Leitsatz (redaktionell)
Für den nicht von der Wohnung angetretenen Weg besteht Unfallversicherungsschutz, wenn er zu dem üblicherweise zur Arbeitsstätte zurückgelegten Weg in einem angemessenen Verhältnis steht, er sich also nach seiner Länge und Dauer von den üblichen Weg nicht erheblich unterscheidet.
Ein Arbeitnehmer, der sich während des Urlaubs aus eigenwirtschaftlichen Interessen von seinem Wohnort entfernt, jedoch vor Antritt der Reise zusagt, daß er wegen dringend auszuführender Arbeiten zu einem bestimmten Zeitpunkt während der arbeitsfreien Zeit auf der Betriebsstätte sein wird, genießt auf der Fahrt vom Aufenthaltsort zum Betrieb (sowie bei der Rückfahrt) nicht den Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung.
Normenkette
RVO § 550 Abs. 1 Fassung: 1963-04-30
Tenor
Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 4. Juli 1968 wird unter Aufhebung der Kostenentscheidung wie folgt geändert:
Die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 16. Mai 1967 wird als unzulässig verworfen, soweit es Sterbegeld und Überbrückungshilfe betrifft. Im übrigen werden das Urteil des Sozialgerichts aufgehoben und die Klage abgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten sämtlicher Rechtszüge zu 1/10 zu erstatten.
Gründe
I
Der als Maschinenmeister bei dem Schiffs- und Maschinenreparaturwerk B und G in H, R 15, beschäftigte Ehemann der Klägerin, August B (B.), wohnte in H, H Chaussee .... Er hatte vom 17. bis 19. März 1966 Urlaub. Am 18. März 1966, einem Freitag, ließ der Firmeninhaber, A O, dem Ehemann der Klägerin mitteilen, daß er sich am Sonntag, den 20. März 1966, früh am Schuppen 29 (Baakenhafen) einfinden solle, weil unter seiner Leitung an Bord des in der Nacht zuvor einlaufenden und am Montag wieder auslaufenden Schiffs "S" Reparaturarbeiten auszuführen seien. B. verständigte O fernmündlich, daß er bestimmt am Sonntagmorgen auf der "S" sein werde, obwohl er am Samstag zur Regelung einer Erbschaftsangelegenheit nach L fahren müsse. Dieses Vorhaben führte B. wie vorgesehen aus, die Klägerin fuhr mit. Sie übernachteten bei einer Verwandten in L. Am Sonntagmorgen fuhr B. allein mit dem Pkw nach H, um die Arbeit auf dem Schiff aufzunehmen; er wollte mittags wieder nach L zurückfahren und später mit der Klägerin die Rückfahrt nach Hause antreten. Etwa um 7.15 Uhr verunglückte B. auf der Elbbrücke der südlichen Autobahnumgehung von H tödlich; auf der vereisten Brücke kam der Pkw ins Schleudern, stürzte über das Brückengeländer und versank in der Elbe.
Die Beklagte versagte durch Bescheid vom 24. August 1966 die begehrte Hinterbliebenenentschädigung, weil der Weg von L nach H, auf dem B. tödlich verunglückt sei, angesichts seiner Länge von 70 bis 80 km zum üblichen Arbeitsweg von einigen Kilometern nicht in einem vertretbaren Verhältnis stehe, B. somit im Zeitpunkt des Unfalls nicht nach § 550 Satz 1 der Reichsversicherungsordnung (RVO) unter Versicherungsschutz gestanden habe.
Das Sozialgericht (SG) Hamburg hat durch Urteil vom 16. Mai 1967 den Bescheid der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenentschädigung zu gewähren.
Das Landessozialgericht (LSG) Hamburg hat durch Urteil vom 4. Juli 1968 (veröffentlicht in SGb 1969, 152 mit Anmerkung von Schieckel) die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt:
Der Ehemann der Klägerin habe sich, als er den tödlichen Unfall erlitten habe, auf dem Weg nach seiner Arbeitsstätte am Schuppen 29 befunden. Wie sich aus der Aussage des Zeugen O ergebe, habe er dorthin von L aus unmittelbar fahren und nicht zuerst seine Wohnung aufsuchen wollen. Diese Fahrt sei sonach ausschließlich aus betrieblichen Gründen unternommen worden. Sonst wäre kein Grund ersichtlich, daß B. nach Beendigung dieser Arbeit nach L habe zurückkehren wollen. Unerheblich sei, daß B. den Weg zur Arbeit an einem Ort begonnen habe, an welchem er eine private Angelegenheit, nämlich die Besprechung einer Erbschaftsangelegenheit mit Verwandten, ausgeführt habe. Auch der von der Wohnung zur Arbeitsstätte angetretene Weg beginne letztlich an einem eigenwirtschaftlichen Tätigkeiten dienenden Ort. Wesentlich sei, welchen Endpunkt der Weg habe und welchen Interessen er diene. Die vom Bundessozialgericht (BSG 22, 60) gemachte Einschränkung, daß auf einem Weg, welcher sich wegen seiner Länge und Dauer von dem üblichen von der Wohnung des Beschäftigten angetretenen Weg zur Arbeitsstätte erheblich unterscheide, kein Versicherungsschutz bestehe, überzeuge nicht. Jeder unmittelbare Weg zwecks Aufnahme der betrieblichen Tätigkeit sei von dem Vorhaben geprägt, sich zur Arbeit zu begeben. Es sei daher nicht entscheidend, daß der von B. am Sonntagmorgen zurückgelegte Weg angesichts seiner Länge und Dauer im Vergleich zum üblichen Arbeitsweg ein erhöhtes Gefahrenrisiko in sich geborgen habe. Der Ehemann der Klägerin habe sich hier nicht auf dem Rückweg von einer privaten Verrichtung befunden; diese sei noch nicht beendet gewesen, B. habe mittags nach L zurückfahren wollen. Unbeachtlich sei auch, daß der Ehemann der Klägerin nicht die kürzeste über das Autobahnende in H-H durch den Hweg führende Wegstrecke zur Arbeitsstätte genommen habe. Der von B. gewählte Weg sei im Verhältnis zur gesamten Wegstrecke allerdings unerheblich länger, der Ehemann der Klägerin habe dadurch sein Ziel aber schneller und störungsfreier erreicht, als wenn er durch das Stadtgebiet von H gefahren wäre.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Die Beklagte hat dieses Rechtsmittel eingelegt und es u.a. wie folgt begründet: Aus den Feststellungen des LSG ergebe sich, daß der Weg von L nach H nach seiner Länge und Dauer erheblich von dem üblichen, von B. zur Arbeitsstätte zurückgelegten Weg abweiche und somit kein Weg im Sinne des § 550 Satz 1 RVO gewesen sei. Die gegenteilige Auffassung des LSG würde dazu führen, daß schlechterdings auf jedem Weg zur Arbeitsstätte, gleichgültig von welcher Stelle aus er angetreten werde, Versicherungsschutz gegeben sei.
Die Klägerin hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Die Beklagte beantragt,
die Entscheidung der Vorinstanzen aufzuheben und die Klage abzuweisen,
hilfsweise,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
II
Die Revision ist begründet.
Der Auffassung des Berufungsgerichts, ein Beschäftigter stehe auf jedem unmittelbaren Weg, welcher zur Arbeitsaufnahme führen soll, unter Versicherungsschutz und eine Ausnahme bestehe nur, wenn es sich um den Rückweg von einer dem unversicherten Lebensbereich dienenden Verrichtung handele, wird in dieser Allgemeinheit nicht beigetreten.
Mit Recht ist das LSG allerdings davon ausgegangen, der Versicherungsschutz nach § 550 Satz 1 RVO beschränke sich nicht bloß auf Wege, die zwischen Wohnung und Arbeitsstätte zurückgelegt werden. Da in dieser Vorschrift - ebenso wie schon in § 543 Satz 1 RVO aF (vor dem Inkrafttreten des Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetzes) - allein der Ort der Tätigkeit als Ende des Hinwegs und als Ausgangspunkt des Rückwegs festgelegt ist, ist nach der ständigen Rechtsprechung des erkennenden Senats der Versicherungsschutz nicht davon abhängig, daß der Weg zur Arbeitsstätte von der Wohnung des Beschäftigten angetreten wird und der Rückweg diese als Ziel hat (Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Stand 1. 3. 1971, Band II, S. 486 f mit umfangreichen Nachweisen aus Rechtsprechung und Schrifttum). Die Grenze des Versicherungsschutzes wird jedoch durch das Erfordernis gezogen, daß der Weg zur oder von der Arbeitsstätte in innerem Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit stehen muß. Ein nicht von oder nach der Wohnung angetretener Weg ist, wie der erkennende Senat in dem - vom LSG nicht gebilligten - Urteil vom 30. Oktober 1964 ausgeführt hat, nach dem Sinn und Zweck des § 550 Satz 1 RVO seiner betriebsbedingten Notwendigkeit entkleidet, wenn er zu dem von dem Beschäftigten üblicherweise zur Arbeitsstätte zurückgelegten Weg nicht in einem angemessenen Verhältnis steht. Dies ist der Fall, wenn er sich nach seiner Länge und Dauer von dem üblichen Weg erheblich unterscheidet (BSG 22, 60, 62; Urteil vom 21. September 1967 - 2 RU 248/66 -; Brackmann, aaO, S. 486 g ff. mit weiteren Nachweisen).
Die gegenteilige, dem angefochtenen Urteil zugrundeliegende Rechtsauffassung vermag nicht zu überzeugen. Sie müßte den Versicherungsschutz auch bejahen, wenn jemand aus einem im Ausland verbrachten Erholungsurlaub unmittelbar zum Betrieb fährt, um dort nach Urlaubsende die Beschäftigung wieder aufzunehmen. Ein solcher Weg wird aber rechtlich wesentlich durch die Rückfahrt aus dem Urlaub geprägt. Ähnlich verhält es sich, wenn jemand von einem Wochenendausflug unmittelbar die Arbeitsstätte aufsucht (LSG Niedersachsen, Breithaupt 1967, 293; LSG Hamburg, BG 1958, 42). Der innere Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit ist daher insoweit zu verneinen. Die vom erkennenden Senat bei Wegen, deren Ausgangs- oder Endpunkt sich nicht mit dem Wohnbereich des Beschäftigten deckt, gemachte Einschränkung (BSG 22, 60, 62) ergibt sich aus dem Erfordernis dieses Zusammenhangs des Wegs mit der Tätigkeit im Unternehmen. Das LSG müßte hingegen entsprechend seiner Rechtsauffassung in einem Fall wie dem vorliegenden den UV-Schutz auch bejahen, wenn der Ehemann der Klägerin nach beendeter Arbeit auf der Rückfahrt einen Unfall erlitten hätte, selbst wenn dies erst in Lübeck der Fall gewesen wäre.
Das Berufungsgericht hat - von den Beteiligten unbeanstandet - angenommen, daß der vom Ehemann der Klägerin am 20. März 1966 von Lübeck nach Hamburg zurückgelegte Weg sich nach seiner Länge und Dauer erheblich von dem von B. sonst üblicherweise zur Arbeitsstätte eingeschlagenen Weg unterscheidet. Dies hat jedoch, da es auf das Verhältnis zwischen dem unüblichen und dem normalerweise zurückgelegten Weg und nicht etwa auf die Entfernung zwischen Unfallort und Arbeitsstätte ankommt, zur Folge, daß im Zeitpunkt des Unfalls, den der Ehemann der Klägerin auf jenem Weg erlitten hat, ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang mit der beabsichtigten betrieblichen Beschäftigung nicht vorgelegen hat.
Dieser Zusammenhang ist nicht, wovon das SG ausgegangen ist, aus dem Grund gegeben, weil der Ehemann der Klägerin vom Unternehmen zu der besonderen Arbeitsleistung am Sonntag beordert worden und zu diesem Zweck von L zur Arbeitsstätte gefahren ist. B. hat sich, als er diese Aufforderung erhielt, zu Hause aufgehalten. Er hatte allerdings damals schon sich mit seinen Verwandten abgesprochen, mit ihnen in L zusammenzutreffen. Eine Verschiebung dieser Verabredung mag nicht mehr möglich gewesen sein. Dies beruht indessen auf Gründen, welche dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind. Dieser Sachverhalt ist somit dem Fall, daß ein sich entfernt von Wohn- und Beschäftigungsort aufhaltender Versicherter wegen dringender betrieblicher Tätigkeit an die Arbeitsstätte gerufen wird (BSG 8, 53, 56; SozR Nr. 10 zu § 550 RVO), nicht vergleichbar. Dafür, daß sich B. am 20. März 1966 von L zur Arbeit begeben hat, waren somit betriebliche Gründe nicht rechtlich wesentlich (s. auch LSG Niedersachsen, Breithaupt 1967, 293).
Da sonach der Versicherungsschutz nach § 550 Satz 1 RVO nicht gegeben ist, sind die Entscheidungen der Vorinstanzen nicht zutreffend. Das Berufungsgericht hätte allerdings, soweit es sich um die rechtlich selbständigen Ansprüche auf Sterbegeld (§ 589 Abs. 1 Nr. 1 RVO) und Überbrückungshilfe (§ 591 RVO) handelt, die Berufung der Beklagten als unzulässig verwerfen müssen, weil diese insoweit nach § 144 SGG ausgeschlossen ist. Mit der hieraus folgenden Einschränkung waren sonach die Entscheidungen der Vorinstanzen entsprechend zu ändern.
Die Kostenentscheidung stützt sich auf § 193 SGG.
Fundstellen