Leitsatz (amtlich)

Unter dem Begriff "ausländisch" iS des FRG § 16 S 1 ist jedes Gebiet zu verstehen, das außerhalb der Grenzen des Deutschen Reichs nach seinem jeweiligen Gebietsstand liegt, für Zeiten nach dem 1937-12-31 aber außerhalb der an diesem Tag geltenden Grenzen: ob in dem "ausländischen" Vertreibungsgebiet zur Zeit der Beschäftigung deutsches Recht gegolten hat, ist für die Anwendung des FRG § 16 ohne rechtliche Bedeutung.

 

Orientierungssatz

Bei den Orten Troppau, Oderberg und Karwin handelt es sich um im Sudetenland und im sogenannten Olsagebiet gelegene Städte, die zur Tschechoslowakei gehören; sie sind "ausländisches" Gebiet iS des FRG § 16.

 

Normenkette

FRG § 16 S. 1 Fassung: 1960-02-25

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Bayerischen Landessozialgerichts vom 8. Januar 1964 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Die Beteiligten streiten um die Höhe des dem Kläger gewährten Altersruhegeldes, und zwar um die Frage, ob die Zeit vom 14. Februar 1940 bis 31. Mai 1945, in der der Kläger als Angestellter der Kreditanstalt der Deutschen in Troppau, Karwin und Oderberg beschäftigt war, bei der Rentenberechnung zu berücksichtigen sei. Im ersten - unter Vorbehalt erteilten - Bescheid vom 5. Dezember 1956 hatte die Beklagte der Rentenberechnung diese Zeit zugrunde gelegt. In einem späteren, nach den Vorschriften des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes vom 25. Februar 1960 (FANG) und der Verordnung zu § 33 Abs. 3 Angestelltenversicherungsgesetz (AVG) vom 3. März 1960 ergangenen Bescheid vom 7. März 1961 ließ sie die genannte Zeit außer Betracht, weil für sie keine Beitragsleistungen nachgewiesen seien. Der Kläger meint, diese Zeit müsse dennoch berücksichtigt werden.

Mit seiner Klage hatte der Kläger keinen Erfolg. Seine Berufung führte zur Aufhebung des erstinstanzlichen Urteils. Das Landessozialgericht (LSG) verurteilte die Beklagte, die Zeit vom 1. Februar 1940 bis 31. Mai 1945 als Beschäftigungszeit nach § 16 Fremdrentengesetz (FRG) zugrunde zu legen. Der Kläger habe - wahrscheinlich weil er die Versicherungspflichtgrenze überschritten gehabt habe - für die genannte Zeit keine Beiträge zur Reichsversicherungsanstalt für Angestellte (RfA) entrichtet. Die Zeit sei aber als Beschäftigungszeit nach § 16 FRG anrechenbar, weil die Tätigkeit in ausländischen Gebiete- und in den zur Zeit unter Fremdverwaltung stehenden deutschen Ostgebieten im Sinne des § 16 FRG, § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG) ausgeübt worden sei. Zwar habe dort damals unmittelbares Reichsrecht gegolten, so daß an sich kein Bedürfnis für die mit § 16 FRG bezweckte Anpassung an die deutsche Rentenversicherung bestehe. Die klare Ausrichtung des § 16 FRG nach dem Territorialprinzip berechtige aber zu der Annahme, daß der Gesetzgeber die Rechtswohltat des § 16 FRG sämtlichen Heimatvertriebenen einheitlich zum Ausgleich für die Vertreibungsschäden habe zukommen lassen wollen. Aus der Neufassung des § 27 AVG durch Art. 3 FANG sowie aus der Verordnung zu § 33 AVG und Art. 2 § 50 Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetz (AnVNG) ergebe sich nichts Gegenteiliges.

Mit der - zugelassenen - Revision beantragt die Beklagte

das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 25. Januar 1962 in vollem Umfang zurückzuweisen.

Sie rügt unrichtige Anwendung des § 16 FRG. Zu Unrecht habe das LSG diese Ausnahmevorschrift ausdehnend ausgelegt. Wenn die Beschäftigung in einem Vertreibungsgebiet ausgeübt worden sei, in dem Reichsrecht gegolten habe, könne § 16 FRG nicht angewendet werden. Das ergebe sich insbesondere aus der amtlichen Begründung des Regierungsentwurfs zu § 16 FRG (BTDr. 1109, 3. WP S. 41). Auch stehe der Annahme, § 16 FRG sollte die Vertreibungsschäden sämtlicher Heimatvertriebenen einheitlich ausgleichen, die Änderung des § 17 Abs. 2 FRG entgegen, durch die die Anrechnung versicherungsfreier Nebenbeschäftigungen habe verhindert werden sollen. Ebenso verfolge § 18 Abs. 2 Satz 2 FRG den Zweck, eine Besserstellung der Vertriebenen im Verhältnis zu den durch Überschreiten der Versicherungspflichtgrenze aus der Versicherung ausgeschiedenen einheimischen Angestellten zu vermeiden. Schließlich sei auch die Neufassung des § 27 AVG durch Art. 3 Nr. 1 FANG zu beachten, wonach bei der neuen Aufteilung der Beitragszeiten nach dem allgemeinen und dem Fremdrentenrecht auf das Recht abgestellt werde, nach dem jeweils die anzuwendende Zeit zurückgelegt worden Im übrigen habe inzwischen das Berufungsgericht selbst die bisher von ihm vertretene Auffassung aufgegeben.

Der Kläger ist vor dem Bundessozialgericht (BSG) nicht vertreten.

Die Revision ist zulässig, aber unbegründet. Das LSG hat zu Recht angenommen, daß im vorliegenden Fall § 16 FRG anzuwenden ist.

Nach § 16 FRG in der Fassung des FANG vom 25. Februar 1960 (BGBl I 93) steht eine nach vollendetem 16. Lebensjahr vor der Vertreibung in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG genannten ausländischen Gebieten oder nach dem 8. Mai 1945 in den unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebieten verrichtete Beschäftigung einer im Bundesgebiet zurückgelegten Beitragszeit gleich, wenn die Beschäftigung nach dem am 1. März 1957 geltenden Bundesrecht im Bundesgebiet Versicherungspflicht begründet hätte. Da der Kläger die sonstigen im Gesetz erwähnten Voraussetzungen erfüllt, kommt es allein darauf an, ob die Beschäftigung in einem der in § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG genannten "ausländischen" Gebiete verrichtet worden und ob die Gleichstellung nicht etwa dennoch ausgeschlossen ist, weil für das Beschäftigungsverhältnis die Reichsversicherungsgesetze gegolten haben, der Beschäftigte danach aber versicherungsfrei war.

Bei den Beschäftigungsorten des Klägers in der Zeit von 1940 bis 1945 (Troppau, Oderberg und Karwin) handelt es sich um im Sudetenland und im sogenannten Olsagebiet gelegene Städte, die zur Tschechoslowakei gehören (§ 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG). Das LSG hat sie zutreffend als "ausländische" Gebiete im Sinne des § 16 FRG angesehen, obwohl sie zur Zeit der Beschäftigung des Klägers dem Deutschen Reich eingegliedert waren.

Was unter dem Begriff "ausländisch" in § 16 FRG zu verstehen ist, ist weder dort noch sonst im FRG oder den übrigen Artikeln des FANG näher bestimmt; aber auch der Gegensatz zu diesem staatsrechtlichen Begriff, nämlich "inländisch", ist in den Vorschriften des FANG nicht umschrieben. § 1 Abs. 2 Nr. 3 BVFG, worauf § 16 FRG verweist, nennt "die zur Zeit unter fremder Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete" und andere Gebiete, die jedenfalls "außerhalb der Grenzen des Deutschen Reiches nach dem Gebietsstand vom 31. Dezember 1937" (§ 1 Abs. 1 BVFG) liegen. Da aber § 16 FRG sowohl Beschäftigungszeiten umfaßt, die bis zum 1. Januar 1891 zurückreichen (§ 18 Abs. 2 Satz 1 FRG), als auch solche nach dem 31. Dezember 1937, läßt sich der Begriff "ausländisch" nicht auf die staatsrechtlichen Verhältnisse an einem bestimmten Stichtag allein beziehen. Der Senat greift deswegen auf die Umschreibung des Begriffs "Reichsgebiet" zurück, die in den Gesetzen der Bundesrepublik für die Berechnung ruhegehaltsfähiger Dienstzeiten im Beamtenrecht gewählt worden und insoweit zur Lösung ähnlicher Rechtsfragen bestimmt ist. Sowohl im § 185 des Bundesbeamtengesetzes (BBG) als auch im § 80 des Gesetzes zu Art. 131 des Grundgesetzes (GG) ist als "Reichsgebiet" bezeichnet "das Gebiet des Deutschen Reiches bis zum 31. Dezember 1937 in seinen jeweiligen Grenzen, nach diesem Zeitpunkt in den Grenzen vom 31. Dezember 1937", Danach sind "ausländische" Gebiete auch die nach dem 31. Dezember 1937 dem Deutschen Reich angegliederten oder eingegliederten Gebiete und für die Zeit nach dem 10. Januar 1920 auch die damals vom Deutschen Reich abgetrennten Gebiete.

Insoweit folgt der erkennende Senat der nicht veröffentlichten Entscheidung des 4. Senats des BSG vom 13. Mai 1966 - 4 RJ 9/63, in der auf eine 1913/14 im Bezirk Posen zurückgelegte Beschäftigung § 16 FRG mit Recht nicht angewendet wurde, weil die Beschäftigung nicht in einem "ausländischen" Gebiet verrichtet worden sei.

Für die Anwendung des § 16 FRG ist es aber ohne rechtliche Bedeutung, ob zur Zeit der Beschäftigung in dem "ausländischen" Vertreibungsgebiet deutsches Recht, insbesondere das Recht der Reichsversicherung gegolten hat. Das ergibt sich zunächst aus Art. 7 § 3 FANG, durch den alle nach dem 31. Dezember 1937 erlassenen Verordnungen über die Einführung der Reichsversicherung "aufgehoben" worden sind, d. h. im Geltungsbereich des FANG nicht mehr angewendet werden sollen, darunter auch die Verordnung über die endgültige Regelung der Reichsversicherung in den ehemaligen tschechoslowakischen, dem Deutschen Reich eingegliederten Gebieten vom 27. Juni 1940 (RGBl I S. 957) - Art. 7 § 3 Abs. 1 Buchst. f FANG. Daß § 16 FRG auch auf Beschäftigungszeiten in jenen Gebieten anzuwenden ist, die an sich der Reichsversicherung unterlagen, ergibt sich auch aus Art. 6 § 15 FANG. Durch diese Vorschrift werden die vom Gesetz über die versicherungsrechtliche Stellung der im Dienste der NSDAP Beschäftigten vom 4. März 1943 betroffenen Personen ausdrücklich von der Anwendung des § 16 FRG ausgeschlossen; das setzt aber voraus, daß § 16 FRG an sich auf sie anzuwenden wäre, obwohl für ihr Beschäftigungsverhältnis im Vertreibungsgebiet Reichsrecht galt, nämlich die Befreiung von der sonst gegebenen Versicherungspflicht.

Auch die Neufassung des § 27 AVG durch das FANG steht dem nicht entgegen. § 27 Abs. 1 Buchst. a AVG bestimmt zwar, daß die nach früheren Vorschriften der reichsgesetzlichen Angestelltenversicherung - also auch nach den Vorschriften der Eingliederungsverordnungen - wirksam entrichteten Beiträge im Rahmen des AVG nunmehr unmittelbar anzurechnen sind; er sagt aber nicht, was gelten soll, wenn für ein Beschäftigungsverhältnis während der Eingliederung des Gebiets in der reichsgesetzlichen Angestelltenversicherung keine Versicherungsbeiträge entrichtet worden sind, aus welchem Grunde auch immer. Das richtet sich vielmehr ausschließlich nach § 16 FRG, es sei denn, seine Anwendung ist ausdrücklich ausgeschlossen. Für Beschäftigungen während der Zeit der "Eingliederung" ist das aber nicht geschehen, mit Ausnahme des Art. 6 § 15 FRG - durch den der Kläger jedoch nicht betroffen wird - und durch § 18 Abs. 2 Satz 2 FRG. Zu den in dieser Bestimmung bezeichneten Kalenderjahren gehört aber in der Angestelltenversicherung gerade nicht der im vorliegenden Fall maßgebliche Zeitabschnitt von 1940 bis 1945 (vgl. Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, 2. Aufl., § 18 Anm. 5, vorletzter Satz).

Die Vergünstigung, die § 16 FRG für den von dieser Vorschrift erfaßten Personenkreis bringt, mag gelegentlich unbillig erscheinen. Das gilt insbesondere dann, wenn Beiträge lediglich wegen der Höhe des Arbeitsverdienstes nicht geleistet wurden. Indessen ist das eine Besserstellung der Vertriebenen gegenüber den einheimischen Versicherten, die in § 16 FRG ausdrücklich vorgesehen worden ist (vgl. Satz 2, 2. Halbsatz). Sie erscheint auch gerechtfertigt, wenn man berücksichtigt, daß § 16 FRG als eine besondere Art des Lastenausgleichs auf sozialversicherungsrechtlichem Gebiet anzusehen ist und dass Fremdrentenzeiten lediglich nach Leistungsgruppen bewertet werden. Es darf auch nicht außer Betracht bleiben, daß bei Einführung der Reichsversicherung in den sudetendeutschen Gebieten die Versicherungspflicht ohne Rücksicht auf die Höhe des durchschnittlichen Jahresarbeitsverdienstes nur für diejenigen fortgalt, die gerade am 30. September 1938, dem Tage des "Münchener Abkommens", in versicherungspflichtiger Beschäftigung standen (§ 2 Abs. 1 der Verordnung vom 27. Juni 1940, RGBl I, 957), und daß trotz der Geltung des Reichsversicherungsrechts in den eingegliederten Gebieten teilweise die Versicherung nicht nach diesen Vorschriften durchgeführt worden ist. So haben zum Beispiel einige sudetendeutsche Städte für ihre Arbeiter keine Beiträge zur reichsgesetzlichen Rentenversicherung entrichtet (vgl. Urteil des 4. Senats vom 16. Mai 1963 - 4 RJ 577/62 - (SozR FremdRG § 1 Nr. 23) und Jantz/Zweng/Eicher, Das neue Fremdrenten- und Auslandsrentenrecht, § 16 Anm. 6 Abs. 4). Solche infolge der Eingliederung in den sudetendeutschen Gebieten entstandenen Unterschiede sollen aber bei der Eingliederung der Vertriebenen in das Bundesgebiet möglichst ebenso ausgeglichen werden wie die auf dem Recht des jeweiligen Herkunftslandes beruhenden Unterschiede. Für die Anwendung des § 16 FRG kann es daher nicht darauf ankommen, welches Recht zur Zeit der Beschäftigung in dem ausländischen Vertreibungsgebiet galt, sondern nur darauf, ob im konkreten Falle die Zeit dieser Beschäftigung nach den Vorschriften der §§ 15, 17 FRG oder der §§ 1250 Abs. 1 Buchst. a RVO, 27 Abs. 1 Buchst. a AVG und 50 Abs. 2 Satz 1 RKG Beitragszeit war oder ob die Anwendung des § 16 FRG ausdrücklich ausgeschlossen ist (§§ 17 Abs. 2 Satz 2, 18 Abs. 2, 3 FRG, Art. 6 § 15 FANG). Nur auf diese Weise ist es möglich, den zu begünstigenden Personenkreis und die zu gewährende Vergünstigung klar und praktisch abzugrenzen (vgl. auch BTDr. 3. WP, 1109, S. 36, 40 und 41).

§ 16 FRG ist demnach auch auf Beschäftigungszeiten anzuwenden, die in den eingegliederten Gebieten während der Zeit der Eingliederung zurückgelegt worden sind. Die Urteile des 4. Senats des BSG vom 7. April 1964 - 4 RJ 195/61 (BSG 20, 287, 291) und vom 9. September 1965 - 4 RJ 325/64 (SozR § 16 FRG Nr. 4) stehen dem nicht entgegen. Denn die Ausführungen des erstgenannten Urteils, eine nach dem 30. September 1938 im Sudetenland zurückgelegte Beschäftigungszeit falle nicht unter § 16 FRG, gehören nicht zu den tragenden Gründen der Entscheidung. Das Urteil vom 9. September 1965 aber hatte den besonderen Fall zum Gegenstand, daß Beiträge ursprünglich wirksam zur Reichsversicherung entrichtet, aber nachträglich erstattet worden waren. Mit der in der vorliegenden Sache allein zu entscheidenden Frage, ob eine Beschäftigung in einem eingegliederten Gebiet während der Zeit der Eingliederung als in einem "ausländischen" Gebiet im Sinne des § 16 FRG verrichtet anzusehen ist, hat sich der 4. Senat in dem genannten Urteil nicht befaßt. Ebenso kann der erkennende Senat offenlassen, ob auf einen Tatbestand, wie er dem 4. Senat zur Entscheidung vorlag, § 16 FRG anzuwenden wäre; denn für den Kläger sind Beitragsleistungen zur Reichsversicherung für die umstrittene Zeit weder nachgewiesen noch glaubhaft gemacht.

Da sich das angefochtene Urteil somit im Ergebnis als zutreffend erwiesen hat, war die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 2324442

BSGE, 177

DVBl. 1967, 669

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