Entscheidungsstichwort (Thema)

Beitragsnachlaß. Nachlaßkriterien. Zeitbezogenheit

 

Leitsatz (amtlich)

1. Zum Begriff der Sach- und Geldleistungen, welche die Berufsgenossenschaft "im Umlagejahr zu gewähren hatte".

2. Zum Begriff "erstmalig entschädigte Arbeitsunfälle".

 

Orientierungssatz

1. Es ist sachgerecht, die Beitragsnachlaßrechnung wie die Beitragsrechnung wie die Beitragsrechnung auf den Bedarf des abgelaufenen Geschäftsjahres zu stützen (vgl BSG 1979-06-28 8a RU 4/79 = SozR 2200 § 725 Nr 6).

2. § 27 Abs 2 Buchst b S 1 der Satzung der Steinbruchs-Berufsgenossenschaft stellt auf alle Sach- und Geldleistungen ab, welche die Beklagte im Umlagejahr zu gewähren hatte, also auf die am Jahresende feststellbare Summe ihrer Leistungen.

3. Auch die Leistungen, welche Unfälle aus dem vorausgegangenen Geschäftsjahr betreffen, sind beim Nachlaßverfahren anzurechnen, selbst wenn die Leistungen für solche Unfälle schon im vorangegangenen Geschäftsjahr begonnen haben.

 

Normenkette

RVO § 724 Abs 1 S 1 Fassung: 1963-04-30, § 725 Abs 2

 

Verfahrensgang

SG Hannover (Entscheidung vom 11.02.1980; Aktenzeichen S 19 U 153/79)

 

Tatbestand

Streitig ist unter den Beteiligten ein Beitragsnachlaß für das Jahr 1977.

Durch Schreiben vom 30. Oktober 1978 hatte die Beklagte dem Kläger den für 1977 zu entrichtenden Beitrag von 20.142,10 DM und darüber hinaus mitgeteilt, daß ein Beitragsnachlaß für das Jahr 1977 nicht gewährt werden könne, da die Eigenneulast des Klägers 75 vH der Durchschnittsneulast übersteige. Mit dem Widerspruch machte der Kläger geltend, in der Eigenneulast von 3.002,43 DM seien 2.800,-- DM Kosten für seinen Sohn J G (G) aus dessen Unfall vom 26. April 1976 enthalten. G habe aber am 30. Dezember 1976 seine Arbeit wieder aufgenommen. Behandlungs- oder Krankengeldkosten seien somit 1977 für ihn nicht angefallen. Deshalb sei es unerheblich, daß die Allgemeine Ortskrankenkasse ihren Erstattungsanspruch erst im Jahre 1977 gestellt habe. Die Beklagte wies den Widerspruch durch Bescheid vom 3. Mai 1979 zurück. Nach § 27 der Satzung sei der Beitragsnachlaß hier ausgeschlossen, weil sie die Leistungen für G tatsächlich im Jahre 1977 gewährt habe.

Mit der Klage hat der Kläger geltend gemacht, nach § 725 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bemesse sich die Neulast eines Betriebes allein nach den Arbeitsunfällen im jeweiligen Versicherungsjahr, nicht aber nach dem Zeitpunkt der geleisteten Zahlungen. Deshalb sei § 27 der Satzung der Beklagten ebenso rechtswidrig wie die im angefochtenen Bescheid enthaltene Versagung des Beitragsnachlasses. Durch Urteil vom 11. Februar 1980 hat das Sozialgericht (SG) Hannover die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen.

Gegen dieses Urteil hat der Kläger mit Zustimmung der Beklagten die Sprungrevision eingelegt. Er rügt, die Beklagte habe § 27 ihrer Satzung unrichtig ausgelegt; jedenfalls überschreite sie mit ihrer Auslegung die Ermächtigung des § 725 Abs 2 RVO.

Der Kläger beantragt sinngemäß,

das Urteil des SG Hannover vom 11. Februar 1980

und den Bescheid der Beklagten vom 30. Oktober 1978

in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom

3. Mai 1979 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen,

dem Kläger für das Jahr 1977 einen Beitragsnachlaß in

Höhe von 20 % seines Beitrages zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat durch Urteil ohne mündliche Verhandlung entscheidet (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).

 

Entscheidungsgründe

Die Revision ist unbegründet; sie ist zurückzuweisen. Die vom Kläger angefochtene Versagung des Beitragsnachlasses von 20 % für das Geschäftsjahr 1977 ist rechtlich nicht zu beanstanden.

Nach § 723 Abs 1 RVO werden die Mittel für die Ausgaben der Berufsgenossenschaften durch Beiträge der Unternehmer, die versichert sind oder Versicherte Beschäftigen, aufgebracht. Nach § 724 Abs 1 RVO müssen die Beiträge den Bedarf des abgelaufenen Geschäftsjahres einschließlich der zur Ansammlung der Rücklage nötigen Beträge decken. Dem Begriff des Beitrags ist somit, wie die Beklagte zutreffend hervorgehoben hat, der Bezug auf ein Geschäftsjahr wesenseigen. Auch wegen der Änderungen im Mitgliederbestand der Beklagten ist ohne zeitliche Begrenzung beim Vergleich der Unfallbelastung des einzelnen Betriebes mit der durchschnittlichen Unfallbelastung als Voraussetzung des Beitragsnachlasses nicht auszukommen. Beitrag und Beitragsnachlaß sind zeitbezogene Rechengrößen.

Nach § 725 Abs 2 RVO haben die Berufsgenossenschaften unter Berücksichtigung der anzuzeigenden Arbeitsunfälle Zuschläge zu den Beiträgen aufzuerlegen oder Nachlässe auf die Beiträge zu bewilligen. Die Höhe der Zuschläge und Nachlässe richtet sich nach der Zahl, der Schwere oder den Kosten der Arbeitsunfälle oder nach mehreren dieser Merkmale. Das Nähere bestimmt die Satzung. Die Beklagte ist somit ermächtigt, durch Satzungsbestimmungen die Gewährung des Nachlasses, für den sie sich entschieden hat, auf die an das Geschäftsjahr gebundenen Beiträge zu regeln.

Die Revision bringt in erster Linie vor, § 27 der Satzung der Beklagten müsse dahin verstanden werden, daß einem Umlagejahr alle Leistungen zuzurechnen seien, welche die Beklagte zu leisten gehabt hätte, wenn sie unmittelbar leistungspflichtig und nicht nur zur Erstattung der Leistungen der Krankenkasse verpflichtet gewesen wäre. Dem vermag der Senat jedoch nicht zuzustimmen.

Die Beklagte mußte bei Schaffung ihrer Satzung von der gegebenen Rechtslage ausgehen und zu praktischen Lösungen gelangen, die eine gleichmäßige Behandlung aller Mitglieder gewährleisteten. Sie mußte also beachten, daß nach § 565 Abs 1 RVO regelmäßig in den Fällen der Versicherung des Verletzten bei einem Träger der gesetzlichen Krankenversicherung aus dem Unfall zunächst unmittelbare Ansprüche gegen diesen Leistungsträger, nicht aber gegen die Berufsgenossenschaft entstehen, sofern letztere nicht Heilbehandlung und Geldleistungen nach § 565 Abs 2 RVO ausdrücklich übernimmt. In den Fällen des Abs 1 erfährt sie erst durch den Erstattungsantrag des Trägers der gesetzlichen Krankenversicherung das Ausmaß der aus Anlaß des Unfalls erbrachten und von ihr nach § 1504 Abs 1 RVO zu erstattenden Leistungen. In den Fällen der Leistungsübernahme nach § 565 Abs 2 RVO gewinnt sie den Überblick zwar erheblich früher, in bezug auf die Leistungen der Heilbehandlung aber doch jeweils erst durch die Abrechnung des Krankenhauses oder des Arztes. Hätte die Beklagte also in ihrer Satzung auf die Entstehung der Leistungspflicht abgestellt, wären jedenfalls Beitragsrechnung und Beitragsnachlaßrechnung von unterschiedlichen Größen ausgegangen; die Beitragsrechnung vom Bedarf des abgelaufenen Geschäftsjahres, die Beitragsnachlaßrechnung aber von den im abgelaufenen Geschäftsjahr entstandenen Leistungspflichten. Es war daher sachgerecht, die Beitragsnachlaßrechnung wie die Beitragsrechnung auf den Bedarf des abgelaufenen Geschäftsjahres zu stützen (vgl BSG SozR 2200 § 725 Nr 6). Die Worte "zu gewähren hatte" in § 27 Abs 2 Buchst b Satz 1 der Satzung der Beklagten sind deshalb auf ihre antrags- oder anforderungsgemäßen Leistungen - sei es unmittelbar an den Verletzten, an den Arzt, an das Krankenhaus oder mittelbar als Ersatz an den Träger der gesetzlichen Krankenversicherung - zu beziehen, wie es die Beklagte in dem angefochtenen Bescheid getan hat.

Auch die Auffassung der Revision, nach § 27 der Satzung der Beklagten könne ein Unfall nur immer in einem Umlagejahr Berücksichtigung finden, weil er nur in einem Umlagejahr "erstmalig entschädigt" werden könne, vermag nicht zu überzeugen.

Mit dem Begriff "erstmals entschädigt" kann entweder die für einen Unfall erbrachte erste Entschädigungsleistung - in der Regel die Bezahlung der ersten ärztlichen Behandlung - oder aber die Gesamtheit der Entschädigungsleistungen aus Anlaß eines Unfalls gemeint sein, sofern sie nicht eine an sich schon beendete, durch das Auftreten weiterer Unfallfolgen oder wegen Hinzutretens eines anderen Unfalls (vgl § 581 Abs 3 Satz 1 RVO) wieder - jetzt also für denselben Unfall zum zweiten Mal - zu gewährende Entschädigung ist. Nach dem Sinn der Bestimmung, den Anteil des einzelnen Unternehmers an der Gesamtunfallbelastung im Umlagejahr zum Maßstab eines ihm eventuell zu gewährenden Beitragsnachlasses zu machen, muß als erstmalige Entschädigung die Gesamtheit der aus Anlaß des Unfalls erbrachten Leistungen in dem bereits erörterten Sinne verstanden werden. Denn nur so ergeben sich vergleichbare, den Beitragsnachlaß rechtfertigende oder ausschließende Größen. Weshalb fortlaufende Entschädigungsleistungen nach Ablauf des Unfalljahres nicht mehr "erstmalig" sein sollen, hat die Revision nicht darzulegen vermocht, sachliche Gründe für eine solche Unterscheidung sind auch nicht erkennbar.

Entgegen der Auffassung der Revision stellt § 27 Abs 2 Buchst b Satz 1 der Satzung der Beklagten auf alle Sach- und Geldleistungen ab, welche die Beklagte im Umlagejahr zu gewähren hatte, also auf die am Jahresende feststellbare Summe ihrer Leistungen. Die Leistungen für Wegeunfälle und Berufskrankheiten scheiden dabei nach § 27 Abs 1 der Satzung von der Anrechnung aus. Weiter scheiden die Leistungen für nicht erstmals entschädigte Arbeitsunfälle, also die wiederaufgelebten Entschädigungsleistungen, und Leistungen für Arbeitsunfälle aus anderen Jahren als dem Umlagejahr und dem vorausgegangenen Geschäftsjahr ebenfalls aus der Anrechnung aus. Alle übrigen Leistungen, also auch die Leistungen, welche Unfälle aus dem vorausgegangenen Geschäftsjahr betreffen, sind jedoch anzurechnen, selbst wenn die Leistungen für solche Unfälle schon im vorangegangenen Geschäftsjahr begonnen haben.

Die Beklagte hat mit der Anrechnung ihrer Entschädigungsleistungen im Unfalljahr und im folgenden Geschäftsjahr bei der Beitragsnachlaßabrechnung ersichtlich das Ziel verfolgt, in jedem Fall mindestens die Entschädigungsleistungen im Ablauf eines Jahres zu erfassen. Ereignet sich ein Unfall am 31. Dezember, werden die Entschädigungsleistungen des folgenden Jahres in die Beitragsnachlaßrechnung einbezogen; ereignet sich ein Unfall am 1. Januar, werden allerdings sowohl die Entschädigungsleistungen des Unfalljahres als auch die des folgenden Geschäftsjahres jeweils nachlaßmindernd berücksichtigt. Erwägenswert wäre im Interesse der Gleichbehandlung der Mitglieder der Beklagten, jeweils einen gleich langen Zeitraum zu erfassen, also etwa die Entschädigungsleistungen, die innerhalb eines Jahres oder zweier Jahre nach dem Unfalltag erbracht werden. Der hier zur Entscheidung stehende Fall bietet jedoch keinen Anlaß, die Satzung der Beklagten unter diesem Gesichtspunkt zu beanstanden. Denn selbst wenn man nur die Entschädigungsleistungen innerhalb eines Jahres nach dem Unfall vom 26. April 1976 in die Nachlaßberechnung einbeziehen würde, wären dies hier die bereits zur Anrechnung gebrachten Entschädigungsleistungen, deren letzte am 14. April 1977 erbracht worden ist, wie der Aufstellung der Beklagten auf Blatt 26 der SG-Akten zu entnehmen ist.

Endlich kann auch aus § 27 Abs 2 Buchst b Satz 2 der Satzung der Beklagten nicht mit der Revision gefolgert werden, es sei - wie bei den tödlichen Arbeitsunfällen - jeweils nur die Unfallbelastung eines Jahres bei der Beitragsnachlaßrechnung zu berücksichtigen. Bei der Regelung des Satzes 2 handelt es sich um eine Pauschalierung, deren Rechtmäßigkeit hier nicht zu prüfen ist, deren Volumen aber auf der Grundlage des eineinhalbfachen Jahresarbeitsverdienstes des Versicherten bei einem Höchstbetrag der Hinterbliebenenrenten von vier Fünfteln des Jahresarbeitsverdienstes (§ 598 Abs 1 RVO) fast der höchstmöglichen Hinterbliebenenrente für zwei Jahre entspricht. Die Frage, ob dieser Betrag in einem Geschäftsjahr in vollem Umfang in der Beitragsnachlaßrechnung zu berücksichtigen oder nach Sinn und Wortlaut der Satzung sowie unter Beachtung des Gleichbehandlungsgrundsatzes auf das Unfalljahr und das folgende Geschäftsjahr zu verteilen ist, hatte der Senat hier nicht zu entscheiden.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1660966

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