Leitsatz (amtlich)
1. Das Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung kann wirksam auch von einem Bevollmächtigten des Beteiligten erklärt werden, der für das Verfahren vor dem BSG nicht postulationsfähig ist (Fortführung von BSG 1962-10-25 4 RJ 85/60 = SozR Nr 5 zu § 124 SGG und BSG 1980-03-20 12 BK 49/79 = SozR 1500 § 166 Nr 6).
2. Die während einer nachgewiesenen Ausfallzeit entrichteten freiwilligen Beiträge sind bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre als Versicherungszeit zu berücksichtigen, wenn nicht die nachgewiesene, sondern eine längere pauschale Ausfallzeit anzurechnen ist.
Normenkette
SGG § 124 Abs 2 Fassung: 1953-09-03; RVO § 1258 Abs 1 Fassung: 1971-12-22, § 1259 Abs 1 S 1 Nr 4; ArVNG Art 2 § 14 Fassung: 1965-06-09
Verfahrensgang
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über die Höhe des dem Kläger gewährten Altersruhegeldes, insbesondere darüber, ob die während der Handwerkslehre von 1931 bis 1933 entrichteten freiwilligen Beiträge neben der pauschalen Ausfallzeit als Versicherungszeit zu berücksichtigen sind.
Der Kläger bezieht seit dem 1. August 1970 das Altersruhegeld, das zunächst mit Bescheid vom 4. Juni 1974 und sodann mit Bescheid vom 30. Juli 1974 jeweils mit Wirkung vom 1. Januar 1974 an neu festgestellt wurde. In ihrem Bescheid vom 30. Juli 1974 berücksichtigte die Beklagte die während der Lehrzeit vom 1. April 1931 bis zum 28. Februar 1933 entrichteten 23 freiwilligen Monatsbeiträge bei der mit 39 Monaten ermittelten pauschalen Ausfallzeit als Versicherungszeit; im übrigen - bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre - ließ sie diese Beiträge aber unberücksichtigt.
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte am 16. Juni 1977 unter Abänderung der Bescheide vom 4. Juni 1974 und 30. Juli 1974 verurteilt, bei der Berechnung der Rente die Zeit vom 1. April 1931 bis zum 28. Februar 1933 als Beitragszeit nach den gesetzlichen Vorschriften zu berücksichtigen. Das Landessozialgericht (LSG) hat mit Urteil vom 18. Oktober 1979 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung des Klägers das erstinstanzliche Urteil geändert und dahin neu gefaßt, daß die Beklagte im Rahmen der Berechnung des Altersruhegeldes die vom 1. April 1931 bis zum 28. Februar 1933 entrichteten freiwilligen Beiträge nicht bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage, wohl aber als anrechnungsfähige Versicherungsjahre neben der pauschalen Ausfallzeit berücksichtigen müsse. Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, die streitigen Beiträge seien zwar während einer nachgewiesenen Ausfallzeit nach § 1259 Abs 1 Nr 4a der Reichsversicherungsordnung (RVO) entrichtet worden. Gleichwohl seien sie aber als anrechnungsfähige Versicherungsjahre nach § 1258 Abs 1 RVO zu berücksichtigen. Dem stehe das Verbot der Doppelanrechnung einer Zeit nicht entgegen. Die pauschale Ausfallzeit sei im Gegensatz zu der nachgewiesenen Ausfallzeit nicht auf einen bestimmten Zeitraum fixiert, sondern decke einen nicht festgelegten Teil der nicht mit Versicherungszeiten belegten Zeitlücke ab. Die pauschale Ausfallzeit könne sich nie mit Versicherungszeiten decken, die bei der Ermittlung der nicht mit Versicherungszeiten belegten Zeitlücke von der Gesamtzeit abzuziehen seien. Könne danach die Identität der pauschalen Ausfallzeit und der in die Lehrzeit fallenden Beitragszeit nicht festgestellt werden, so könne es sich auch nicht um eine Doppelanrechnung identischer Zeiten handeln. Unabhängig davon seien nach § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO die während einer anzurechnenden Ausfallzeit entrichteten Beiträge bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage unberücksichtigt zu lassen. Das gelte nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch dann, wenn nicht die nachgewiesene Ausfallzeit, während der die Beiträge entrichtet worden seien, sondern die längere Ausfallzeitpauschale angerechnet worden sei.
Die Beklagte hat dieses Urteil mit der - vom LSG zugelassenen - Revision angefochten. Sie ist der Ansicht, die während der Lehrzeit - einer nachgewiesenen Ausfallzeit - entrichteten freiwilligen Beiträge dürften nicht neben der Ausfallzeitpauschale als Versicherungszeit berücksichtigt werden. Die Anrechnung der günstigeren Ausfallzeitpauschale dürfe nicht zu einer Besserstellung des Klägers gegenüber einem Versicherten führen, bei dem die während der angerechneten nachgewiesenen Ausfallzeit entrichteten Beiträge nicht zusätzlich berücksichtigt werden könnten.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland
vom 16. Juni 1977 und das Urteil des Landessozialgerichts
für das Saarland vom 18. Oktober 1979 aufzuheben und die
Klage abzuweisen.
Der Kläger, der durch einen Rechtsbeistand vertreten wird, hat keinen Antrag gestellt und sich auch nicht zur Sache geäußert.
Die Beklagte und der Bevollmächtigte des Klägers haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte gemäß § 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil die Beteiligten sich übereinstimmend damit einverstanden erklärt haben. Dem steht nicht entgegen, daß das Einverständnis des Klägers durch seinen Bevollmächtigten erklärt worden ist, der für Prozeßhandlungen vor dem BSG nach § 166 SGG nicht postulationsfähig ist. Im sozialgerichtlichen und im allgemeinen verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist für eine Reihe von Prozeßhandlungen anerkannt, daß sie auch im Revisionsverfahren ausnahmsweise vom Vertretungszwang befreit sind, weil es nicht sinnvoll wäre, einen sonst nicht vertretenen Beteiligten nur für eine einzelne Prozeßhandlung zur Bestellung eines postulationsfähigen Prozeßbevollmächtigten zu zwingen (vgl BSG SozR 1500 § 166 Nr 6). Dazu gehört insbesondere die Einverständniserklärung mit der Entscheidung ohne mündliche Verhandlung nach § 124 Abs 2 SGG (vgl BSG SozR Nr 5 zu § 124 SGG). Das ist zwar bisher nur für solche Fälle entschieden worden, in denen der nicht postulationsfähige Beteiligte selbst das Einverständnis zu einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt hat. Ist aber eine Prozeßhandlung ausnahmsweise von dem Vertretungszwang des § 166 SGG befreit, so kann diese Befreiung nicht auf den nicht postulationsfähigen Beteiligten beschränkt werden, sondern muß auch für seinen nicht postulationsfähigen Bevollmächtigten gelten. Dem Beteiligten muß die Entscheidung freistehen, ob er die nicht dem Vertretungszwang unterliegende Prozeßhandlung selbst vornehmen oder sie durch einen wirksamen Bevollmächtigten erklären lassen will. Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß die Befreiung vom Vertretungszwang nur für den nicht vertretenen Beteiligten gilt, der von der Notwendigkeit der Bestellung eines Prozeßbevollmächtigten entbunden werden soll. Auch bei dem bereits durch einen nicht postulationsfähigen Bevollmächtigten vertretenen Beteiligten besteht das Bedürfnis, ihn für die ausnahmsweise nicht dem Vertretungszwang unterliegenden Prozeßhandlungen von der Notwendigkeit der - unter Umständen mit besonderen Kosten verbundenen - Bestellung eines postulationsfähigen Prozeßbevollmächtigten zu befreien.
Die zulässige Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Das LSG hat mit Recht die Berufung der Beklagten zurückgewiesen und auf die Anschlußberufung des Klägers dessen Klagebegehren in vollem Umfang entsprochen.
Die in der Lehrzeit vom 1. April 1931 bis zum 28. Februar 1933 entrichteten 23 freiwilligen Monatsbeiträge zur gesetzlichen Rentenversicherung sind nach § 1258 Abs 1 RVO als Versicherungszeit neben der pauschalen Ausfallzeit bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre zu berücksichtigen. Dem steht nicht entgegen, daß nach der genannten Vorschrift Versicherungszeiten und Ausfallzeiten nur zusammengerechnet werden können, soweit sie nicht auf dieselbe Zeit entfallen. Zwar sind die Beiträge für eine Zeit entrichtet, die nach § 1259 Abs 1 Nr 4 Buchst a RVO den Tatbestand einer Ausfallzeit erfüllt. Die Beklagte hat jedoch in dem angefochtenen Bescheid nicht diese nachgewiesene, sondern die längere pauschale Ausfallzeit nach Art 2 § 14 Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetz (ArVNG) angerechnet. Wenn auch die Ausfallzeitpauschale die kürzere nachgewiesene Ausfallzeit verdrängt und ersetzt, so bedeutet das doch nicht, daß die streitige Beitragszeit im Sinne des § 1258 Abs 1 RVO mit der angerechneten Ausfallzeit mit der Folge identisch ist, daß eine Zusammenrechnung dieser Zeiten ausgeschlossen ist.
In dem angefochtenen Bescheid vom 30. Juli 1974 hat die Beklagte bei der Berechnung der Ausfallzeitpauschale auch die hier streitigen 23 freiwilligen Monatsbeiträge wegen ihres Vorrangs als Versicherungszeit von der Gesamtzeit nach Art 2 § 14 Satz 4 ArVNG abgezogen. Die verbleibende Versicherungslücke, die durch die Ausfallzeitpauschale teilweise geschlossen werden soll, umfaßt also nicht die hier streitigen 23 freiwilligen Monatsbeiträge. Auch wenn die Ausfallzeitpauschale zeitlich nicht genau fixiert werden kann, weil sie nur einen Teil der Lücke in den Versicherungszeiten abdeckt, so kann sie jedoch keinesfalls mit den bei der Ermittlung der Lücke bereits abgezogenen Versicherungszeiten identisch sein. Das gilt auch dann, wenn eine nach Art 2 § 14 Satz 4 ArVNG abgezogene Versicherungszeit gleichzeitig einen der Ausfallzeittatbestände des § 1259 Abs 1 RVO erfüllt. Das in § 1258 Abs 1 RVO enthaltene Verbot der Zusammenrechnung zeitlich identischer Versicherungs- und Ausfallzeiten trifft den vorliegenden Fall nicht, denn von einem zeitlichen Zusammentreffen der Ausfallzeitpauschale und der streitigen 23 freiwilligen Monatsbeiträge kann nicht die Rede sein. Obwohl der Kläger während der Beitragsentrichtung den Ausfallzeittatbestand des § 1259 Abs 1 Nr 4 RVO erfüllte, ist diese Zeit von der Beklagten doch nicht als Ausfallzeit (weder als nachgewiesene noch als pauschale), sondern ausschließlich als Versicherungszeit gewertet worden. Sie ist daher neben der Ausfallzeitpauschale auch bei der Ermittlung der Anzahl der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre nach § 1258 Abs 1 RVO zu berücksichtigen.
Das BSG hat zwar mehrfach entschieden, daß § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO auch auf freiwillige Beiträge Anwendung findet, die in einer von der pauschalen Ausfallzeit umfaßten nachgewiesenen - kürzeren - Ausfallzeit entrichtet worden sind (vgl SozR 2200 § 1259 Nr 13; aaO § 1255 Nrn 6, 8). Diese Entscheidungen betreffen aber nicht die Frage, ob die während eines Ausfallzeittatbestandes entrichteten freiwilligen Beiträge neben einer pauschalen Ausfallzeit nach § 1258 Abs 1 RVO bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre zu berücksichtigen sind, sondern die davon verschiedene Frage der Berechnung der persönlichen Rentenbemessungsgrundlage nach § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO. Bleibt eine Versicherungszeit wegen der vom Gesetzgeber unterstellten geringen Höhe der Beiträge bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage ausnahmsweise unberücksichtigt, so folgt daraus nicht, daß sie auch bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre außer acht bleiben müsse. Da diese Versicherungszeit - wie bereits dargelegt - mit der angerechneten pauschalen Ausfallzeit nicht identisch ist, würde ihre Nichtberücksichtigung bei der Ermittlung der anrechnungsfähigen Versicherungsjahre den versicherungsrechtlichen Grundsätzen widersprechen und auch verfassungsmäßigen Bedenken begegnen.
Die Beklagte wendet sich mit ihrer Revision nicht gegen die im Berufungsurteil enthaltene und der zitierten Rechtsprechung des BSG entsprechende Verpflichtung, die in der Zeit vom 1. April 1931 bis 28. Februar 1933 entrichteten 23 freiwilligen Monatsbeiträge bei der Ermittlung der persönlichen Bemessungsgrundlage nach § 1255 Abs 7 Satz 2 RVO außer Ansatz zu lassen.
Der Senat hat die danach unbegründete Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen