Leitsatz (amtlich)
Der Versicherungsträger kann Ansprüche gegen den Versicherten, die er glaubt wegen Gewährung von Verschollenheitsrenten an dessen Angehörige zu haben, nicht durch Verwaltungsakt geltend machen.
Normenkette
RVO § 1301 Fassung: 1957-02-23; BGB § 826 Fassung: 1896-08-18, § 677 Fassung: 1896-08-18, § 812 Fassung: 1896-08-18, § 823 Abs. 2 Fassung: 1896-08-18, § 276 Fassung: 1896-08-18, § 242 Fassung: 1896-08-18; SVAnpG BE § 78 Abs. 1, 4; RVÜblG BE § 46
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 6. Dezember 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Gründe
Die Beklagte gewährte auf Grund des im November 1948 von der Ehefrau des Klägers - Versicherten - gestellten Antrags der Tochter I der Eheleute vom 1. November 1948 bis 31. März 1958 Waisenrente im Gesamtbetrage von 3.605,70 DM und der Ehefrau Witwenrente vom 1. August 1955 bis 31. März 1958 von zusammen 2.857,- DM. Die Ehefrau des Klägers hatte an Eides Statt versichert, sie habe seit Anfang März 1945 keine Nachricht mehr von dem Kläger erhalten; Suchaktionen in M, H und B seien erfolglos geblieben. Im Februar 1958 erfuhr die Beklagte, daß der Kläger noch lebt. Sie forderte daraufhin mit Bescheid vom 20. Juni 1958 den Betrag von 6.462,70 DM als zu Unrecht gezahlte Leistungen auf Grund des § 826 in Verbindung mit § 276 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) von dem Kläger zurück.
Hiergegen hat der Kläger Klage erhoben. Das Sozialgericht (SG) hat den Bescheid der Beklagten aufgehoben und - unter Ziff. II des Urteilstenors - den Rechtsweg zu den SGen für unzulässig erklärt. Auf die Berufung der Beklagten hin hat das Landessozialgericht (LSG) Rheinland-Pfalz die Ziff. II des Urteils des SG aufgehoben und im übrigen die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Es hat dazu ausgeführt, die Beklagte könne den Betrag von 6.462,70 DM nicht durch Bescheid von dem Kläger zurückfordern. Ob etwa ein Rückforderungsanspruch aus § 1301 der Reichsversicherungsordnung (RVO) gegeben sei, könne dahinstehen, denn dieser könne nur gegen die Ehefrau und Tochter des Klägers als Empfänger der Leistungen gerichtet werden. Soweit die Beklagte meine, sie habe aus Geschäftsführung ohne Auftrag nach §§ 677 ff, aus ungerechtfertigter Bereicherung nach §§ 812 ff oder aus unerlaubter Handlung nach §§ 823 ff BGB oder auf Grund ihrer öffentlich-rechtlichen Beziehung zum Kläger einen Anspruch gegen diesen, müsse sie Klage bei dem zuständigen Gericht erheben. Sie könne sich einen solchen Anspruch nicht durch Bescheid zusprechen. Hierzu berechtigten auch nicht die §§ 46 des Berliner Rentenversicherungs-Überleitungsgesetzes ( RVÜG ), 78 des Berliner Sozialversicherungs-Anpassungsgesetzes (BSVAG). Das SG habe daher zu Recht den Bescheid der Beklagten aufgehoben. Ziff. II des Urteilsspruchs des SG (Unzulässigkeit des Sozialgerichtswegs) sei aufzuheben, weil dieser Anspruch nach den Entscheidungsgründen des SG wohl so verstanden werden solle, daß die Beklagte ihren Anspruch nicht beim SG geltend machen könne, sondern beim ordentlichen Gericht einklagen müsse; dadurch sei die Beklagte beschwert, denn das SG habe in diesem Rechtsstreit über die Frage, welcher Rechtsweg der Beklagten offen stehe, wenn sie gegen den Kläger klagen wolle, nicht zu entscheiden gehabt.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Mit der Revision beantragt die Beklagte,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Speyer aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil sowie das Urteil des SG Speyer aufzuheben und den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Sie rügt, das LSG habe § 78 BSVAG in Verbindung mit § 46 RVÜG und § 1301 RVO unrichtig angewendet. Sie habe einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch gegen den Kläger. Hierfür komme es darauf an, welcher Rechtssphäre - der des öffentlichen oder der des Privatrechts - das Verhältnis des Versicherungsträgers zu dem mittelbaren oder unmittelbaren Empfänger der Leistung entstamme. Der Kläger sei seit seiner ersten Beitragsleistung Versicherter. Das bedeute, daß er von dem genannten Zeitpunkt an zu dem Versicherungsträger in ein gegenseitig Rechte und Pflichten begründendes Verhältnis getreten sei. Er stehe somit unmittelbar in einem öffentlich-rechtlichen Verhältnis zu dem Versicherungsträger. Da sie für den Kläger seiner Unterhaltspflicht nachgekommen sei, habe sie ihn in Höhe ihrer Leistungen von dieser Unterhaltsverpflichtung befreit. Es bestehe deshalb ein aus den privat-rechtlichen Vorschriften über die ungerechtfertigte Bereicherung hervorgegangener öffentlich-rechtlicher Anspruch gegen den Kläger. Deshalb sei ihr Bescheid zu Recht ergangen.
Aber selbst wenn man der Ansicht sein sollte, daß der Anspruch gegen den Kläger nur zivilrechtlicher Art sei, so sei nach Berliner Landesrecht dennoch der Bescheid gerechtfertigt. Dies folge aus § 78 Abs. 1 und 4 BSVAG, wonach Dritte zur Zahlung von Geldleistungen an den Versicherungsträger durch Bescheid verpflichtet werden könnten. Daß diese Vorschrift auch für Rückforderungen aus der Rentenversicherung gelte, ergebe sich aus den Worten "Über die Leistungen der Unfall- und Rentenversicherung sowie über ... Rückforderung von Renten ist ein schriftlicher Bescheid zu erteilen." Hiermit habe der Gesetzgeber die Trennung zwischen sog. versicherungsmäßigen Rückzahlungsansprüchen und anderen zwar nicht in materieller Hinsicht, wohl aber im prozessualen Bereich aufgehoben und den Versicherungsträger - jedenfalls in Berlin - in die Lage versetzt, jeden Anspruch dieser Art im Verwaltungsverfahren durchzusetzen. § 78 BSVAG habe selbst rein privat-rechtliche Ansprüche als Verwaltungsprozeßsachen kraft Zuweisung aus dem ordentlichen Rechtsweg herausgenommen und der Sozialgerichtsbarkeit zugeteilt.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen,
hilfsweise,
den Rechtsstreit zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Er ist der Ansicht, daß § 78 BSVAG Berliner Landesrecht sei und auf eine Verletzung dieser Vorschrift die Revision nicht gestützt werden könne. Im übrigen hält er das angefochtene Urteil für richtig.
Die Revision ist zulässig, aber unbegründet.
Es kann dahinstehen, ob die Beklagte überhaupt berechtigt ist, auf Grund des § 46 RVÜG in Verbindung mit § 78 BSVAG - also auf Grund Berliner Rechts - einen Rückforderungsbescheid gegen den nicht im Lande Berlin wohnenden Kläger zu erlassen, jedenfalls kann sie mit Hilfe dieser Vorschriften keine Revision des Berufungsurteils erreichen. Das LSG hat nämlich § 78 BSVAG dahin ausgelegt, daß diese Vorschrift weder eine Ermächtigung zum Erlaß des angefochtenen Bescheides noch eine Anspruchsgrundlage enthält, die den Bescheid rechtfertigen könnte. An diese Beurteilung ist der Senat gebunden. Denn bei den Vorschriften der §§ 46 RVÜG , 78 BSVAG handelt es sich um Landesrecht, das gemäß § 162 Abs. 2 SGG nicht revisibel ist. Das hat das BSG für § 78 BSVAG bereits ausdrücklich entschieden (BSG 12, 273 - 276 = SozR § 78 BSVAG Bl. Aa 1). Diese Ansicht, der der Senat folgt, wird nicht dadurch ausgeschlossen, daß das Berufungsgericht in Rheinland-Pfalz die erwähnten Vorschriften des Berliner Landesrechts - vielleicht nach Regeln des interlokalen Rechts - herangezogen hat. Denn hierdurch wird das "fremde" Landesgesetz nicht Recht, das im Bezirk des Berufungsgerichts gilt, wie es § 162 Abs. 2 SGG u. a. für die Revisibilität erfordert. Eine Vorschrift ist eine im Bezirk des Berufungsgerichts geltende dann, wenn der Bezirk des Berufungsgerichts ganz oder teilweise zum räumlichen Geltungsbereich des betreffenden Gesetzes gehört, d. h. zu dem Hoheitsgebiet gehört, für welches das Gesetz von der dort herrschenden Staatsgewalt erlassen wurde (BGHZ 24, 253, 256 für den insoweit gleichlautenden § 549 der Zivilprozeßordnung). Der Bezirk des LSG Rheinland-Pfalz gehört aber auch nicht zu einem Teil zum Land Berlin.
Soweit das LSG den angefochtenen Bescheid nach Bundesrecht beurteilt hat, ist ihm - im Ergebnis - beizupflichten. Eine Norm, die die Beklagte ermächtigt, wegen Zahlung von Hinterbliebenenrenten etwaige Erstattungsansprüche gegen den Kläger durch Verwaltungsakt festzustellen, besteht nicht. In diesem Sinne hat auch schon das BSG geurteilt (Urteil vom 23. 4. 1965 - 12 RJ 148/62).
Die Vorschrift des § 1301 RVO, nach der der Versicherungsträger zu Unrecht gezahlte Leistungen nicht zurückzufordern braucht, kann schon nach ihrem Wortlaut nicht als Grundlage für einen Rückforderungsbescheid in Betracht kommen. Sie begründet keinen Rückforderungsanspruch, sondern setzt einen solchen voraus und stellt nur seine Geltendmachung in das Ermessen des Versicherungsträgers. Ein solcher Rückforderungsanspruch kann zwar im Wege des Verwaltungsaktes erhoben werden. Ein Recht zur verwaltungsmäßigen Feststellung solcher Ansprüche kann jedoch nur anerkannt werden in Fällen, in denen die Leistung dem Anspruchsgegner durch Bescheid gewährt wurde und sich die Rückforderung lediglich als eine Umkehrung der Leistungsgewährung - actus contrarius - darstellt (RVA AN 1920, 169 f). Der Bescheid gegen einen Versicherten, der verschollen war oder für verschollen gehalten wurde, mit dem Ansprüche wegen Rentengewährung an Familienangehörige erhoben werden, ist kein actus contrarius, weil der Anspruchsgegner nicht Adressat des früheren begünstigenden Verwaltungsakts war. Ausgenommen von der Feststellung durch Verwaltungsakt sind Ansprüche, die traditionsgemäß zu den unter § 13 des Gerichtsverfassungsgesetzes fallenden Rechtsstreitigkeiten gehören (RGZ 92, 310, 313; 166, 225; BGHZ 1, 369; 3, 162, 165), auch soweit es sich um öffentlich-rechtliche Ansprüche handelt (BGHZ 9, 339, 347); ausgenommen sind insbesondere Ersatzansprüche für Rentenleistungen an Angehörige von in Wirklichkeit nicht verschollenen Versicherten (BGH in NJW 1963, 579).
Die Aufhebung des angefochtenen Bescheides, um die der vorliegende Rechtsstreit allein geführt wird, ist zu Recht erfolgt. Es kann in diesem Verfahren dahinstehen, ob und gegebenenfalls welche Ansprüche der Beklagten gegen den Kläger zustehen. Der Beklagten fehlte jedenfalls die Ermächtigung, sich ihre vermeintlichen Ansprüche gegen den Kläger durch Bescheid zuzusprechen. Damit ist nicht entschieden, daß die Beklagte keine Ansprüche gegen den Kläger hat; es bestehen möglicherweise solche aus unterschiedlichen Rechtsgründen, vielleicht auch einer - wie die Beklagte meint - wegen Verletzung besonderer Pflichten, die dem Kläger als Versicherten auf Grund des Versicherungsverhältnisses gegenüber der Beklagten obliegen.
Da der Kläger nur eine Aufhebungsklage erhoben hat, hat das Landessozialgericht zutreffend die Entscheidung unter Ziffer II des Urteilsspruchs des SG aufgehoben.
Die Revision der Beklagten muß deshalb als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 SGG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 2379941 |
BSGE, 145 |