Leitsatz (redaktionell)
Ein Umweg, der mit der versicherten Betriebstätigkeit nicht in rechtlich wesentlichem Zusammenhang steht, ist nicht versicherungsrechtlich geschützt.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 14. Juni 1960 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerinnen sind die Hinterbliebenen des Walzwerksarbeiters Martin V (V.), der am 26. Oktober 1956 auf der Fahrt mit dem Kraftrad zur Arbeitsstätte tödlich verunglückt ist. V. wohnte in Wermelskirchen und war beim E.-W. Gebr. A in Remscheid beschäftigt. Bis Mitte August 1956 pflegte er den Weg nach und von der Arbeitsstätte auf der Landstraße erster Ordnung Nr. 409 zurückzulegen, die von Wermelskirchen über Preyersmühle nach Remscheid führt; diese Fahrstrecke betrug etwa 6 km. Mitte August 1956 wurde V. von seinem in Bergisch-Born wohnhaften Arbeitskollegen R (R.), dessen Fahrrad einen nicht sofort zu behebenden Defekt hatte, im Betrieb gefragt, ob er ihn nach Hause fahren könne. V. brachte mit seinem Kraftrad den R. nach Hause. In der Folgezeit nahm V., der stets dieselbe Arbeitsschicht hatte wie R., diesen auf den Fahrten nach und von der Arbeitsstätte mit. R. konnte von seinem Wohnort Bergisch-Born aus die Arbeitsstätte in Remscheid nicht nur mit dem Fahrrad, sondern auch mit der Eisenbahn oder dem Omnibus erreichen; von seiner Wohnung zur Omnibushaltestelle war ein etwa 2 1/2 bis 3 km langer Fußweg zurückzulegen. Um R. mitzunehmen, fuhr V. nunmehr regelmäßig von Wermelskirchen auf der Bundesstraße (B) 51 nach Bergisch-Born und von dort nach Remscheid-Lennep, wo er auf die zur Arbeitsstätte führende B 229 gelangte. Dieser Weg war insgesamt etwa 11 km lang. V. erhielt von R. hin und wieder einen Geldbetrag als Ersatz für Benzinkosten. Am 26. Oktober 1956, als für beide die Schicht um 14 Uhr begann, holte V. seinen Arbeitskollegen wie gewöhnlich in Bergisch-Born ab. Bei der Weiterfahrt auf der B 51 fuhr er gegen 13.20 Uhr eine Fußgängerin an, wodurch das Kraftrad umkippte. An den bei dem Sturz erlittenen Verletzungen verstarb V. zwei Tage später.
Die Beklagte holte vom Straßenverkehrsamt der Stadt Remscheid eine Auskunft über die Straßenverhältnisse ein. Das Straßenverkehrsamt berichtete, die von V. früher befahrene Landstraße 409 habe fast in ihrem ganzen Verlauf eine Asphaltdecke; die Fahrbahnen der B 51 und der B 229 bestünden hingegen aus Kopfsteinpflaster; die Verkehrsdichte auf der B 51 sei stärker als auf der Landstraße 409; in dem von V. befahrenen Streckenabschnitt der B 51 befänden sich zwei stark befahrene Gabelungen, während die Landstraße 409 keine derartigen Gabelungen oder Kreuzungen aufweise; die meisten Kraftfahrer, die von Wermelskirchen nach Remscheid oder in umgekehrter Richtung führen, benützten hierfür die kürzere Strecke der Landstraße 409, nur der Lastverkehr zwischen den beiden Orten spiele sich mehr auf der B 51 ab. Durch den der Klägerin zu 1) - zugleich als gesetzlicher Vertreterin der Klägerin zu 2) - erteilten Bescheid vom 25. Februar 1957 lehnte die Beklagte die Ansprüche auf Hinterbliebenenrente und Sterbegeld mit der Begründung ab, V. habe auf der unfallbringenden Fahrt zur Arbeitsstätte einen erheblichen Umweg. eingeschlagen; Anlaß hierzu seien betriebsfremde Gründe gewesen; deshalb habe im Zeitpunkt des Unfalls kein Versicherungsschutz nach § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) bestanden.
Das Sozialgericht Düsseldorf hat durch Urteil vom 10. Juli 1958 die Klage abgewiesen.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat - nach Vernehmung des Zeugen R. - durch Urteil vom 14. Juni 1960 die Berufung zurückgewiesen: Der tödliche Unfall des V. könne nicht als Arbeitsunfall angesehen werden, da zwischen dem damaligen Weg zur Arbeitsstätte und der versicherten betrieblichen Tätigkeit kein innerer ursächlicher Zusammenhang bestanden habe. Der von V. am Unfalltag gewählte Weg sei nach allgemeiner Verkehrsanschauung nicht geeignet gewesen, schneller und sicherer zur Arbeitsstätte zu gelangen als über die erheblich kürzere Landstraße 409, vielmehr habe jener Weg mehr und größere Gefahrenquellen geboten und mehr Zeit erfordert. Der Umstand, daß V. den erheblichen Umweg über Bergisch-Born seit Mitte August 1956 regelmäßig gemacht habe, rechtfertige keine andere Beurteilung. Der nach § 543 RVO erforderliche ursächliche Zusammenhang sei auch nicht ausnahmsweise unter dem Gesichtspunkt gegeben, daß der Umweg wesentlich betrieblichen Interessen gedient habe. Das Mitnehmen des Arbeitskollegen R., der seine Arbeitsstätte auch mit Eisenbahn oder Omnibus ohne größere Schwierigkeiten und ohne unverhältnismäßig hohen Zeitaufwand habe erreichen können, habe nicht wesentlich im Interesse der Firma A gelegen. Die Betriebsleitung habe zwar die Vereinbarung zwischen V. und R. gekannt, sie habe aber von sich aus den V. nicht darum gebeten, seinen Arbeitskollegen auf dem Kraftrad mitzubefördern. V. habe also bei der Zurücklegung des erheblichen Umwegs nicht etwa bereits eine dienstliche Tätigkeit verrichtet. Die Fahrgemeinschaft zwischen V. und R. habe auf rein persönlichen Gründen beruht und den Interessen des Unternehmens nicht wesentlich gedient. Auch der Umstand, daß sich der gleichfalls verunglückte R. im Gegensatz zu V. auf einem versicherten Arbeitsweg befunden habe, rechtfertige keine andere Beurteilung, da es sich für R. um den kürzesten Weg zur Arbeitsstätte gehandelt habe. -
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Gegen das am 18. August 1960 zugestellte Urteil haben die Klägerinnen am 25. August 1960 Revision eingelegt und sie zugleich wie folgt begründet: In der neueren Rechtsprechung werde der Versicherungsschutz bejaht, wenn für den Versicherten ein sachgerechter, mit der versicherten Tätigkeit vereinbarer Grund bestehe, den Weg zur Arbeitsstätte nicht von der Wohnung, sondern von einer anderen Stelle aus anzutreten (BSG 8, 53, 56); ein solcher sachgerechter Grund bestehe auch für einen Umweg, den ein Beschäftigter unternehme, um einen Arbeitskollegen nach der Arbeitsstätte oder nach Hause zu bringen. Ein Versicherter, der von seiner Wohnung abgeholt und in wenigen Minuten zur Arbeitsstätte befördert werde, sei wesentlich frischer und arbeitsfreudiger als ein solcher, der erst 20 Minuten Fußmarsch bis zu einem öffentlichen Verkehrsmittel zurücklegen müsse. Dies komme dem Betrieb zugute und fördere die sich anschließende Arbeit, deshalb bestehe ein wesentlicher Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit und die Fahrt des V. sei einem Betriebsweg ähnlich zu erachten. Dies zeige auch ein Vergleich mit dem Versicherungsschutz bei Sammelbeförderung mehrerer Arbeitnehmer durch betriebseigene Fahrzeuge (OVA Düsseldorf, Breith. 1948, 138). Die Benutzung des Umwegs habe also für V. eine gemischte Tätigkeit dargestellt, die auch dem Betrieb wesentlich gedient habe. Im übrigen habe die Zurücklegung des Umwegs von 5 km mit dem Kraftrad nur eine Fahrzeit von etwa 3 bis 4 Minuten erfordert. Schließlich sei zu erwägen, ob nicht der gesamte Weg versicherungsrechtlich in einen privaten - von Wermelskirchen bis Bergisch-Born - und einen mit der betrieblichen Tätigkeit zusammenhängenden Abschnitt - von Bergisch-Born bis zur Arbeitsstätte - zerlegt und damit der Versicherungsschutz an der im letzteren Abschnitt befindlichen Unfallstelle bejaht werden müsse.
Die Klägerinnen beantragen,
unter Aufhebung der angefochtenen Entscheidungen die Beklagte zur Gewährung der Hinterbliebenenentschädigung zu verurteilen.
Die Beklagte beantragt Zurückweisung der Revision. Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend und nimmt Bezug auf die Entscheidung des erkennenden Senats vom 25. Mai 1961 (SozR RVO § 543 Bl. Aa 26 Nr. 33).
II
Die Revision ist statthaft und zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Im Zeitpunkt des Unfalles befand sich V. zwar auf der Fahrt zur Arbeitsstätte; diese Fahrt verlief aber nicht auf der Landstraße Nr. 409, dem kürzesten Weg von Wermelskirchen nach Remscheid, sondern auf einem Umweg, nämlich der B 51. Versicherungsrechtlich wäre dies nicht von Belang, wenn es sich für V. nur um einen unbedeutenden Umweg gehandelt hätte. Die Fahrstrecke über Bergisch-Born stellte für ihn jedoch einen erheblichen Umweg dar, denn die Entfernung zwischen Wohnung und Arbeitsstätte betrug hier etwa 11 km, also fast das Doppelte der rund 6 km, die auf der Landstraße Nr. 409 zurückzulegen gewesen wären. Für die Erheblichkeit des Umwegs kommt es allerdings nicht lediglich auf die Länge der zu vergleichenden Wegstrecken an; vielmehr sind auch solche nach der Verkehrsanschauung wesentlichen Umstände zu berücksichtigen, welche für die Zurücklegung des Weges bedeutsam sein können, wie etwa der Straßenzustand, die Verkehrsdichte, die Art des benutzten Verkehrsmittels u. dgl. Diese Prüfung kann im Einzelfall ergeben, daß die Zurücklegung eines längeren Weges den Versicherungsschutz nicht beeinträchtigt, weil sie durch die - im Vergleich zur kürzesten Verbindung - bessere Wegebeschaffenheit ausgeglichen wird (vgl. SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 17 Nr. 21). Solche Umstände liegen aber hier nicht vor; nach den von der Revision nicht angegriffenen Feststellungen des LSG war der Weg über Bergisch-Born nicht geeignet, schneller und sicherer nach Remscheid zu führen als die kürzere Landstraße Nr. 409, sondern er bot im Gegenteil durch stärkere Verkehrsdichte und ungünstigeren Straßenzustand erheblich mehr und größere Gefahrenquellen als diese. Für die Auffassung, in der Fahrt des V. zur Arbeitsstätte am Tage des Unfalles sei nur ein unbedeutender Umweg zu erblicken, fehlt hiernach jegliche Grundlage. Sie wird auch nicht gerechtfertigt durch den Hinweis der Revision, daß die Zurücklegung des Umweges von etwa 5 km mit dem Kraftrad nur eine Fahrzeit von 3 bis 4 Minuten erfordert habe; denn dies ändert nichts daran, daß die normale Fahrzeit von Wermelskirchen nach Remscheid über die Landstraße Nr. 409 hierdurch annähernd verdoppelt und die Gefahrenquellen entsprechend vermehrt wurden. Nach alledem hat das LSG mit Recht angenommen, daß sich der streitige Unfall auf einem erheblichen Umweg ereignet hat.
Der Versicherungsschutz könnte somit nur erhalten geblieben sein, wenn das Einschlagen des erheblichen, zum Unfall führenden Umweges mit der betrieblichen Tätigkeit des V. rechtlich wesentlich zusammengehangen hätte. Dies haben die Vorinstanzen mit zutreffenden Erwägungen verneint. Zwar hatte V. seit etwa zwei Monaten vor dem Unfall nicht mehr die von ihm bis dahin benutzte Landstraße Nr. 409, sondern regelmäßig die Strecke über Bergisch-Born für die Fahrten nach und von der Arbeitsstätte gewählt, um auf diesen Fahrten seinen Arbeitskollegen R. mitnehmen zu können. Hierdurch wurde jedoch für V. ein wesentlicher innerer Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit nicht hergestellt. Der Umstand, daß diese Gefälligkeitsleistung auf die gleichzeitige Beschäftigung von V. und R. an derselben Arbeitsstätte zurückzuführen war, kann - ebenso wie in dem vom Senat am 25. Mai 1961 entschiedenen Sachverhalt (SozR RV § 543 aF Bl. Aa 26 Nr. 33) - nur als äußerer Anlaß zum Verhalten des V. gewertet werden. Den Tatsachenfeststellungen des LSG ist nichts zu entnehmen, was für eine Förderung wesentlicher betrieblicher Interessen durch die Mitnahme des Arbeitskollegen sprechen könnte. R. war nicht auf die Mitfahrt angewiesen, um überhaupt die Arbeitsstätte unter zumutbaren Bedingungen erreichen zu können, vielmehr standen ihm, abgesehen von seinem bis August 1956 hierfür benutzten Fahrrad, auch noch öffentliche Verkehrsmittel zur Verfügung. Die Fahrt am Unfalltage war auch nicht etwa dadurch veranlaßt worden, daß damals alle anderen Verkehrsmittel für R. ausgefallen wären. V. hat also durch die Mitnahme seines Arbeitskollegen nicht bei einer für diesen plötzlich eingetretenen, auf andere Weise nicht behebbaren Schwierigkeit bei der Zurücklegung des Weges zur Arbeitsstätte helfend eingegriffen; darin unterscheidet sich der hier zu beurteilende Sachverhalt von demjenigen des Urteils vom 30. Januar 1963 (2 RU 7/60) wie auch der von der Revision angeführten Entscheidung des Reichsversicherungsamts (Breith. 1942, 52). Beim Fehlen solcher besonderen Umstände hat also die Beförderung des R. am Unfalltage allenfalls dazu gedient, daß dieser schneller, bequemer und damit etwas besser ausgeruht die Arbeitsstätte erreichen konnte. Der mittelbare Nutzen, der dem Betrieb hierdurch erwachsen sein mochte, war jedoch keinesfalls erheblich genug, um daraus allein einen rechtlich wesentlichen Zusammenhang mit der betrieblichen Tätigkeit ableiten zu können. Das LSG hat dem festgestellten Sachverhalt ferner bedenkenfrei entnommen, daß die Arbeitgeber-Firma zwar von der Gefälligkeitsleistung des V. für seinen Kollegen R. gewußt, jedoch von sich aus die Bildung solcher Fahrgemeinschaften weder angeregt noch gefördert hat; damit entfällt ein weiterer Gesichtspunkt, unter dem ein wesentliches betriebliches Interesse am Zustandekommen solcher kollegialen Fahrgemeinschaften angenommen werden könnte, insbesondere etwa das betriebliche Interesse daran, einer Überfüllung des Parkplatzes auf dem Werksgelände entgegenzuwirken. Schließlich kann auch der Hinweis auf die Rechtsprechung zum Versicherungsschutz bei Sammelbeförderung mehrerer Arbeitnehmer der Revision nicht zum Erfolg verhelfen. Solche Fälle (vgl. außer der von der Revision angeführten Entscheidung des OVA Düsseldorf neuerdings das Urteil des erkennenden Senats vom 26. Juli 1963 - SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 36 Nr. 42 -) sind dadurch gekennzeichnet, daß der Versicherte an eine durch Zahl und Zusammensetzung der Fahrtteilnehmer vorgezeichnete Fahrtroute gebunden ist; hieran fehlte es bei V., der als Inhaber seines Kraftrades einer solchen Bindung von vornherein nicht unterlag, vielmehr allein aus persönlicher Gefälligkeit gegenüber R. bereit war, den Umweg über Bergisch-Born zu fahren.
Da die Abholung des R. in Bergisch-Born nur eine ganz kurze Unterbrechung der Fahrt zur Arbeitsstätte bedingt haben kann, muß der gesamte Umweg, den V. am Unfalltage benutzt hat, einheitlich beurteilt werden (vgl. SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 27 Nr. 34). Damit bleibt kein Raum für die von der Revision angestellte Erwägung, der Weg des V. könne versicherungsrechtlich in zwei selbständig zu betrachtende Abschnitte - bis Bergisch-Born unversichert, von da an bis zur Arbeitsstätte versichert - zerlegt werden.
Die Revision war hiernach zurückzuweisen (§ 170 Abs. 1 Satz 1 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen