Entscheidungsstichwort (Thema)
Erwerbsunfähigkeit. Einsatzfähigkeit unter betriebsüblichen Bedingungen. Praktisch verschlossener Arbeitsmarkt
Orientierungssatz
Die Annahme, aufgrund bestehender Leistungseinschränkungen sei von vornherein abzusehen, daß Bemühungen um die Vermittlung eines Arbeitsplatzes erfolglos bleiben würden, zwingt nicht zu der Schlußfolgerung, daß unter betriebsüblichen Bedingungen keine Einsatzfähigkeit mehr vorliegt.
Normenkette
RVO § 1247 Abs 2 Fassung: 1957-02-23
Verfahrensgang
Hessisches LSG (Entscheidung vom 30.08.1979; Aktenzeichen L 6 J 841/77) |
SG Darmstadt (Entscheidung vom 24.06.1977; Aktenzeichen S 2 J 48/76) |
Tatbestand
Streitig ist die Gewährung einer Erwerbsunfähigkeitsrente.
Der 1922 geborene Kläger hat keinen Beruf erlernt. Er war als Arbeiter in der Landwirtschaft, beim Straßen- und Gleisbau sowie zuletzt bis 1975 bei der Müllabfuhr versicherungspflichtig beschäftigt. Ab Juli 1975 bezog er zunächst Krankengeld, danach Sozialhilfe. Den im November 1975 gestellten Antrag auf eine Versichertenrente lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, Berufsunfähigkeit liege nicht vor (Bescheid vom 6. Februar 1976).
Die vom Versicherten erhobene Klage ist durch das Sozialgericht (SG) Darmstadt mit Urteil vom 24. Juni 1977 abgewiesen worden. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil geändert und unter Zurückweisung der Berufung im übrigen die Beklagte verpflichtet, für die Zeit ab April 1977 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit zu gewähren (Urteil vom 30. August 1979). Nach den Feststellungen des LSG kann der Kläger wegen Schwerhörigkeit und Einschränkung der Herzleistungsbreite sowie der Lungenfunktion seit März 1977 nur noch körperlich leichte Arbeiten zu ebener Erde ohne häufiges Bücken, Zeitdruck und Wechselschichtbedingungen und ohne Anforderungen an das Hörvermögen vollschichtig verrichten. Das LSG hat ausgeführt, trotz vollschichtiger Einsatzfähigkeit sei die Bandbreite der dem Kläger noch möglichen Beschäftigungen so gering, daß für ihn der allgemeine Arbeitsmarkt als verschlossen gelten müsse. Der Auskunft des Landesarbeitsamtes (LAA) Hessen zufolge kämen überhaupt nur 5 bis 10 % aller mit versicherungspflichtigen Arbeitern besetzten Plätze in Betracht. Auskünfte der Arbeitsämter Darmstadt und Weiden hätten bestätigt, daß die konkreten Aussichten auf einen geeigneten Arbeitsplatz noch wesentlich ungünstiger seien.
Zwar könne ein praktisch verschlossener Arbeitsmarkt im allgemeinen erst nach einjährigen erfolglosen Vermittlungsbemühungen angenommen werden; deren bedürfe es aber nicht, wenn sich, wie hier, die Erfolglosigkeit von Vermittlungsbemühungen wegen gravierender Leistungseinschränkungen als wesentliche Mitursache neben dem Alter des Versicherten von vornherein absehen lasse. Der Kläger sei unter betriebsüblichen Bedingungen nicht mehr einsatzfähig. Mit der - vom Senat zugelassenen - Revision macht die Beklagte geltend, wegen der noch vollschichtigen Arbeitsfähigkeit des Klägers komme es nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auf die Vermittlungsaussichten und einen offenen Arbeitsmarkt nicht an. Zwar habe das Berufungsgericht offensichtlich einen Ausnahmetatbestand von dieser Rechtsprechung annehmen wollen, wenn es ausführe, der Kläger sei unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen nicht einsatzfähig; es habe aber dafür keine Gründe angegeben und nicht erklärt, was es unter derartigen Bedingungen verstehe.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts
vom 30. August 1979 zu ändern und die Berufung
des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts
Darmstadt vom 24. Juni 1977 in vollem Umfang
zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend und weist darauf hin, daß ihm inzwischen vom Versorgungsamt Regensburg im Januar 1980 die Schwerbeschädigteneigenschaft mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 90 % zuerkannt worden sei.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit zurückverwiesen werden muß. Die Feststellungen des LSG reichen für eine abschließende Entscheidung nicht aus.
Streitbefangen ist lediglich der Anspruch auf Erwerbsunfähigkeitsrente für die Zeit ab April 1977, da das LSG insoweit die Rente zugesprochen hat.
Erwerbsunfähig ist ein Versicherter, der infolge von Krankheit, anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen oder geistigen Kräfte auf nicht absehbare Zeit eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit nicht mehr ausüben oder nicht mehr als nur geringfügige Einkünfte durch Erwerbstätigkeit erzielen kann (§ 1247 Abs 2 Satz 1 Reichsversicherungsordnung -RVO-). Hiernach kommt es in der Regel nicht darauf an, ob der leistungsgeminderte Versicherte vermittelbar ist, also einen seiner körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit entsprechenden und sozial zumutbaren Arbeitsplatz erhält oder ob für ihn ein offener Arbeitsmarkt besteht (in dem Sinne, daß es derartige Arbeitsplätze überhaupt - gleichgültig, ob besetzt oder unbesetzt - nicht nur vereinzelt gibt). Eine Ausnahme von diesem Grundsatz hat das BSG lediglich für die Fälle als angebracht angesehen, in denen ein Versicherter aufgrund seines Gesundheitszustandes nur noch Teilzeitarbeit verrichten kann. Wegen der besonderen Gestaltung des Teilzeitarbeitsmarktes wird dann ein praktisch verschlossener Arbeitsmarkt angenommen, wenn dem Versicherten ein für ihn in Betracht kommender Arbeitsplatz innerhalb eines Jahres seit der Rentenantragstellung weder vom Rentenversicherungsträger noch vom zuständigen Arbeitsamt angeboten werden kann (BSG, Großer Senat -GS- vom 10. Dezember 1976 - GS 2 bis 4/75, GS 3/76 = BSGE 43, 75, 79 ff = SozR 2200 § 1246 Nr 13 S 38 ff). Für Versicherte, die noch vollschichtig einsatzfähig sind (Vollzeitarbeitskräfte), gelten dagegen diese Besonderheiten nicht. Das hat das BSG in ständiger Rechtsprechung entschieden (Urteile vom 27. Mai 1977 - 5 RJ 28/76 - BSGE 44, 39, 40 = SozR 2200 § 1246 Nr 19 S 57 f, vom 21. September 1977 - 4 RJ 131/76 - = SozR aaO Nr 22, vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 - = SozR aaO Nr 30 S 91 f, vom 31. Oktober 1978 - 4 RJ 27/77 - = SozR aaO Nr 33 S 98 f, vom 5. November 1980 - 4 RJ 71/79 - sowie, zur Veröffentlichung bestimmt, vom 19. März 1981 - 4 RJ 19/80 -).
Allerdings kann unter außergewöhnlichen Umständen auch für einen vollschichtig Einsatzfähigen der Arbeitsmarkt verschlossen sein. Das ist dann der Fall, wenn der Versicherte von besonders gearteten Leiden betroffen ist, die zwar die Arbeitsfähigkeit nicht oder nicht wesentlich berühren, gleichwohl aber die wirtschaftliche Ausnutzung der Arbeitskraft unmöglich machen (zB nicht nur vorübergehende Krankheiten mit hoher Ansteckungsgefahr sowie ekelerregende Krankheiten, vgl BSG vom 20. Dezember 1960 - 4 RJ 118/59 = BSGE 13, 255, 258 unter Hinweis auf Rechtsprechung des Reichsversicherungsamtes -RVA-; RVA, Entscheidung vom 20. März 1893 = AN 1893 S 95). Ein weiteres Anwendungsgebiet sind die Fälle, in denen durch eine Summierung von Krankheiten und Gebrechen jede Erwerbstätigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ausgeschlossen wird. Derartigen Besonderheiten hat die Rechtsprechung des BSG im Anschluß an die Entscheidung des GS vom 10. Dezember 1976 Rechnung getragen und ausgeführt, auch für Vollzeitarbeitskräfte könne ein dem Versicherten verschlossener Arbeitsmarkt und damit Erwerbsunfähigkeit in Betracht kommen, wenn die unter Berücksichtigung des Leistungsvermögens noch möglichen Tätigkeiten nicht von Tarifverträgen erfaßt sind bzw es sie nur vereinzelt gibt, wenn der Versicherte die an sich möglichen Tätigkeiten nicht unter den in Betrieben in der Regel üblichen Arbeitsbedingungen verrichten kann oder wenn er nicht in der Lage ist, entsprechende Arbeitsplätze von seiner Wohnung aus aufzusuchen (vgl zuerst BSGE 44, 39, 40, zuletzt Urteil vom 19. März 1981 - 4 RJ 19/80 -).
Einer dieser Ausnahmegründe ist im angefochtenen Urteil insofern genannt worden, als es heißt, der Kläger sei wegen seiner Leistungseinschränkungen, aufgrund deren nur noch eine ganz geringe Bandbreite von Beschäftigungsmöglichkeiten bestehe, unter betriebsüblichen Bedingungen nicht mehr einsatzfähig. Dies kann indessen nicht ausreichen. Der Begriff der "betriebsüblichen Bedingungen" entstammt dem Recht der Arbeitslosenversicherung (vgl § 103 Abs 1 Satz 1 Nr 1 des Arbeitsförderungsgesetzes -AFG-; wegen der Sonderregelung für Teilzeitarbeitsplätze vgl Satz 2); auch die hierzu ergangene Rechtsprechung ist heranzuziehen (Urteile des Senats vom 19. März 1981 - 4 RJ 19/80 - S 6 und vom 5. November 1980 - 4 RJ 71/79 - S 5). Danach sind nähere Feststellungen darüber erforderlich, weshalb der Kläger nicht unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen tätig sein könne. Aus einer Beschränkung auf eine sehr geringe Bandbreite von Beschäftigungsmöglichkeiten allein jedenfalls läßt sich - auch wenn dies zutreffen sollte - die Unfähigkeit des Klägers zu betriebsüblicher Arbeit noch nicht folgern. Soweit sich das Berufungsgericht auf die Auskunft des LAA Hessen gestützt hat, wonach für den Kläger noch etwa 5 bis 10 % aller mit versicherungspflichtig beschäftigten Arbeitern besetzten Arbeitsplätze in Betracht kommen könnten, ist daraus ebenfalls nichts gegen eine Einsatzfähigkeit unter betriebsüblichen Bedingungen abzuleiten. Andererseits wäre es aber, wollte man Erwerbsunfähigkeit verneinen, im Hinblick auf die beim Kläger bestehenden Leistungsbeschränkungen erforderlich, ihm (mindestens) eine konkrete Tätigkeit zu benennen, die er noch ausüben kann (vgl BSG vom 19. April 1978 - 4 RJ 55/77 - = SozR 2200 § 1246 Nr 30). Entsprechende Untersuchungen hat das LSG aufgrund seiner anderen rechtlichen Beurteilung bisher nicht vorgenommen. Um die hiernach noch erforderlichen Ermittlungen durchführen und anschließenden Feststellungen treffen zu können, war der Rechtsstreit gem § 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.
Das LSG wird zu beachten haben, daß es im Zusammenhang mit der Anzahl der (offenen oder besetzten) Arbeitsplätze grundsätzlich nicht nur auf den regionalen Arbeitsmarkt ankommt und daß der Kläger erst während des Berufungsverfahrens vom Einzugsgebiet Darmstadts in dasjenige Weidens verzogen ist. Im übrigen könnte zu prüfen sein, ob sich möglicherweise zwischenzeitlich die gesundheitlichen Verhältnisse des Klägers verschlechtert und zu einer zusätzlichen Einschränkung des diesem verbliebenen Leistungsvermögens geführt haben.
Fundstellen