Leitsatz (redaktionell)
Auch ein von einer anderen Stelle als der Wohnung aus angetretener Weg zur Arbeitsstätte kann nach Lage der Falles versicherungsrechtlich geschützt sein.
Normenkette
RVO § 543 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 5. Oktober 1961 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten auch des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger war vom 1. Mai 1960 an als Kellner auf dem Restaurationsschiff "Am G F" in B-W beschäftigt. Am Sonntag, dem 23. Oktober 1960, begann seine Arbeitszeit um 14.30 Uhr. Gegen 11 Uhr begab er sich von seiner Wohnung B ..., S 114, zu dem von ihm seit vielen Jahren gepachteten Gartengrundstück in der Kolonie Erholung ..., die etwa 500 Meter nordwestlich der S an der G.-straße liegt. Auf diesem Grundstück pflegten der Kläger und seine Ehefrau sich in der warmen Jahreszeit ständig aufzuhalten; die Eheleute übernachteten auch in der heizbaren Wohnlaube, die aus einem Schlafraum und einem kleinen Küchenraum bestand. Mitte Oktober 1960 war der Kläger bereits wieder in seine Wohnung in der Seestraße als Übernachtungsstätte zurückgekehrt. Am 23. Oktober 1960 hielt er sich - seine Ehefrau weilte zu dieser Zeit besuchsweise in Staaken - etwa eineinhalb Stunden in der Gartenlaube auf, frühstückte dort und las Zeitung. Gegen 12.30 Uhr verließ er die Kolonie über einen Ausgang zur T.-straße und wollte über die K.-straße und Müllerstraße zum S-Bahnhof Wedding gehen, um von dort nach W zu fahren. Auf diesem Wege hätte er an der Kreuzung M.-straße/...straße den üblichen Weg von seiner Wohnung zum S-Bahnhof Wedding erreicht. Auf den von der Kolonie zur T.-straße hinaufführenden Treppenstufen kam der Kläger auf nassem Laub zu Fall und zog sich dabei erhebliche Verletzungen im rechten Schultergelenk und rechten Kniegelenk zu. Die stationäre Behandlung im Krankenhaus dauerte bis 25. Januar 1961; anschließend war der Kläger noch bis 30. April 1961 arbeitsunfähig krank.
Die beklagte Berufsgenossenschaft lehnte durch Bescheid vom 25. November 1960 den Anspruch des Klägers auf Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung mit folgender Begründung ab: Der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Klägers liege in seiner Stadtwohnung in der S.-straße. Dem stehe nicht entgegen, daß er sich während der wärmeren Jahreszeit in seiner Gartenlaube aufhalte. Da der Kläger den Garten am Unfalltage aus rein persönlichen Gründen, nämlich zu seiner Erholung, aufgesucht habe, sei schon der Hinweg von seinem häuslichen Bereich zum Garten unversichert gewesen. Dasselbe gelte für den Rückweg, obwohl dieser die Arbeitsstätte zum Ziel gehabt habe.
Diesen Bescheid hat der Kläger rechtzeitig mit der Klage zum Sozialgericht (SG) Berlin angefochten. Das SG hat durch Urteil vom 28. Februar 1961 die Klage abgewiesen. Es hat den "Umweg über das Laubengrundstück" nicht als versichert angesehen, weil die Gartenlaube nicht Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Klägers gewesen und ein rechtlich wesentlicher Zusammenhang zwischen dem Aufenthalt auf dem Laubengrundstück und der Tätigkeit als Kellner nicht ersichtlich sei.
Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) Berlin durch Urteil vom 5. Oktober 1961 die erstinstanzliche Entscheidung und den Bescheid der Beklagten aufgehoben, es hat die Beklagte dem Grunde nach verurteilt, dem Kläger für die Folgen seines Unfalls vom 23. Oktober 1960 Entschädigung zu gewähren. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt: Die Auffassung des SG, daß nur ein von der Ehewohnung angetretener Weg zur Arbeitsstätte unter Versicherungsschutz stehe, treffe nicht zu. Man könne dem in unmittelbarer Nähe der Ehewohnung gelegenen Laubengrundstück, auf dem die Eheleute sich in der warmen Jahreszeit ständig aufhielten und auch übernachteten, dem auch offenbar das gesamte außerberufliche Interesse des Klägers gegolten habe, nicht die Bedeutung als Lebensmittelpunkt absprechen. Sofern man nicht die beiden Lebensbezirke als Einheit ansehen wolle, beständen keine Bedenken, jeden der beiden räumlich getrennten Teile für sich als Lebensmittelpunkt anzusehen, so daß dem Kläger freigestellt gewesen sei, ob er den Weg zur Arbeit von seinem Laubengrundstück oder von seiner Wohnung aus habe antreten wollen. Abgesehen hiervon hänge der Versicherungsschutz für den Weg zur Arbeitsstätte nicht davon ab, daß er von der Wohnung aus angetreten werde. Es genüge, daß der Weg zur Arbeitsstätte mit der Tätigkeit in dem Unternehmen rechtlich wesentlich zusammenhänge; andere Ursachen, die mit dieser Tätigkeit nicht in Zusammenhang ständen, müßten demgegenüber in den Hintergrund treten und als rechtlich unwesentlich unberücksichtigt bleiben können. Lasse sich - wie im vorliegenden Falle - eine Unterscheidung in einen Rückweg von einer privaten Verrichtung und in einen Weg zur Arbeit nach Zielrichtung und Zweckbestimmung nicht ermöglichen, so müsse der zur Arbeitsstätte angetretene Weg seiner versicherungsrechtlichen Natur nach einheitlich als Weg zur Arbeitsstätte im Sinne des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) angesehen werden.
Das LSG hat die Revision zugelassen.
Das Urteil ist der Beklagten am 17. November 1961 zugestellt worden. Sie hat am 11. Dezember 1961 Revision eingelegt und diese mit Schriftsätzen vom 12. Dezember 1961 und 23. Januar 1962, die innerhalb der bis zum 17. Februar 1962 verlängerten Begründungsfrist beim Bundessozialgericht (BSG) eingegangen sind, begründet.
Die Revision führt aus: Das LSG hätte in Erfüllung der ihm obliegenden Amtsermittlungspflicht klären müssen, ob die Treppe, auf welcher der Kläger zu Fall kam, innerhalb oder außerhalb des Koloniegeländes verläuft. Dies wäre durch Vornahme einer Ortsbesichtigung und durch Vernehmung der im Verwaltungsverfahren angeführten Zeugin P möglich gewesen. Gehöre die Treppe noch zum Laubenkoloniegrundstück, so sei der unfallbringende Weg in jedem Falle dem unversicherten Lebensbereich des Klägers zuzurechnen. - In sachlich-rechtlicher Hinsicht gehe die Auffassung des LSG fehl, das Laubengrundstück des Klägers sei eben sowohl wie seine Ehewohnung sein Lebensmittelpunkt; es gebe immer nur einen einzigen Lebensmittelpunkt im Sinne des § 543 Abs. 1 RVO. Der nach dieser Vorschrift versicherungsrechtlich geschützte Weg müsse den Lebensmittelpunkt als Ausgang bzw. Ziel haben. Die abweichende Entscheidung des BSG vom 27. April 1961 (SozR RVO § 543 Bl. Aa 25 Nr. 32) überzeuge nicht. Ihr stehe auch das Urteil des 5. Senats vom 9. November 1961 (SozR RVO § 543 Bl. Aa 27 Nr. 34) entgegen. - Ferner rügt die Revision, daß die Erwägung des LSG, "dem Laubengrundstück habe offenbar das gesamte außerberufliche Interesse des Klägers gegolten", ausreichender tatsächlicher Feststellungen entbehre. Das LSG habe die Angabe des Klägers nicht beachtet, daß er für die Gartenarbeiten ständig eine Person beschäftige. Es habe auch übersehen, daß der Kläger nach seinen Angaben auf der Laubenkolonieparzelle eine Brieftaubenzucht betreibe. Ihretwegen habe er offensichtlich die Parzelle gepachtet. Alles, was er auf dem Grundstück betreibe, einschließlich der dorthin und von dort weg führenden Wege, sei daher dem Unternehmen der Brieftaubenzucht zuzurechnen, mit der er keinesfalls bei der Beklagten versichert sei. Zumindest hätte das LSG die Einzelheiten der Brieftaubenzucht, vor allem die Frage ihrer Gewerbsmäßigkeit, näher aufklären müssen.
Die Beklagte beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des SG Berlin vom 28. Februar 1961 zurückzuweisen,
hilfsweise,
das angefochtene Urteil mit den ihm zugrunde liegenden Feststellungen aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er pflichtet den Ausführungen des angefochtenen Urteils in allen wesentlichen Punkten bei.
II
Die durch Zulassung statthafte Revision ist zulässig, sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Dem LSG ist im Ergebnis darin beizupflichten, daß der unfallbringende Weg, den der Kläger von seinem Laubengrundstück aus nach seiner Arbeitsstätte in Wannsee zur alsbaldigen Arbeitsaufnahme angetreten hat, unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung gestanden hat. Versicherungsschutz ist allerdings entgegen der Auffassung des LSG nicht schon deshalb gegeben, weil der Ausgangspunkt dieses Weges die ständige Familienwohnung des Klägers gewesen wäre. Das Laubengrundstück war jedenfalls zur Zeit des Unfalls weder für sich allein noch im Zusammenhang mit der Wohnung in der Seestraße der Mittelpunkt der Lebensverhältnisse des Klägers. Als solcher konnte nur die Wohnung in der Seestraße angesprochen werden, in welcher der Kläger seit Mitte Oktober wieder wohnte und auch übernachtete. Ihr gegenüber kam dem Laubengrundstück eine rechtlich wesentliche Bedeutung als Familienwohnung nicht schon deshalb zu, weil sich der Kläger dort - wie auch am Unfalltage - täglich eine bis zwei Stunden aufgehalten haben mag. Wie die Rechtslage wäre, wenn der Unfall "während der warmen Jahreszeit", als die Eheleute sich ständig auf dem Laubengrundstück aufhielten, eingetreten wäre, brauchte der Senat nicht zu entscheiden.
Obwohl der Kläger also den unfallbringenden Weg zur Arbeitsstätte nicht von seiner Familienwohnung aus angetreten hat, stand er dennoch auf diesem Wege nach § 543 Abs. 1 RVO aF unter dem Schutz der gesetzlichen Unfallversicherung. Die vom LSG hierfür gegebene Begründung entspricht der Rechtsprechung des erkennenden Senats, wie sie vor allem in der - auch vom LSG angeführten - Entscheidung SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 25 Nr. 32 zum Ausdruck gekommen ist. Hiernach trifft insbesondere die Auffassung der Revision nicht zu, daß der nach § 543 RVO aF versicherungsrechtlich geschützte Weg den Lebensmittelpunkt des Versicherten als Ausgangspunkt bzw. Ziel haben müsse. Das Gesetz fordert nur, daß die Arbeitsstätte Ziel oder Ausgangspunkt des Weges ist. Weitere Voraussetzung des Versicherungsschutzes ist freilich, daß der Weg mit der versicherten Tätigkeit zusammenhängt, d. h. mit ihr in einem rechtlich wesentlichen inneren Zusammenhang steht; diese Beziehung muß so eng sein, daß andere, mit der versicherten Tätigkeit nicht zusammenhängende Ursachen für das Zurücklegen des Weges demgegenüber in den Hintergrund treten und als rechtlich unwesentlich außer Betracht zu bleiben haben. Auch diese Voraussetzung hat das LSG mit Recht bejaht. Der Weg vom Laubengrundstück nach Wannsee war weder ganz noch teilweise ein den Versicherungsschutz ausschließender Rückweg von einer privaten Verrichtung, wie ihn der Senat zB in Fällen angenommen hat, in denen ein Versicherter von einer anderen Ortschaft, die er aus rein persönlichen Gründen aufgesucht hatte, zu der Ortschaft zurückgekehrt war, an der sich seine Wohnung und Arbeitsstätte befanden (vgl. BSG 1, 171 und 8, 53). Ein solches Gewicht hatte die "Rückkehr" von dem Laubengrundstück nicht. Von einem Rückweg - wie in den angeführten Entscheidungen - kann schon deshalb nicht gesprochen werden, weil der Kläger von dem Laubengrundstück aus weder richtungsmäßig den Hinweg in umgekehrtem Sinne wiederholt noch den üblichen Weg zur Arbeitsstätte (Seestraße - Wannsee) nennenswert verlängert hat. Vor allem aber ist es in Fällen wie dem vorliegenden nach der Verkehrsanschauung gerechtfertigt, den Weg zur Arbeitsstätte nach seiner Zielrichtung, nicht aber - wie in den Fällen BSG 1, 171 und 8, 53 - nach der vorausgegangenen Tätigkeit zu kennzeichnen und auch rechtlich zu charakterisieren. Von dem von der Revision angeführten, vom 5. Senat des BSG entschiedenen Fall - SozR RVO § 543 aF Bl. Aa 27 Nr. 34 - unterscheidet sich der hier zu entscheidende Streitfall in wesentlichen Punkten. In jenem Falle hatte der Beschäftigte den Weg zur Arbeitsstätte von seiner Wohnung aus angetreten, war aber einen - unversicherten - Umweg gefahren und hatte diesen nur kurz unterbrochen; demgegenüber hat der Kläger den Weg zur Arbeitsstätte in Wannsee nicht schon in seiner Wohnung, sondern, nachdem er sich zuvor eineinhalb Stunden lang in seiner Gartenlaube aufgehalten hatte, erst von dort aus angetreten.
Der Kläger könnte allerdings keine Entschädigung aus der gesetzlichen Unfallversicherung beanspruchen, wenn er im Bereich seines Schrebergartens verunglückt wäre. Nach den vom LSG getroffenen Feststellungen hat sich der Unfall indessen nicht auf dem von dem Kläger gepachteten Grundstück, sondern auf der zur Togostraße hinaufführenden Treppe ereignet. Die von der Revision erhobene Rüge, das LSG hätte durch Vernehmung von Zeugen und durch Einnahme des Augenscheins nähere Feststellungen darüber treffen müssen, ob die Unfallstelle innerhalb oder außerhalb der Laubenkolonie liege, ist nicht begründet. Da der Bescheid der Beklagten vom 25. November 1960 davon ausgeht, der Kläger sei "nach Verlassen des Gartens auf den Steinstufen, die von dem Koloniegelände zur T.-straße führen", ausgerutscht und gefallen, und die Sachdarstellung des Klägers bei seiner Vernehmung vor dem LSG hiermit übereinstimmte, brauchte sich das LSG nicht zu einer Ortsbesichtigung oder zu anderen Maßnahmen gedrängt zu fühlen, die zur näheren Feststellung der Eigentums- oder Besitzverhältnisse der Unfallstelle geeignet gewesen wären.
Die Ausführungen der Revision über den vermutlichen wahren Grund des lebhaften Interesses des Klägers an dem Laubengrundstück sind für die Entscheidungsfindung ohne Bedeutung, weil der Versicherungsschutz auf einem Wege im Sinne des § 543 RVO aF nicht dadurch ausgeschlossen wird, daß der Versicherte sich vor Antritt des Weges einer unversicherten oder bei einem anderen Versicherungsträger versicherten Tätigkeit hingegeben hat.
Hiernach war die Revision der Beklagten als unbegründet zurückzuweisen.
Die Entscheidung über die Kosten ergeht in Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen