Leitsatz (amtlich)
Der für die Gestattung der Beitragsnachentrichtung nach AnVNG Art 2 § 50 vorausgesetzte Zusammenhang zwischen der Vertreibung und dem Verlust der selbständigen Erwerbstätigkeit des Vertriebenen fehlt, wenn dieser das in Danzig ausgeübte Gewerbe als selbständiger Schiffsmakler und Spediteur im April 1938 wegen der damaligen politischen und wirtschaftlichen Lage (polnischer Boykott des Danziger Hafens) aufgegeben hat und danach bis zur Vertreibung in Danzig versicherungspflichtig beschäftigt gewesen ist.
Leitsatz (redaktionell)
Für die Nachentrichtung von Beiträgen vertriebener Selbständiger ist es erforderlich, daß die selbständige Erwerbstätigkeit bis an die Vertreibung, Flucht oder Evakuierung zeitlich unmittelbar heranreichte.
Eine Ausnahmeregelung von diesem Grundsatz ist nur dann statthaft, wenn kriegsbedingte Gründe (zB Kriegsdienst, Gefangenschaft, Dienstverpflichtung während des Krieges usw) dazu geführt hatten, die selbständige Erwerbstätigkeit schon vor der Vertreibung, Flucht oder Evakuierung aufzugeben.
Normenkette
AnVNG Art. 2 § 50 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1965-06-09; ArVNG Art. 2 § 52 Abs. 1 S. 2 Fassung: 1965-06-09
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Bremen vom 26. Februar 1970 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens haben die Beteiligten einander nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger nach Art. 2 § 50 des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) berechtigt ist, Beiträge zur Rentenversicherung der Angestellten nachzuentrichten.
Der am 5. Oktober 1899 geborene Kläger, dem die Beklagte vom 1. Oktober 1964 an das Altersruhegeld gewährt, war vom 1. April 1922 bis 30. April 1938 in D als Schiffsmakler und Spediteur selbständig. Nach seinen Angaben hat er Ende April 1938 seinen Betrieb vorläufig geschlossen, weil er gegenüber den mit staatlicher polnischer Unterstützung arbeitenden Konkurrenzunternehmen nicht mehr wettbewerbsfähig gewesen sei. Er habe beabsichtigt, ihn zu günstigerer Zeit wieder aufzunehmen; die Firma sei im Handelsregister nicht gelöscht worden. Vom Mai 1938 an war der Kläger versicherungspflichtig beschäftigt. Er ist Vertriebener im Sinne des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG).
Die Beklagte lehnte den Antrag des Klägers ab, ihm für die Zeit seiner Selbständigkeit vom 1. April 1922 bis 30. April 1938 die Nachentrichtung von Versicherungsbeiträgen gemäß Art. 2 § 50 AnVNG zu gestatten, weil er nicht unmittelbar vor der Flucht oder Vertreibung selbständig gewesen sei; die Aufgabe seiner Selbständigkeit im April 1938 und die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung vom Mai 1938 ab stehe mit den Kriegsfolgen nicht in unmittelbarem Zusammenhang (2 Bescheide vom 9. Oktober 1967; Widerspruchsbescheid vom 19. Juni 1969).
Sein auf die Zeit vom 1. Januar 1924 bis 30. April 1938 beschränktes Nachentrichtungsbegehren ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben (Urteile vom 30. August 1968 und 26. Februar 1970); das Landessozialgericht (LSG) hat in seinem Urteil die Revision zugelassen.
Der Kläger hat gegen dieses Urteil Revision eingelegt, mit der er Verletzung des Art. 2 § 50 AnVNG, des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) und der §§ 103, 112 Abs. 2 und 128 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) rügt.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Bremen vom 26. Februar 1970 und des Sozialgerichts Bremen vom 30. August 1968 aufzuheben sowie die Bescheide der Beklagten vom 9. Oktober 1967 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. Juni 1969 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die 172 nachzuentrichtenden Beiträge der Klasse H zu je 105,- DM mit insgesamt 18.060,- DM für die Zeit vom 1. Januar 1924 bis zum 30. April 1938 anzunehmen und ihm unter Berücksichtigung dieser Beiträge vom 1. Oktober 1964 an ein höheres Altersruhegeld zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich damit einverstanden erklärt, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung gemäß § 124 Abs. 2 SGG entscheidet.
II
Die Revision des Klägers ist unbegründet.
Der Kläger hat kein Recht, Beiträge für die Zeit vom 1. Januar 1924 bis zum 30. April 1938 gemäß Art. 2 § 50 Abs. 1 Satz 2 AnVNG nachzuentrichten. Dem steht, wie das LSG richtig erkannt hat, entgegen, daß er - in Anbetracht der im Jahre 1938 aufgenommenen versicherungspflichtigen Beschäftigung - nicht bis zu seiner Vertreibung aus Danzig im Januar 1945 selbständig tätig gewesen ist. Das aber wäre erforderlich gewesen, um gemäß Art. 2 § 50 Abs. 1 Satz 2 AnVNG Beiträge nachentrichten zu können. Schon der Wortlaut dieser Vorschrift: "vor der Vertreibung, der Flucht oder der Evakuierung als Selbständige erwerbstätig waren" spricht für die Auslegung, daß die selbständige Erwerbstätigkeit bis an die Vertreibung, Flucht oder Evakuierung zeitlich heranreichen muß. Diese Auslegung steht vor allem mit dem Sinn und Zweck des Nachentrichtungsrechts aus Art. 2 § 50 Abs. 1 Satz 2 AnVNG in Einklang. Mit seiner Hilfe soll früheren Selbständigen, die durch Vertreibung, Flucht oder Evakuierung ihre selbständige Existenz und die damit verbundene und darin begründete wirtschaftliche Sicherung verloren haben, Gelegenheit gegeben werden, Beiträge zur Rentenversicherung nachzuentrichten, um sich dadurch eine neue Alters- und Hinterbliebenenversorgung zu verschaffen. Dabei geht das Gesetz davon aus, daß der frühere Selbständige sein Gewerbe und die damit verknüpfte Alterssicherung gerade durch die umstürzenden Ereignisse der Vertreibung, Flucht oder Evakuierung eingebüßt hat. Nachträglich soll den früheren Selbständigen der Schutz der Rentenversicherung offenstehen, den sie bis zur Vertreibung usw wegen ihrer anderweitigen Sicherung nicht benötigt haben (BSG 15, 203, 204 = SozR Nr. 2 zu Art. 2 § 52 ArVNG; BSG 21, 193, 194 = SozR Nr. 4 zu Art. 2 § 52 ArVNG; vgl. ferner SozR Nr. 3, Nr. 9 und Nr. 10 zu Art. 2 § 52 ArVNG). Der 4. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat in seinem Urteil vom 9. Dezember 1965 - 4 RJ 231/61 - (BSG 24, 146, 148 = SozR Nr. 8 zu Art. 2 § 52 ArVNG) ebenfalls ausgesprochen, daß die selbständige Erwerbstätigkeit zeitlich unmittelbar an die Vertreibung heranreichen mußte, dabei jedoch Zeiten vor der Vertreibung, in denen der - später - Versicherte aus kriegsbedingten Gründen wie Kriegsdienst, Kriegsgefangenschaft, feindliche Besetzung usw weder seine selbständige Erwerbstätigkeit fortsetzen noch eine unselbständige Beschäftigung aufnehmen konnte, unberücksichtigt bleiben müssen (vgl. Schreiben des BMA vom 20. Oktober 1961 - IV b 1-3634/61 - BABl 1961, 838; Jantz/Zweng, Das neue Recht der Rentenversicherung der Arbeiter und Angestellten, 1. Auflage, Art. 2 § 52 ArVNG, Anm. I; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Band III, S. 628 o II; Brockhoff in: RVO-Gesamtkommentar, Band 2, Art. 2 § 52 ArVNG, Anm. 2; Eckert, Angestelltenversicherung, Art. 2 § 50 Anm. 7b, 7e; ders., Arbeiterrentenversicherung, Art. 2 § 52 ArVNG, Anm. 4a, b). Es muß also zwischen dem Existenzverlust und der Vertreibung ein in der Regel unmittelbarer Zusammenhang bestehen (vgl. Eckert, aaO; LSG NRW, Urteil vom 20. September 1960, Mitt. LVA Rheinprovinz, 1967, 237 = DAngVers 1961, 87 mit zustimmender Anmerkung von Atzert; LSG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 23. Oktober 1963, DAngVers 1964, 341).
Wie das LSG festgestellt hat, hat der Kläger seine selbständige Erwerbstätigkeit als Schiffsmakler und Spediteur in D nicht durch Vertreibung am 30. April 1938 aufgeben müssen. Hierfür waren vielmehr wirtschaftliche Gründe maßgebend. Selbst wenn diese ihre Wurzel nur in den damaligen gespannten politischen Verhältnissen zum polnischen Staat und in dessen wirtschaftlichen Kampfmaßnahmen gehabt haben sollten, wie dies die Revision vorträgt, hätte der Kläger damit dennoch kein Nachentrichtungsrecht aus Art. 2 § 50 Abs. 1 Satz 2 AnVNG. Denn dieses knüpft allein an die Tatbestände der Vertreibung, Flucht oder Evakuierung an, nicht aber an solche des wirtschaftlichen Boykotts oder etwaiger vom damaligen polnischen Staat gesteuerter Konkurrenzkampfmaßnahmen vor dem 30. April 1938 in Danzig. Daran ändert auch nichts, daß der Kläger sein Gewerbe nur vorläufig eingestellt und deshalb seine Firma im Handelsregister nicht gelöscht haben will.
Zwar kann von dem Erfordernis, daß die selbständige Erwerbstätigkeit bis an die Vertreibung, Flucht oder Evakuierung zeitlich unmittelbar herangereicht haben muß, dann abgesehen werden, wenn kriegsbedingte Gründe (z.B. Kriegsdienst, Gefangenschaft usw) dazu geführt haben, daß die selbständige Erwerbstätigkeit schon vor der Vertreibung, Flucht oder Evakuierung aufgegeben werden mußte (vgl. BSG 24, 146, 148). Indes sind die Gründe, die den Kläger bewogen haben, seine selbständige Erwerbstätigkeit am 30. April 1938 aufzugeben, hierunter nicht zu rechnen. Er hat vielmehr von 1938 an in D eine versicherungspflichtige Beschäftigung ausgeübt, die zur Zeit der Vertreibung für ihn die Existenzgrundlage bildete und die ihm durch die Vertreibung verloren ging.
Das vom Kläger erstrebte Nachentrichtungsrecht läßt sich auch nicht dadurch erreichen, daß die Regelung des Art. 2 § 50 Abs. 1 Satz 1 AnVNG als lückenhaft angesehen und im Wege der Analogie die Anwendung dieser Vorschrift auf Fälle der hier in Rede stehenden Art ausgedehnt wird. Dies würde voraussetzen, daß das Gesetz ungewollt unvollständig geblieben ist. Dem ist aber nicht so. Das Gesetz hat sich bei der Regelung des Nachentrichtungsrechts ersichtlich auf die Tatbestände der Vertreibung, Flucht oder Evakuierung beschränkt. Damit fehlt für eine Analogie jede Grundlage.
Da es unter keinen denkbaren Gesichtspunkten darauf ankommen konnte, wie die damalige politische und wirtschaftliche Lage in Danzig war und welche Auswirkungen sie auf den selbständigen Gewerbebetrieb des Klägers hatte, daß dieser zwar zum 30. April 1938 eingestellt, die Firma des Klägers aber nicht im Handelsregister gelöscht worden war, können die Rügen der Revision, das LSG habe die Vorschriften der §§ 103, 112 Abs. 2 und 128 SGG verletzt, auf sich beruhen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen