Leitsatz (redaktionell)
Eine Rechtssache kann unter Umständen grundsätzliche Bedeutung auch dadurch erhalten, daß ihr ein überdurchschnittliches wirtschaftliches Gewicht zukommt und dieses es dann rechtfertigt, den Weg der Berufung zu einer weiteren (Tatsachen- und zugleich Rechts-) Instanz freizugeben. Dagegen kann die wirtschaftliche Bedeutung des Falles bei Prüfung der Frage, ob wegen der grundsätzlichen Bedeutung von Rechtsfragen der Zugang zur letzten (reinen Rechts-) Instanz eröffnet werden soll, keine Rolle spielen.
Orientierungssatz
Der Anspruch auf Ersatz der Reparaturkosten für den von der Versorgungsbehörde bezahlten Saxomaten ist ein Anspruch auf eine Sozialleistung iS des SGG § 144 Abs 1 Nr1.
Normenkette
SGG § 144 Abs. 1 Nr. 1 Fassung: 1953-09-03, § 150 Nr. 1 Hs. 2 Fassung: 1953-09-03
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 4. Februar 1964 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger, der wegen verschiedener Schädigungsfolgen Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 70 v. H. bezieht, beantragte 1960 Ersatz für die Reparaturkosten der in seinem Pkw eingebauten automatischen Kupplung "Saxomat" in Höhe von 125,80 DM. Der Antrag wurde mit Bescheid des Landesversorgungsamtes (LVersorgA) vom 7. April 1961 abgelehnt, da innerhalb der in § 3 Abs. 10 der Durchführungsverordnung (DVO) zu § 13 des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) vorgeschriebenen Mindestgebrauchszeit Kosten für Instandhaltung oder Ersatz eines Zusatzgerätes nicht übernommen werden könnten. Der Kläger legte hiergegen Widerspruch ein, mit dem er nur noch den Ersatz von 45,30 DM begehrte. Mit Bescheid des LVersorgA vom 25. August 1961 wurde dem Widerspruch nicht abgeholfen. Das Sozialgericht (SG) wies die Klage mit Urteil vom 25. Mai 1962 ab. Bei der automatischen Kupplung handele es sich nicht um ein Zusatzgerät im Sinne des § 5 der DVO zu § 13 BVG vom 6. Juni 1961; für die frühere DVO vom 18. August 1956 - § 2 f - gelte das gleiche. Kostenersatz könne nur für ein selbständiges Hilfsmittel, wie Bedienungseinrichtungen und Zusatzgeräte geleistet werden (§ 7 DVO aF), nicht für automatische Kupplungen, die auch von Nichtbeschädigten benutzt würden. Das SG ließ die Berufung gemäß § 150 Ziff. 1 Halbs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) wegen grundsätzlicher Bedeutung der Sache zu. Das Landessozialgericht (LSG) verwarf die Berufung des Klägers mit Urteil vom 4. Februar 1964 als unzulässig. Die Berufung sei nach § 144 Abs. 1 SGG unzulässig, weil es sich beim Anspruch des Klägers um eine einmalige Leistung handele. Die Zulassung der Berufung sei offensichtlich entgegen dem Gesetz erfolgt. Ein Grund für die Zulassung sei nicht zu finden. Es handele sich hier nicht um eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, da sich die Frage des Kostenersatzes für Hilfsmittelreparaturen klar aus den gesetzlichen Bestimmungen ergebe. Es liege auch keine Rechtssache vor, deren Bedeutung über den Einzelfall hinausgehe. Etwaige wirtschaftliche Folgen hätten außer Betracht zu bleiben. Unter diesen Umständen sei das LSG an die Zulassung nicht gebunden. Es sei auch kein Verfahrensmangel im Sinne des § 150 Ziff. 2 SGG gerügt, da sich die Einwendungen gegen die Anwendung materiellen Rechts durch das SG richteten.
Mit der nicht zugelassenen Revision rügt der Kläger Verletzung der §§ 144 Abs. 1 Nr. 1, 149, 150 Nr. 1 SGG. Das LSG hätte statt einer Prozeßentscheidung ein Sachurteil treffen müssen. Unter einmaligen Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG seien nur öffentliche Sozialleistungen zu verstehen, andernfalls hätte es der Sonderregelung des § 149 SGG nicht bedurft. Der Kläger habe eine Vorleistung erbracht, weshalb es hier um einen Kosten ersatz gehe. Darüber hinaus sei das LSG an die Zulassung der Berufung gebunden gewesen, da diese nicht offensichtlich entgegen dem Gesetz erfolgt sei. Es liege eine Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung vor, denn der Beklagte lohne den Kostenersatz aus generellen Gründen ab. Die Verwendung einer automatischen Kupplung, die immer mehr an die Stelle eines Zusatzgerätes trete, sei dem Kläger von der Verkehrsbehörde zur Auflage gemacht. Die Frage des Kostenersatzes habe somit eine über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung. Der Kläger beantragt, die Urteile des LSG und des SG sowie die Bescheide des LVersorgA vom 25. August 1961 und 7. April 1961 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, dem Kläger DM 45,30 zu erstatten. Der Beklagte beantragt, die Revision als unzulässig zu verwerfen, hilfsweise, die Berufung zurückzuweisen. Selbst wenn man die Verfahrensrügen als stichhaltig ansehen wollte, müßte der Rechtsverfolgung des Klägers der Erfolg versagt bleiben, da der erhobene Anspruch sachlich unbegründet sei.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 SGG) einverstanden erklärt.
Die nicht zugelassene Revision ist form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden und auch statthaft, da der Kläger einen wesentlichen Verfahrensmangel gerügt hat, der vorliegt (§§ 164, 166, 162 Abs. 1 Nr. 2 SGG).
Zutreffend beanstandet die Revision, das LSG habe statt einer Prozeßentscheidung ein Sachurteil fällen müssen. Zwar trifft es nicht zu, daß die Berufung auch ohne Zulassung statthaft gewesen sei. Der Kläger macht geltend, daß er einen Kosten ersatz beanspruche und daß somit keine einmalige "Leistung" im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG, dh keine Sozialleistung des Staates streitig sei; anderenfalls hätte es der Sonderregelung des § 149 SGG nicht bedurft. Diese Auffassung verkennt die Bedeutung des § 149 SGG. Damit sollte nicht der Begriff der "Leistung" im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG eingeschränkt, sondern nur für Ersatz- oder Erstattungsstreitigkeiten zwischen Behörden und öffentlich-rechtlichen Körperschaften oder Anstalten, sowie für die Fälle der Rückerstattung von "Leistungen" und von Beiträgen eine besondere Regelung getroffen werden. Schon aus dem Umstand, daß diese Vorschrift den Begriff "Leistungen" selbst verwendet, nämlich für den Fall der "Rückerstattung", ergibt sich, daß § 149 SGG nicht den Begriff des "Ersatzes" oder der "Erstattung" dem der "Leistung" gegenüber stellen will. Demgemäß hat auch das Bundessozialgericht (BSG) schon entschieden, daß die "Beitragserstattung" nach § 1303 der Reichsversicherungsordnung (RVO) eine einmalige Versicherungsleistung ist, bei der nach § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG die Berufung ausgeschlossen und § 149 SGG nicht anwendbar ist (BSG 10, 186). In dieser Entscheidung ist auch ausgesprochen, daß § 144 SGG ganz allgemein Leistungsansprüche, darunter auch aus der Kriegsopferversorgung betrifft (aaO, 188). Wenn das BSG in seinem Urteil vom 30. August 1956 (BSG 3, 234, 236) entschieden hat, daß unter einmaligen Leistungen im Sinne des § 144 Abs. 1 Nr. 1 SGG nur Sozialleistungen des Staates oder öffentlich-rechtlicher Körperschaften zu verstehen seien, so hat es damit nur klargestellt, daß der Rückerstattungsanspruch der Versorgungsbehörde kein Anspruch auf eine "Leistung" ist. Der Anspruch des Klägers auf Ersatz der Reparaturkosten für den von der Versorgungsbehörde bezahlten Saxomaten ist aber ein Anspruch auf eine Sozialleistung im Sinne der vorerwähnten Entscheidung.
Zutreffend rügt die Revision jedoch, daß das LSG an die Zulassung der Berufung durch das SG gebunden war, da diese nicht offensichtlich entgegen dem Gesetz erfolgt ist. Das LSG hat diese Zulassung nicht als offensichtlich gesetzwidrig ansehen und die Berufung deshalb als unzulässig verwerfen dürfen. Sein Verfahren leidet daher an einem wesentlichen Mangel (BSG 1, 283, 286).
Die Vorschrift über die Zulassung der Revision unterscheidet sich von der über die Zulassung der Berufung; die Berufung ist zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat (§ 150 Nr. 1 SGG), die Revision aber, wenn über Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu entscheiden ist (§ 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG). Wie das BSG in BSG 2, 45 entschieden hat, kann eine Rechtssache - entgegen der Auffassung des LSG - unter Umständen grundsätzliche Bedeutung auch dadurch erhalten, daß ihr ein überdurchschnittliches wirtschaftliches Gewicht zukommt und dieses es dann rechtfertigt, den Weg der Berufung zu einer weiteren Tatsacheninstanz freizugeben. Dagegen kann die wirtschaftliche Bedeutung des Falles bei Prüfung der Frage, ob wegen der grundsätzlichen Bedeutung von Rechtsfragen der Zugang zur letzten (reinen Rechts-) Instanz eröffnet werden soll, keine Rolle spielen. Das SG hat somit bei der Zulassung der Berufung einen weitergehenden Ermessensspielraum als das LSG bei der Zulassung der Revision. Wie der erkennende Senat im Urteil vom 26. Mai 1964 - Az.: 9 RV 850/63 - entschieden hat, ist unabhängig hiervon aber auch zu berücksichtigen, daß die Auffassung darüber, ob die grundsätzliche Bedeutung zu bejahen ist, jeweils auch subjektiv aus der Beurteilung und Bewertung der dem Gericht vorliegenden Tatsachen gebildet wird und es sich insoweit nicht um einen - unbestimmten - "Rechtsbegriff", sondern um einen "Wertbegriff" handelt (vgl. BSG 2, 48). Darum muß die höhere Instanz bei Prüfung der Frage, ob die wirksame Zulassung eines Rechtsmittels vorliegt, dem Vorderrichter einen gewissen Ermessensspielraum belassen. Sie darf die Zulassung nicht schon deshalb als unwirksam ansehen, weil das Vordergericht zu einer von der Auffassung der höheren Instanz abweichenden Beurteilung und rechtlichen Wertung des Prozeßstoffes gelangt ist. Deshalb ist nach der Rechtsprechung des BSG die Entscheidung über die Zulassung eines Rechtsmittels grundsätzlich bindend (vgl. für die Revision: BSG 6, 70; für die Berufung: 5, 150). Nur wenn die Zulassung offensichtlich unbegründet ist, gilt etwas anderes (BSG 6, 70). Das BSG hat in BSG 10, 241 eine offensichtlich entgegen dem Gesetz erfolgte Zulassung - hier der Revision - dann angenommen, wenn sich aus der Zulassungsbegründung und dem Gesamtinhalt des Urteils des LSG eindeutig ergibt, daß keine der in § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG genannten Voraussetzungen für die Revisionszulassung gegeben ist, diese vielmehr nur erfolgt ist, um die Prüfung von Fragen zu ermöglichen, die der Gesetzgeber der Nachprüfung durch die dritte Instanz schlechthin und allgemein entzogen hat, etwa die Nachprüfung einer nur tatsächlichen Frage.
Selbst wenn man die engere Voraussetzung der Revisionszulassung der hier zu prüfenden Berufungszulassung zugrunde legen wollte, dürfte sich das LSG unter den hier vorliegenden Umständen nicht über die Zulassung der Berufung hinwegsetzen. Denn hier konnte das SG schon die Frage, ob es sich bei der automatischen Kupplung "Saxomat" um ein selbständiges Hilfsmittel bzw. Zusatzgerät im Sinne der §§ 3 Abs. 10, 2 Buchst. f, 5 der Verordnung (VO) zur Durchführung des § 13 BVG in der Fassung vom 18. August 1956 (BGBl I 751), handelt, als eine obergerichtlich zu klärende Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung ansehen. Das gleiche gilt für die Frage, ob für den Ersatz von bloßen Reparaturkosten die gleiche Frist von drei Jahren gilt, wie sie in § 3 Abs. 10 der DVO vom 18. August 1956 für den Kostenersatz bei Ersatzbeschaffung des Motorfahrzeuges bestimmt war. Das LSG war anscheinend der Meinung, daß diese zweifelhaften Fragen durch die Neufassung der VO zur Durchführung des § 13 BVG vom 6. Juni 1961 (BGBl I 669) - § 5 Abs. 3 Nr. 3 - geklärt worden seien. Diese Neufassung der DVO ist nach ihrem § 17 aber erst am Tage nach ihrer Verkündung in Kraft getreten. Da der Kläger den Kostenersatz schon 1960, also geraume Zeit vor dem Inkrafttreten der neu gefaßten DVO beantragt hatte, ist das SG zutreffend davon ausgegangen, daß im vorliegenden Fall die alte Fassung der DVO zugrunde zu legen ist. Das SG konnte sonach der Auffassung sein, daß schon das Vorliegen dieser grundsätzlichen Rechtsfragen dem Rechtsstreit den Charakter einer Rechtssache von grundsätzlicher Bedeutung verleihe und deshalb die Zulassung der Berufung gerechtfertigt sei.
Nach alledem ist nicht ersichtlich, daß die Zulassung der Berufung durch das SG offensichtlich oder überhaupt entgegen dem Gesetz erfolgt wäre. Das LSG war daher an diese Zulassung gebunden. Wenn es trotzdem die Berufung als unzulässig verworfen hat, so leidet sein Verfahren an einem wesentlichen Mangel, der die Revision statthaft macht. Das angefochtene Urteil beruht auch auf diesem Verfahrensmangel.
Die Revision ist daher begründet. Das Urteil des LSG war somit aufzuheben und der Rechtsstreit zur Verhandlung und Entscheidung in der Sache an das LSG zurückzuverweisen.
Die Kostenentscheidung bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen