Verfahrensgang
Hessisches LSG (Urteil vom 15.12.1959) |
Tenor
Das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 15. Dezember 1959 wird mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
I
Der Kläger war als Kraftfahrer in einem Industrieunternehmen in Weilburg/Lahn beschäftigt. Diese veranstaltete am 15. Dezember 1956 für seine Werksangehörigen eine Weihnachtsfeier, die gegen 19 Uhr offiziell endete. Mehrere auswärts wohnende Veranstaltungsteilnehmer wurden im Auftrage der Betriebsführung vom Kläger mit einem betriebseigenen Kraftwagen nach Hause gefahren. Diese Beförderungen begannen gegen 17 Uhr und dauerten bis etwa 20 Uhr. Die letzte Fahrt führte über das 12 km von Weilburg entfernte Merenberg, wo der Kläger seinen Arbeitskameraden D. ab zusetzen hatte. Unterwegs verspürte der Kläger Hunger. Er hatte zuletzt gegen 14 Uhr bei der Betriebsfeier zu Mittag gegessen. D. lud ihn zu einem Imbiß in seine Wohnung ein und bot ihm frische hausschlachtene Wurst an. Nachdem der Kläger davon ein Stück gegessen und eine Tasse Kaffee dazu getrunken hatte, wurde ihm beim anschließenden Genuß einer Zigarette übel. Auf dem Hof des Hauses, wohin er sich gegeben hatte, um frische Luft zu schöpfen, wurde ihm schwindelig. Er mußte sich an die Hauswand lehnen und sank ohnmächtig zusammen. Dabei zog er sich einen Spiralbruch des rechten Schien- und Wadenbeines zu.
Die Beklagte lehnte durch Bescheid vom 25. März 1957 Entschädigungsansprüche mit der Begründung ab, der Kläger sei einer Einladung D. zu einem Imbiß aus rein privaten Gründen gefolgt und habe daher während der Fahrtunterbrechung nicht unter Versicherungsschutz gestanden, der Unfall sei ohne Mitwirkung betriebsbedingter Umstände aus innerer Ursache eingetreten.
Der Kläger hat diesen Bescheid rechtzeitig angefochten und mit der Klage geltend gemacht, er habe, weil er unterwegs hungrig geworden sei, schon vor dem Einkehren bei D. beabsichtigt, eine Gastwirtschaft aufzusuchen. Das zum Unfall führende Unwohlsein sei durch die Verzögerung der Nahrungsaufnahme und seine dienstliche Beanspruchung hervorgerufen worden.
Das Sozialgericht (SG) Gießen hat den Arbeitgeber des Klägers zum Verfahren beigeladen. Dieser hat darauf hingewiesen, daß die Nahrungsaufnahme zur Erhaltung der Fahrsicherheit des Klägers notwendig gewesen sei. Das SG hat durch Urteil vom 18. November 1958 die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, den Kläger für die Folgen seines Arbeitsunfalls vom 15. Dezember 1956 zu entschädigen. Es ist der Ansicht, durch die Essenseinnahme sei der Versicherungsschutz des Klägers nicht unterbrochen worden, da sie insofern im betrieblichen Interesse gelegen habe, als der Kläger sich für die Durchführung der Fahrtaufträge habe fahrtüchtig erhalten müssen. Den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall und der Betriebstätigkeit des Klägers hält das SG für gegeben, weil das Unwohlsein des Klägers durch verspätete Nahrungsaufnahme hervorgerufen worden sei.
Im Berufungsverfahren hat die Beklagte auf von ihr vorgelegte Sachverständigengutachten des Facharztes für innere Krankheiten Dr. S. und des Facharztes für Orthopädie Dr. S. Bezug genommen. Dr. S. verneint den ursächlichen Zusammenhang zwischen der Nahrungsaufnahme des Klägers und der nachfolgenden Übelkeit, hält dafür eher eine Nikotinintoxikation für wahrscheinlich und erwägt, ob es nicht überhaupt erst infolge des Beinbruches zu einem Ohnmachtsanfall gekommen sei. Das Landessozialgericht (LSG) hat nach Beweiserhebung über die dienstliche Beanspruchung des Klägers sowie über Art. und Umfang seiner Nahrungsaufnahme in der Wohnung D. am Unfalltag durch Urteil vom 15. Dezember 1959 die Berufung zurückgewiesen und zur Begründung im wesentlichen folgendes ausgeführt: Der Kläger habe die Betriebsfahrt unterbrechen müssen, weil er der Stärkung für die Weiterfahrt durch einen Imbiß bedurft habe. Deshalb sei auch während dieser Fahrtpause der Versicherungsschutz nicht aufgehoben gewesen. Der Unfall, der den Kläger in dieser Zeit durch einen Ohnmachtsanfall betroffen habe, sei durch die verspätete Nahrungsaufnahme bedingt worden, und zwar habe der Kläger die frische Wurst vermutlich hastig gegessen, weil er hungrig gewesen sei. Andere Ursachen, die zu einer Ohnmacht geführt haben könnten, seien nicht ersichtlich, insbesondere entgegen der Auffassung des ärztlichen Sachverständigen Dr. S. nicht durch Nikotingenuß erklärbar.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 28. Januar 1960 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 18. Februar 1960 telegraphisch und im Nachgang hierzu durch Schriftsatz am 23. Februar 1960 Revision eingelegt und sie innerhalb der bis zum 28. April 1960 verlängerten Frist des § 164 Abs. 1 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wie folgt begründet: Das LSG habe § 542 der Reichsversicherungsordnung (RVO) nicht richtig angewandt. Es habe verkannt, daß der Kläger unterwegs nicht noch bei dem Arbeitskameraden D. habe einkehren müssen, um sich für die Weiterfahrt zu stärken; denn die Fahrt wäre nach der Zurücklegung weiterer 12 km beendet gewesen. Außerdem habe der Kläger vor Antritt der Fahrten in seiner auf der Betriebsstätte befindlichen Wohnung essen können, so daß kein betriebsbedingter Grund bestanden habe, unterwegs einzukehren. Im übrigen könne kaum angenommen werden, daß der damals 41 Jahre alte Kläger schon sechs Stunden nach seinem Mittagessen so hungrig gewesen sei, daß er unbedingt habe etwas essen müssen. Die Feststellung des angefochtenen Urteils, dem Kläger sei wahrscheinlich infolge seiner vorherigen betriebsbedingten Nahrungsaufnahme übel geworden, sei nicht einwandfrei zustande gekommen. Das LSG habe sich mit dem ärztlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. S. nicht genügend auseinandergesetzt. An die Stelle der den ursächlichen Zusammenhang zwischen dem Unfall des Klägers und seinem vorangegangenen Verhalten verneinenden Ansicht des Sachverständiger habe es seine eigene medizinisch nicht begründete Auffassung gesetzt, nach der eine vermutlich hastige Nahrungsaufnahme den Unfall zur Folge gehabt habe. Den weiteren Möglichkeiten nachzugehen, die für die Klärung der Ohnmachtsursache gegeben gewesen seien, habe das LSG pflichtwidrig unterlassen.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
die Sache zur erneuten Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er nimmt im wesentlichen auf das angefochtene Urteil Bezug. Die von der Revision erhobenen Verfahrensrügen hält er nicht für berechtigt und meint, das Berufungsgericht habe in verfahrensrechtlich einwandfreier Weise die verschiedenen Möglichkeiten der Entstehung des Unfalls gegeneinander abgewogen und sich dabei mit dem Beweisergebnis erschöpfend auseinandergesetzt; es sei zu keiner Fehlentscheidung gelangt.
Die Beigeladene beantragt ebenfalls,
die Revision zurückzuweisen.
Sie schließt sich den Ausführungen des Klägers an.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist durch Zulassung statthaft (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG); sie ist auch form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden, somit zulässig. Sie führte zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
Die Auffassung des LSG, der Kläger habe auch während der Unterbrechung seiner Betriebsfahrt zur Einnahme eines Imbisses in der Wohnung seines Arbeitskameraden D. unter Versicherungsschutz gestanden, ist frei von Rechtsirrtum. Sie beruht in tatsächlicher Beziehung auf der Feststellung, der Kläger sei während der Fahrt hungrig geworden und habe deshalb zu seiner Stärkung für die Weiterfahrt etwas essen müssen. Diese Feststellung hat die Revision nicht mit ausreichend begründeten Verfahrensrügen angegriffen. In ihrem Vorbringen, der damals 41 Jahre alte Kläger könne sechs Stunden nach einem regulären Mittagessen nicht schon wieder so hungrig gewesen sein, daß er etwas habe zu sich nehmen müssen, kann auch nicht die Rüge der Verletzung eines Erfahrungssatzes des täglichen Lebens erblickt werden. Denn einen solchen etwa des von der Revision angedeuteten. Inhalts, daß ein im besten Schaffensalter stehender Mann nicht infolge Hungergefühls zu essen genötigt sei, wenn er regulär zu Mittag gegessen habe und danach seinen Dienst als Kraftfahrer ohne weitere Nahrungsaufnahme bis in die Abendstunden hinein versehe, gibt es nicht. Die allgemeine Lebenserfahrung könnte im Gegenteil eher davon sprechen, daß auch bei Einnahme geregelter Mahlzeiten physiologische Gegebenheiten das plötzliche Auftreten eines starken Hungergefühls verursachen und dadurch nicht nur das Wohlbefinden, sondern auch die Leistungsfähigkeit des Menschen erheblich beeinträchtigen können. Zu der Überzeugung, der Kläger habe auf seiner abendlichen Betriebsfahrt wegen seines Hungergefühls das Bedürfnis nach einer für die Fortsetzung seines Kraftfahrdienstes notwendigen Stärkung verspürt, ist daher das LSG auf Grund der insoweit übereinstimmenden Angaben des Klägers selbst und des Zeugen D. ohne Überschreitung der gesetzlichen Grenzen seines Rechts auf freie richterliche Beweiswürdigung gelangt. Seine Feststellung, der Kläger habe sich durch die Essenseinnahme während der Fahrtpause für die restliche Ausübung seiner betrieblichen Tätigkeit kräftigen wollen, ist somit für das Revisionsgericht bindend (§ 163 SGG).
Diese Feststellung reicht aus, um den Versicherungsschutz des Klägers während dieser Fahrtunterbrechung zu bejahen.
Zwar ist das Essen in der Regel eine dem privaten und daher unversicherten Lebensbereich des Versicherten zuzurechnende Betätigung. Es kann jedoch, wenn es der Wiedererlangung oder Erhaltung der Arbeitsfähigkeit wesentlich dient oder, wie der erkennende Senat in der Entscheidung vom 30. Juni 1960 anläßlich eines entsprechenden Sachverhalts ausgeführt hat, zur Wiedererlangung oder Erhaltung der Arbeitsfähigkeit überhaupt unumgänglich ist, unter bestimmten Voraussetzungen den ursächlichen Zusammenhang mit der nachfolgenden Arbeitstätigkeit begründen (SozR RVO § 543 Bl. Aa 19 Nr. 26). Im vorliegenden Falle sind besondere Umstände gegeben, weiche die Annahme rechtfertigen, daß die Nahrungsaufnahme des Klägers der Aufrechterhaltung seiner Fahrfähigkeit wesentlich diente. Der Kläger verfolgte nach den Feststellungen des angefochtenen Urteils mit der Unterbrechung der Fahrt nicht die Absicht, sich rein privaten Zwecken zuzuwenden. Er genügte vielmehr einer beruflichen Pflicht als Kraftfahrer, indem er die ihm durch seinen Arbeitskameraden gebotene Gelegenheit zu einer Essenspause wahrnahm, um vor der Weiterfahrt sein Hungergefühl zu stillen. Auch wenn sich dieses beim Kläger in einem bloßen körperlichen Unbehagen äußerte, bestand die Gefahr einer Beeinträchtigung seiner Fahrtüchtigkeit, so daß es im Interesse der Erhaltung seiner vollen Fahrfähigkeit lag, sofort etwas zu essen. Daran ändert auch nichts, daß die Fahrt nach weiteren 12 km beendet gewesen wäre. Unter diesen besonderen Umständen hat das LSG die Essenseinnahme des Klägers während der Fahrtpause zu Recht seiner Betriebstätigkeit zugerechnet und den Versicherungsschutz für sein Verhalten auch während der Dauer der Fahrtunterbrechung bejaht.
Die Entscheidung über den Entschädigungsanspruch des Klägers hängt daher davon ab, ob sein Unfall, der ihn nach der Einnahme des Imbisses betroffen hat, die Folge der betrieblich bedingten Nahrungsaufnahme war. Das LSG hat auch diesen Ursachenzusammenhang bejaht und deshalb den Unfall als Arbeitsunfall gewertet. Hierzu reichen jedoch, wie die Revision zutreffend gerügt hat, die tatsächlichen Feststellungen des angefochtenen Urteils nicht aus. Die Annahme des LSG, der Kläger habe infolge seines Hungergefühls vermutlich hastig gegessen, so daß ihm wahrscheinlich durch diese Art. des Genusses frischer Wurst übel geworden sei, ist von der Revision mit Erfolg angegriffen worden. Sie hat insoweit mit Recht geltend gemacht, daß die Überzeugungsbildung des Berufungsgerichts im Sinne des § 128 SGG fehlerhaft sei. Das LSG hätte sich bei der Beurteilung des ursächlichen Zusammenhangs zwischen dem schädigenden Sturz des Klägers und der vorangegangenen Mahlzeit nicht mit der Vermutung begnügen dürfen, daß der Kläger die frische Wurst hastig zu sich genommen und deshalb nicht vertragen habe. Abgesehen davon, daß nach den vorhandenen Beweisunterlagen für eine derartige Vermutung kein ausreichender Anhalt ersichtlich ist, könnte sie auch nicht genügen, die dem Gesetz entsprechende Überzeugung des Gerichts vom Beweis des streitigen Ursachenzusammenhangs zu begründen. Hierfür hätte es näherer tatsächlicher Feststellungen über Art. und Verlauf der Essenseinnahme des Klägers in der Wohnung Dienstbachs bedurft.
Auch die Rüge, das LSG habe sich unter Überschreitung der gesetzlichen Grenzen seines Rechts der freien richterlichen Überzeugungsbildung über das den angeführten Ursachenzusammenhang verneinende ärztliche Gutachten des Sachverständigen Dr. S. ohne wohlerwogene und stichhaltige Gründe hinweggesetzt, ist berechtigt. Dieses Gutachten ist zwar nicht vom Gericht auf Grund einer Beweisanordnung eingeholt, sondern von der Beklagten im Rahmen ihres Prozeßvorbringens vorgelegt worden. Da es sich aber mit Fragen befaßt, deren Beantwortung eine besondere medizinische Fachkunde voraussetzt, hätte das Berufungsgericht von der Ansicht des Sachverständigen Dr. S. nur abweichen dürfen, wenn es für seine eigene Auffassung eine ausreichende Begründung geben konnte. Das ist jedoch nicht geschehen. Das LSG hat, zwar eingehend dargelegt, weshalb es ein durch das Hungergefühl bedingtes, vermutlich hastiges Essen für die einzige in Betracht kommende Ursache der Übelkeit des Klägers hält. Zu dem angeführten Gutachten hat es aber nur mit dem Hinweis Stellung genommen, daß die Vermutung des Sachverständigen Dr. S. dem Kläger sei infolge einer Nikotinintoxikation übel geworden, der Begründung entbehre, da von einem übermäßigen Nikotingenuß bei ihm nicht die Rede sein könne. Abgesehen davon, daß nach den Unterlagen von den Vorinstanzen gar nicht versucht worden ist, zu klären, wieviel der Kläger am Unfalltage geraucht hatte, ist das LSG zu seiner eigenen Auffassung von der Verursachung der Übelkeit gelangt, ohne sich jedenfalls mit der abweichenden Ansicht des Sachverständigen Dr. S. ausreichend auseinanderzusetzen. Seine Erwägungen laufen auf Schlußfolgerungen hinaus, die im wesentlichen das äußere Erscheinungsbild des Unfallgeschehens wiedergeben. Sie lassen indes die Prüfung vermissen, ob die von ihm für wahrscheinlich erachtete Verursachung des Unwohlseins des Klägers den physiologischen Gesetzmäßigkeiten entspricht. Diese für die Entscheidung des vorliegenden Streitfalles wesentliche Frage gehört unzweifelhaft dem Gebiet ärztlicher Fachwissenschaft an. Deshalb hätte es für die Beurteilung dieser Frage einer weiteren fachärztlichen Begutachtung bedurft.
Hiernach ist die Feststellung des LSG, dem Kläger sei infolge der Essenseinnahme übel geworden, nicht verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen.
Auf dieser Verletzung des Verfahrensrechts beruht die angefochtene Entscheidung. Es ist nicht ausgeschlossen, daß das LSG bei, einer gesetzmäßigen Beweiswürdigung und ausreichenden Klärung des Sachverhalts zu einer anderen, der Beklagten günstigen. Entscheidung gelangt wäre (BSG 2, 201).
Da somit in der vorstehend angedeuteten Richtung noch tatsächliche Feststellungen zu treffen sind, konnte das Bundessozialgericht in der Sache selbst nicht entscheiden. Das angefochtene Urteil mußte daher mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufgehoben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die Vorinstanz zurückverwiesen werden (§ 170 Abs. 2 Satz 2 SGG).
Über die Kosten des Revisionsverfahrens wird im abschliessenden Urteil zu entscheiden sein.
Unterschriften
Brackmann, Schmitt, Hunger
Fundstellen