Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 13.12.1995; Aktenzeichen L 5 Ka 15/93)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. Dezember 1995 insoweit aufgehoben, als es die Klage gegen den Bescheid vom 2. November 1993 abgewiesen hat.

Die Beklagte hat der Klägerin deren außergerichtliche Kosten des Berufungs- und des

Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist im Revisionsverfahren nur noch, ob die Klägerin Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente gemäß § 243 SGB VI hat.

Die Klägerin war von 1941 an mit dem bei der Beklagten versicherten B. … T. … verheiratet. Die Ehe wurde 1969 geschieden. Im Jahre 1971 heiratete die Klägerin ihren zweiten Ehemann F. … Q. …, der im Jahre 1988 verstarb und aus dessen Versicherung sie seither eine Witwenrente bezieht. Am 7. Juni 1991 verstarb auch ihr geschiedener Ehemann B. … T. …, der ebenfalls ein zweites Mal geheiratet hatte und dessen zweite Ehefrau vor ihm verstorben war.

Am 21. Juni 1991 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Geschiedenenwitwenrente aus der Versicherung ihres ersten Ehemannes. Durch Bescheid vom 12. September 1991 lehnte die Beklagte den Antrag mit der Begründung ab, die Klägerin habe durch ihre zweite Heirat noch zu Lebzeiten des Versicherten ihren Status als frühere Ehefrau des Versicherten iS von § 1265 RVO verloren. Den Widerspruch der Klägerin wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 29. April 1992).

Die hiergegen zum SG Osnabrück erhobene Klage ist erfolglos geblieben (Urteil vom 23. Juli 1993). Zur Begründung hat sich das SG der Auffassung der Beklagten angeschlossen, die Klägerin habe nach § 1265 RVO keinen Anspruch auf Gewährung einer Geschiedenenwitwenrente, weil sie nach der Scheidung von ihrem ersten Ehemann erneut geheiratet habe. Gegen dieses Urteil hat sich die Klägerin mit der beim LSG Niedersachsen eingelegten Berufung gewandt.

Während des erstinstanzlichen Verfahrens hatte die Klägerin am 19. Januar 1993 erneut bei der Beklagten die Gewährung einer Geschiedenenwitwenrente beantragt, wobei sie sich auf die Vorschriften des RRG 1992 bezog. Durch den während des Berufungsverfahrens ergangenen Bescheid vom 2. November 1993 lehnte die Beklagte auch diesen Antrag ab. Hiergegen legte die Klägerin gemäß der ihr erteilten Rechtsbehelfsbelehrung am 24. November 1993 Widerspruch ein. Dieser Widerspruch wurde von der Beklagten bisher nicht beschieden.

Durch Urteil vom 13. Dezember 1995 hat das LSG die Berufung der Klägerin gegen das erstinstanzliche Urteil zurück- und die Klage gegen den Bescheid vom 2. November 1993 abgewiesen. Zur Begründung hat es sich hinsichtlich eines Anspruchs gemäß § 1265 RVO der Entscheidung des SG angeschlossen und ergänzend ausgeführt: Einen Anspruch auf die Geschiedenenwitwenrente nach § 243 SGB VI habe die Beklagte in dem gemäß § 96 SGG zum Gegenstand des Verfahrens gewordenen Bescheid vom 2. November 1993 zutreffend verneint. Ein Rentenanspruch scheitere ebenso wie bei § 1265 RVO daran, daß die Klägerin vor dem Tode ihres ersten Ehemannes erneut geheiratet habe. Obwohl § 243 Abs 4 SGB VI keine entsprechende Formulierung enthalte, habe der Gesetzgeber im RRG 1992 die Geschiedenenwitwenrente nur unter der Voraussetzung gewähren wollen, daß die geschiedene Ehefrau im Zeitpunkt der Wiederheirat aus der Versicherung ihres ersten Ehegatten rentenberechtigt gewesen sei. Auf diesen Zusatz sei allein deshalb verzichtet worden, um auch geschiedene Ehegatten in die Neuregelung einzubeziehen, die nach dem Ableben des Versicherten vor 1957 wieder geheiratet hatten.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts (§ 243 SGB VI). Sie wendet sich nur noch gegen den Bescheid vom 2. November 1993 und macht zur Begründung geltend, daß eine Wiederheirat nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut des § 243 Abs 4 SGB VI dem Anspruch auf Geschiedenenwitwenrente nicht entgegenstehe, wenn die erneute Ehe aufgelöst worden sei, was hier durch den Tod ihres zweiten Ehemannes geschehen sei.

Die Klägerin hat die Revision zurückgenommen, soweit in ihrem schriftsätzlichen Antrag zunächst auch die Aufhebung des Bescheides vom 12. September 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 1992 und der die Rechtmäßigkeit bestätigenden Urteile der Vorinstanzen einbezogen war.

Die Klägerin beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 13. Dezember 1995 insoweit aufzuheben, als es die Klage gegen den Bescheid vom 2. November 1993 abgewiesen hat.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet.

1. Da die Klägerin ihre Revision hinsichtlich der einen Rentenanspruch gemäß § 1265 RVO betreffenden Verwaltungsentscheidung zurückgenommen hat, hatte der Senat nicht mehr darüber zu entscheiden, ob das LSG insoweit die Berufung der Klägerin gegen das klageabweisende Urteil des SG zu Recht zurückgewiesen hat.

2. Soweit das LSG über die Rechtmäßigkeit des Bescheides der Beklagten vom 2. November 1993 entschieden hat, ist die Klage zu Unrecht abgewiesen worden. Das LSG hätte den Bescheid nicht in das anhängige Berufungsverfahren einbeziehen dürfen, weil er nicht gemäß § 96 SGG Gegenstand dieses Verfahrens geworden ist. Eine Einbeziehung wäre nur zulässig gewesen, wenn der Bescheid vom 2. November 1993 den Bescheid vom 12. September 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 1992 „abgeändert oder ersetzt” hätte. Dies ist indessen nicht der Fall: Zwar betreffen beide Verwaltungsentscheidungen den Rentenanspruch einer geschiedenen Ehefrau nach dem Tode des Versicherten. Wenn auch ein einheitlicher Lebenssachverhalt zugrunde liegt, handelt es sich aber um verschiedene Streitgegenstände (vgl Meyer-Ladewig, SGG-Komm, 5. Aufl 1993, § 95 RdNr 6). Während die zuerst ergangene Verwaltungsentscheidung einen Rentenanspruch auf der Grundlage von § 1265 RVO verneint hat, hat sich der Bescheid vom 2. November 1993 mit einem Anspruch gemäß § 243 SGB VI befaßt. Für die Entscheidung darüber waren mehrere Gründe maßgebend. Die Klägerin hatte einen neuen Rentenantrag gestellt. Zum 1. Januar 1992 war eine Rechtsänderung eingetreten, die bei geändertem Wortlaut der einschlägigen Vorschrift möglicherweise leichtere Voraussetzungen für einen Rentenanspruch geschaffen hatte. Außerdem hätte eine Rente gemäß § 243 SGB VI erst am 1. Januar 1992 beginnen können, eine Rente gemäß § 1265 RVO indessen schon am 1. Juni 1991. Hinzu kommt, daß der Bescheid vom 2. November 1993 im Verfügungssatz und in der Begründung allein auf die Anspruchsvoraussetzungen von § 243 SGB VI eingegangen ist und § 1265 RVO weder ausdrücklich noch sinngemäß erwähnt hat. Die Beklagte ist auch selbst im Bescheid davon ausgegangen, daß er nicht Gegenstand des anhängigen Berufungsverfahrens geworden ist. Denn die Klägerin wurde in der Rechtsbehelfsbelehrung auf die Möglichkeit eines Widerspruchs hingewiesen.

Schließlich bestand auch für eine von der Rechtsprechung wiederholt praktizierte entsprechende Anwendung von § 96 SGG kein Anlaß. Eine solche hat das BSG im wesentlichen unter zwei Bedingungen für geboten gehalten. Zum einen muß der neue Bescheid wenigstens den Streitstoff (den Prozeßstoff, das Prozeßziel) des bereits anhängigen Rechtsstreits beeinflussen bzw berühren, so daß immerhin ein innerer Zusammenhang besteht; zum anderen muß der Grundgedanke des § 96 Abs 1 SGG die Einbeziehung des neuen Verwaltungsaktes rechtfertigen. Hierunter hat das BSG vor allem die sinnvolle Prozeßökonomie durch ein schnelles und zweckmäßiges Verfahren (auch die Verhütung abweichender gerichtlicher Entscheidungen zum alten und neuen Bescheid) und den Schutz des Betroffenen vor möglichen Rechtsnachteilen verstanden, wenn er im Vertrauen auf den schon eingelegten Rechtsbehelf weitere Schritte gegen den neuen Bescheid unterläßt (Urteil vom 24. November 1978 – 11 RAr 9/78 – BSGE 41, 168 = SozR 1500 § 96 Nr 13 mwN). Diese Erfordernisse sind hier nicht erfüllt. Da die Voraussetzungen für einen Anspruch gemäß § 1265 RVO oder § 243 SGB VI unterschiedlich normiert sind und die Entscheidung über den Anspruch gemäß § 1265 RVO für den Anspruch gemäß § 243 SGB VI nicht etwa vorgreiflich ist, sieht der Senat keinen inneren Zusammenhang zwischen beiden Ansprüchen. Ebenso greifen keine prozeßökonomischen Gesichtspunkte für eine schnelle Entscheidung über die Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 2. November 1993 durch. Es liegt im Gegenteil im wohlverstandenen Interesse der Klägerin, daß über den von ihr gegen den vorgenannten Bescheid eingelegten Widerspruch zunächst von der Beklagten und anschließend im Instanzenzug von den dann gesetzmäßig berufenen Richtern entschieden wird.

Da somit die Voraussetzungen des § 96 SGG nicht vorliegen, konnten die Beteiligten den Bescheid vom 2. November 1993 auch nicht etwa im Rahmen der sog Dispositionsbefugnis durch entsprechende Prozeßanträge in das Berufungsverfahren einbeziehen. Lediglich bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 96 SGG besteht möglicherweise ein Wahlrecht des Klägers/der Klägerin zwischen Einbeziehung und selbständiger Anfechtung des neuen Verwaltungsaktes (vgl Meyer-Ladewig, aaO, § 96 RdNr 11). Bei Fehlen der Voraussetzungen ist eine allein vom Willen der Prozeßbeteiligten getragene Einbeziehung nicht möglich.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG. Hierbei ist der Senat nach billigem Ermessen zu dem Ergebnis gelangt, daß die Beklagte der Klägerin deren gesamte Kosten des Berufungs- und Revisionsverfahrens zu erstatten hat, weil die Klägerin hinsichtlich ihres Rentenanspruchs nur verhältnismäßig gering – für die Zeit vom 1. Juni 1991 bis 31. Dezember 1991 – unterlegen ist.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174025

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