Entscheidungsstichwort (Thema)
Sachaufklärungspflicht und zur Frage freier Beweiswürdigung im Sozialgerichtsverfahren
Orientierungssatz
Zur Sachaufklärungspflicht und zur Frage freier Beweiswürdigung im Sozialgerichtsverfahren:
Das Gericht verstößt gegen § 128 SGG, wenn es, ohne sich auf eine ärztliche Stellungnahme oder ausreichende eigene Sachkunde stützen zu können, bzw entgegen den Feststellungen der medizinischen Gutachter einen Zusammenhang des 1951 aufgetretenen Magengeschwürsleidens mit den 6 Jahre zuvor bestandenen Belastungen während der Internierung verneint.
Normenkette
SGG §§ 103, 128
Verfahrensgang
Bayerisches LSG (Entscheidung vom 18.02.1964) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 18. Februar 1964 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger beantragte 1953 wegen eines Magenleidens Rente nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG). Der Internist Dr. Mertens bezeichnete das von ihm festgestellte chronische Zwölffingerdarmgeschwür mit Schrumpfbulbus und Entleerungsbehinderung sowie Begleitschleimhautentzündung und Übersäuerung als Schädigungsfolgen im Sinne der Verschlimmerung. Der Antrag wurde wegen Fristversäumnis abgelehnt. Der Widerspruch blieb erfolglos. Im Klageverfahren vertrat der ärztliche Sachverständige Dr. Sch die Auffassung, da seit der Übersiedlung ins Bundesgebiet 1946 Behandlungsnotwendigkeit nachgewiesen sei, könne ein wehrdienstlicher bzw. durch die Internierung bedingter Verschlimmerungsanteil von 25 v. H. angenommen werden. Das Sozialgericht (SG) verurteilte mit Urteil vom 13. Januar 1958 den Beklagten, dem Kläger ab 1. Dezember 1953 Rente nach einer MdE um 25 v. H. zu gewähren und ein chronisches recidivierendes Magengeschwürsleiden, Stumpfgastritis nach Teilausschneidung des Magens als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen. Auf die Berufung des Beklagten hob das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 18. Februar 1964 das Urteil des SG auf und wies die Klage mit der Maßgabe ab, daß eine Gastritis als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennen sei. Die Ablehnung des Versorgungsantrages wegen Fristversäumnis sei nicht begründet, da erst 1953 eine wesentliche Verschlechterung eingetreten sei. Die Anerkennung eines chronischen Magengeschwürsleidens bzw. eines Zustandes nach Magenteilausschneidung im Sinne der Verschlimmerung sei jedoch nicht gerechtfertigt. Es seien seit 1946 niemals ein frisches Geschwür oder Resterscheinungen eines abgelaufenen Geschwürs festgestellt worden. Deshalb hätten die behandelnden Ärzte bis 1951 nur von einer Magenschleimhautentzündung gesprochen. 1951 habe sich offenbar erstmals ein Geschwür gebildet; es sei sonach frühestens 6 Jahre nach den Belastungen des militärischen Dienstes, bzw. der Internierung aufgetreten und habe sich zwei Jahre später wesentlich verschlechtert. Deshalb sei es auch keine Schädigungsfolge. Die im Sinne der Verschlimmerung anzuerkennende Gastritis rechtfertige keinen Rentenbezug. Selbst wenn bereits in der Internierung und anschließend ein Magengeschwürsleiden bestanden hätte, könne seit 1953 keine Rente zugesprochen werden, weil immer nur der einzelne oder die mehreren Geschwürsschübe Schädigungsfolgen sein könnten, es sei denn, das erste Geschwür sei nicht folgenlos ausgeheilt. Dafür biete der Sachverhalt keinen genügenden Anhalt.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung der §§ 103, 128 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Das LSG habe, ohne sich auf eine ärztliche Stellungnahme stützen zu können, festgestellt, daß das 1951 aufgetretene Geschwürsleiden 6 Jahre nach dem Wegfall der angeschuldigten Belastungen aufgetreten und daher keine Schädigungsfolge sei; es habe nur eine Gastritis bejaht. Die hier streitige Zusammenhangsfrage sei rein medizinischer Art, die eigene Sachkunde des LSG habe zu einer Entscheidung darüber nicht ausgereicht. Dadurch, daß das LSG an die Stelle einer nur ärztlich zu treffenden Feststellung seine eigene Meinung gesetzt habe, sei § 128 SGG verletzt. Wenn das LSG trotz der Feststellungen des Dr. M von 1954 und des Dr. Sch von 1958 eine Anerkennung des Geschwürsleidens im Sinne der Verschlimmerung ablehnen wollte, hätte es weitere Sachaufklärung etwa durch Einholung eines neuen Gutachtens oder durch Rückfrage bei Dr. M und Dr. Sch vornehmen müssen, zumal ein Widerspruch zwischen diesen Gutachten und den vom LSG hieraus gezogenen Schlußfolgerungen bestehe. Insoweit sei § 103 SGG verletzt. Der Kläger beantragt, unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen. Das LSG habe seine Feststellung auf die ärztlichen Atteste des Dr. M und des Dr. B sowie die Mitteilung der AOK München stützen dürfen; auch habe der Kläger am 20. Januar 1954 Dr. S angegeben, daß vor zwei Jahren, also etwa Ende 1951, ein Ulcus festgestellt worden sei. Beim Fehlen eines zeitlichen Zusammenhangs habe das LSG jeden ursächlichen Zusammenhang verneinen dürfen.
Die Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 164, 166 SGG) und auch statthaft, da die Revision wesentliche Verfahrensmängel gerügt hat, die vorliegen (§ 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Zutreffend rügt die Revision, das LSG habe dadurch gegen § 128 SGG verstoßen, daß es, ohne sich auf eine ärztliche Stellungnahme oder ausreichende eigene Sachkunde stützen zu können, bzw. entgegen den Feststellungen der medizinischen Gutachter Dr. M und Dr. Sch einen Zusammenhang des 1951 aufgetretenen Geschwürsleidens mit den 6 Jahre zuvor bestandenen Belastungen verneint habe.
Im Gutachten vom 22. Juli 1954 hat Facharzt für innere Medizin Dr. M das Geschwürsleiden zwar als ein Anlageleiden angesehen, jedoch eine nicht richtunggebende Verschlimmerung durch "DB" bejaht, da der Kläger seit dem Wehrdienst mit Magenbeschwerden zu tun hatte. Dieser Beurteilung hat der Prüfarzt zugestimmt. Auch die im Widerspruchsverfahren durch Dr. med. H abgegebene Stellungnahme hatte sich für eine Verschlimmerung mit einer MdE um 15 v. H. ausgesprochen. Schließlich hat auch der einzige im gerichtlichen Verfahren gehörte medizinische Sachverständige Dr. Schmid eine Verschlimmerung des Magengeschwürsleidens mit einem Verschlimmerungsanteil von 25 v. H. angenommen, weil seit der Übersiedlung in das Bundesgebiet Behandlungsnotwendigkeit wegen des Magenleidens nachgewiesen sei und der Kläger in Gefangenschaft und Internierung erheblichen psychischen und physischen Belastungen ausgesetzt gewesen sei. Unter diesen Umständen durfte das LSG den von mehreren medizinischen Sachverständigen bejahten Ursachenzusammenhang nicht einfach mit der Begründung verneinen, das erste Geschwür habe sich offenbar erst 1951 gebildet. Denn damit war nicht ausgeschlossen, daß die vorher schon bestehenden Magenbeschwerden, deren Vorliegen das LSG durch die Anerkennung einer Gastritis als Schädigungsfolge im Sinne der Verschlimmerung ausdrücklich bestätigt hat, das spätere Magengeschwürsleiden wesentlich mitverursacht haben. Dr. M und Dr. Sch haben eine Verschlimmerung durch schädigende Einwirkungen nicht deshalb angenommen, weil das Geschwürsleiden schon vor 1951 bestanden hätte, sondern weil der Kläger seit dem Wehrdienst mit Magenbeschwerden zu tun hatte, bzw. weil seit der Übersiedlung in das Bundesgebiet Behandlungsnotwendigkeit wegen des Magenleidens nachgewiesen sei. Beide Sachverständige haben es somit für die Annahme einer Verschlimmerung des Geschwürsleidens als ausreichend angesehen, daß in der Zeit davor ein Magenleiden bestanden hatte. Da der vom LSG vorgebrachte Einwand sonach nicht als ein wohlerwogener und stichhaltiger Grund gelten kann, der den Gutachten den Boden entziehen könnte, und auch nicht dargetan ist, daß das LSG etwa die erforderliche Sachkunde selbst besessen hätte (vgl. BSG aaO Da 19 Nr. 45), durfte das Berufungsgericht bei der Beurteilung dieser medizinischen Frage nicht seine eigene Auffassung an die Stelle derjenigen der Sachverständigen setzen (vgl. BSG in SozR SGG § 128 Da 1 Nr. 2). Das LSG hat dadurch die Grenzen seines Rechts der freien richterlichen Beweiswürdigung überschritten und damit § 128 SGG verletzt. Wenn dem LSG die Beurteilungen der beiden medizinischen Sachverständigen als mangelhaft oder lückenhaft erschien, so hätte es sich, wie die Revision ebenfalls zutreffend rügt, zur Einholung eines weiteren Gutachtens oder zur Rückfrage bei Dr. M und Dr. Sch gedrängt fühlen, d. h. die hiernach gem. § 103 SGG gebotene weitere Sachaufklärung durchführen müssen.
Diese von der Revision gerügten Verfahrensverstöße machen die Revision statthaft. Sie ist auch begründet; denn es ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, daß das LSG bei zutreffender Würdigung der Gutachten bzw. bei weiterer Sachaufklärung zu einem dem Kläger günstigeren Ergebnis gelangt wäre.
Die Entscheidung erweist sich auch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 170 Abs. 1 Satz 2 SGG). Zwar hat das LSG hilfsweise unterstellt, daß das Magengeschwürsleiden bereits in der Internierung und anschließend bestanden habe. Seine Annahme, daß der seit 1953 bestehende Zustand keine Schädigungsfolge sein könne, weil der Sachverhalt keinen genügenden Anhalt dafür biete, daß das erste Geschwür etwa nicht folgenlos ausgeheilt sei, ist jedoch ebenfalls unter Verstoß gegen § 128 SGG zustandegekommen. Denn das LSG hat einmal nicht dargelegt, auf welche Beweisergebnisse es sich bei dieser Annahme stützte und zum anderen hat es sich auch insoweit in Widerspruch zu den vorerwähnten Sachverständigen gesetzt, die bereits das vorausgegangene Magenleiden als ausreichend angesehen haben, um die Verschlimmerung des heutigen Geschwürsleidens durch schädigende Einwirkungen i. S. des BVG zu bejahen. Insoweit gilt das oben zur Verletzung des § 128 SGG Gesagte.
Sonach war das angefochtene Urteil aufzuheben. Der Senat konnte in der Sache nicht selbst entscheiden, da es an ausreichenden und einwandfreien tatsächlichen Feststellungen des LSG fehlt bzw. unter Umständen eine weitere Sachaufklärung erforderlich ist. Daher war die Sache gem. § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen