ist, die aus seinem Referat stammen. Einzig einleuchtender Grund ist, zu vermeiden, daß jemand als Richter bei der Entscheidung von Fragen mitwirkt, über die er sich bereits auf Grund seiner Tätigkeit bei dem Versicherungsträger eine einseitig ausgerichtete Meinung gebildet haben könnte. Dieser Grund aber trifft nicht nur für die Sachen zu, die aus seinem Referat stammen, sondern ebenso für diejenigen Sachen, die aus anderen Referaten desselben oder auch eines anderen Versicherungsträgers stammen, die aber doch zu derselben Materie gehören, in welcher dieser Bedienstete tätig ist. Während also die erstere Auslegung zu einer wenig sinnvollen Abgrenzung führt, wird die zweite Auslegung diesem berechtigten Grundsatz voll gerecht.

Der erkennende Senat neigt allerdings auch nicht zu der dritten Auffassung. Dies gilt jedenfalls, soweit allein die Auslegung des Wortlauts des § 17 Abs. 3 SGG in Frage steht, da unter "Arbeitsgebiet" nur das Sachgebiet verstanden werden kann, welches von dem Bediensteten tatsächlich bearbeitet wird und nicht auch die sonstigen Sachgebiete dieses Versicherungsträgers. Hinzu kommt, daß dem erkennenden Senat diese Auslegung insofern zu eng erscheint, als Bedienstete dritter Versicherungsträger danach nicht ausgeschlossen wären, obwohl sie sich in den von der betreffenden Kammer zu entscheidenden Rechtsfragen auf Grund ihrer beruflichen Tätigkeit ebenfalls einseitig festgelegt haben könnten. Der erkennende Senat verkennt jedoch nicht, daß unabhängig hiervon allgemeine, insbesondere verfassungsmäßige Grundsätze vielleicht zu einem Ausschluß aller Bediensteten eines Versicherungsträgers in Sachen, in welchen dieser Partei ist, führen könnten. Einer Entscheidung dieser Frage bedurfte es hier jedoch nicht, da Schultz schon nach der zweiten Auslegung dieser Vorschrift als Landessozialrichter ausgeschlossen war. Während der maßgebenden Zeit war Schultz als Prüfer zur Überwachung der Beitragsentrichtung der Betriebe, für welche Betriebskrankenkassen errichtet sind (§ 1426 Abs. 3 RVO) sowie zur Überwachung der Beitragseinzugsstellen der Krankenkassen (§ 1437 RVO) eingesetzt. Es wäre hiernach zwar denkbar, die Überprüfung von Betrieben und Beitragseinzugsstellen als Arbeitsgebiet des Schultz anzusehen. Dem erkennenden Senat erschien diese Auslegung jedoch zu eng. Er sieht vielmehr als Arbeitsgebiet des Landessozialrichters Schultz in diesem Sinne an: "Beitragseinziehung und -abführung". Es spricht vieles dafür, innerhalb der von dem erkennenden Senat für richtig gehaltenen Auslegung des § 17 Abs. 3 SGG das Arbeitsgebiet möglichst weit zu fassen, um dem Zweck des Gesetzes zu vermeiden, daß als Richter jemand tätig wird, der in den in Betracht kommenden Rechtsfragen schon einseitig festgelegt ist, möglichst weitgehend Rechnung zu tragen. Ob daher nicht darüber hinaus sogar ganz allgemein als Arbeitsgebiet des S "die Rentenversicherung der Arbeiter" angesehen werden sollte, zumal dann zumindest auch weitgehend die Gefahr ausgeschlossen ist, daß bei einem Wechsel der beruflichen Tätigkeit eines Sozialrichters von dem Gericht übersehen wird, daß er nunmehr als Richter ausgeschlossen ist, kann jedoch hier dahingestellt bleiben, da Schultz bereits nach dieser etwas engeren Abgrenzung als Richter ausgeschlossen war; denn der entscheidende Senat des Berufungsgerichts ist nach dem Geschäftsverteilungsplan des Berufungsgerichts u.a. für "Streitigkeiten über den Grund und die Höhe von Sozialversicherungsbeiträgen" zuständig. Mit der Frage, ob und in welcher Höhe Beiträge zu entrichten sind, aber hatte sich S auch in seinem Arbeitsgebiet zu befassen. S war somit als Richter ausgeschlossen, so daß der entscheidende Senat des Berufungsgerichts in seiner Sitzung vom 10. Februar 1959 nicht ordnungsgemäß besetzt war. Das angefochtene Urteil mußte daher aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen werden.

Die Kostenentscheidung bleibt dem abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2325695

BSGE, 269

Dieser Inhalt ist unter anderem im Deutsches Anwalt Office Premium enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge