Orientierungssatz

Die Anrechenbarkeit von Ausfallzeiten ist unzulässig, wenn der Versicherte sein Studium weder mit einer Hochschul- oder Staatsprüfung noch mit einer Promotion abgeschlossen hat. Das Studium der Zeitungswissenschaft kann auch nicht ausnahmsweise ohne einen derartigen Abschluß angerechnet werden, weil die Zeitungswissenschaft zu der Zeit, als der Versicherte in Heidelberg studierte (bis zum Wintersemester 1933/34), nur ein Fachgebiet der philosophischen Fakultät war; ein selbständiges Studium war in diesem Fachgebiet damals noch nicht möglich. Daß nach dem Schriftleitergesetz vom 1933-10-04 und der Durchführungsverordnung vom 1933-12-19 ein sechssemestriges Studium der Zeitungswissenschaft die Ausbildungszeit zum Schriftleiter abkürzen konnte, ist unerheblich.

 

Normenkette

AVG § 36 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 Buchst. b Fassung: 1965-06-09

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 3. Juli 1973 wird zurückgewiesen.

Der am 11. April 1974 erneut gestellte Antrag des Klägers, ihm zur Durchführung der Revision das Armenrecht zu bewilligen, wird abgelehnt.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

Die Beteiligten streiten über die Höhe des dem Kläger gewährten Altersruhegeldes, insbesondere darüber, ob Zeiten seiner Schulausbildung und seines Studiums anzurechnen sind.

Nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) bestand der im Mai 1905 geborene Kläger im März 1924 die Reifeprüfung. Von April 1924 bis September 1931 und dann wieder von November 1932 bis zum Ende des Wintersemesters 1933/34 war er en der Universität H immatrikuliert. Er belegte Vorlesungen, Praktika und Seminare der mathematisch-naturwissenschaftlichen und der staats- und wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Von Oktober 1928 bis Mai 1929 war er daneben als "Volontär und Hilfsarbeiter" in der Redaktion der Wochenzeitung "D" tätig. Von 1930 bis 1932 bearbeitete er nach seinen Angaben ein zeitungswissenschaftliches Thema. Ein Examen legte der Kläger nicht ab (er promovierte auch nicht). Von Mai 1934 an war er als Schriftleiter Mitglied des Reichsverbandes der deutschen Presse. Versicherungsbeiträge wurden für ihn erstmals ab Dezember 1933 entrichtet.

Die Beklagte sah bei der Berechnung des dem Kläger im Juni 1970 gewährten Altersruhegeldes von einer Berücksichtigung der Zeiten des weiteren Schulbesuchs ab Vollendung des 16. Lebensjahres (8. Mai 1921 bis 29. März 1924) sowie des Hochschulstudiums vom 25. April 1924 bis 30. September 1931 und vom 3. November 1932 bis 30. November 1933 ab, weil insoweit die Voraussetzungen zur Anrechnung als Ausfallzeiten nicht gegeben seien (Bescheide vom 4. Juni 1970 und 14. November 1972). Demgegenüber meint der Kläger, daß außer seiner weiteren Schulausbildung auch sein gesamtes Hochschulstudium als Ausfallzeit zu berücksichtigen sei. Klage und Berufung des Klägers blieben ohne Erfolg.

Nach der Ansicht des LSG scheitert die Anrechnung der geltend gemachten Zeiten als Ausfallzeiten daran, daß der Kläger sein Studium nicht "abgeschlossen" hat. Sein langjähriges Studium sei für seinen späteren Beruf als Schriftleiter gewiß nützlich gewesen; darauf komme es aber nicht an. Es handele sich in seinem Falle auch nicht um eine Hochschulausbildung, bei der ein Studienabschluß nicht vorgesehen war. Deshalb könne auch offen bleiben, ob in solchen seltenen Ausnahmefällen ein im Sinne des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) aF "abgeschlossenes" Studium schon dann vorliege, wenn die vorgeschriebene oder vorgesehene Studiendauer zurückgelegt war. Die Tatsache, daß ein auch nicht abgeschlossenes sechssemestriges Studium der Zeitungswissenschaft zur Verkürzung der Ausbildungszeit als Schriftleiter dienen konnte (§ 5 Nr. 6 und § 7 Abs. 1 des Schriftleitergesetzes vom 9. Oktober 1933 - RGBl I, 713 i.V.m. § 18 Abs. 2 der Verordnung über das Inkrafttreten und die Durchführung des Schriftleitergesetzes vom 19. Dezember 1933 - RGBl I, 1085), berechtige nicht dazu, sein Studium trotz fehlender Abschlußprüfung als "abgeschlossen" zu betrachten. Unter diesen Umständen entfalle auch die Anrechnungsmöglichkeit der weiteren Schulausbildung als Ausfallzeit, weil die erforderliche Anschlußfrist von fünf Jahren nicht gewahrt sei. Daran ändere auch die Neufassung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG durch das Rentenreformgesetz (RRG) vom 16. Oktober 1972 (RGBl I, 1965) nichts, weil sich der Versicherungsfall vor dem Inkrafttreten dieses Gesetzes (19. Oktober 1972) ereignet habe.

Mit der zugelassenen Revision beantragt der Kläger,

die vorinstanzlichen Urteile aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihm ab Juni 1970 ein höheres Altersruhegeld unter Berücksichtigung folgender Ausfallzeiten zu gewähren:

a)

Schulausbildung vom 8. Mai 1921 bis 29. März 1924,

b)

Hochschulstudium vom 25. April 1924 bis 30. September 1931 und vom 3. November 1932 bis 30. November 1933.

Er rügt die Verletzung des § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG aF. Das LSG habe insbesondere die Bedeutung des § 18 Abs. 2 der Durchführungsverordnung zum Schriftleitergesetz vom 19. Dezember 1933 verkannt, wonach ein sechssemestriges akademisches Studium der Zeitungswissenschaft auch ohne Abschlußprüfung als abgeschlossene Ausbildung anzusehen sei. Im übrigen habe das LSG seine Aufklärungspflicht verletzt; es sei verpflichtet gewesen, die wahre Bedeutung des § 18 der genannten Durchführungsverordnung durch Nachfrage in Archiven, durch Beiziehung alter Fachzeitschriften und notfalls durch Sachverständigengutachten zu prüfen.

Die Beklagte beantragt die Zurückweisung der Revision.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

 

Entscheidungsgründe

Die Revision des Klägers ist unbegründet. Die Beklagte hat zu Recht von der Anrechnung der weiteren Schulausbildung des Klägers und der geltend gemachten Hochschulausbildung abgesehen.

Nach § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG in seiner hier maßgebenden bis zum 18. Oktober 1972 gültig gewesenen Fassung sind Zeiten einer nach Vollendung des 16. Lebensjahres liegenden weiteren Schulausbildung sowie einer abgeschlossenen Fachschul- oder Hochschulausbildung in gewissem Umfang u.a. dann Ausfallzeiten, wenn im Anschluß daran innerhalb von fünf Jahren eine versicherungspflichtige Beschäftigung oder Tätigkeit aufgenommen worden ist. Wie das Bundessozialgericht (BSG) schon wiederholt entschieden hat, ist hier der Begriff der Hochschulausbildung zwar gleichbedeutend mit dem des Hochschulstudiums; unter einer "abgeschlossenen" Hochschulausbildung ist insoweit aber nicht die nur zeitgemäße, sondern vielmehr eine qualitative, d.h. erfolgreiche Beendigung des Studiums zu verstehen. Das Studium kann deshalb sowohl durch das Bestehen einer dafür vorgesehenen Hochschul- oder Staatsprüfung als auch durch eine Promotion "abgeschlossen" werden; dabei beendet schon der erste dieser möglichen Studienabschlüsse den als Ausfallzeit in Betracht kommenden Zeitraum, so daß schon mit ihm die für die Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit maßgebende Fünfjahresfrist beginnt (BSG SozR Nrn. 9, 59 und 61 zu § 1259 der Reichsversicherungsordnung - RVO -).

Das LSG ist zutreffend davon ausgegangen, daß grundsätzlich von einer "abgeschlossenen" Hochschulausbildung nur dann gesprochen werden kann, wenn eine Abschlußprüfung abgelegt worden ist. Das LSG hat dabei nicht verkannt, daß in Ausnahmefällen ein Studium auch ohne eine solche Prüfung abgeschlossen werden kann; es hat jedoch einen derartigen Ausnahmefall verneint. Dabei hat es zutreffend dem Umstand, daß das Studium des Klägers für seinen späteren Beruf als Schriftleiter von besonderem Wert gewesen sein mag, keine entscheidende rechtliche Bedeutung beigemessen, denn § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG stellt hierauf nicht ab, sondern nur auf die Hochschulausbildung als solche (vgl. BSG aaO).

Inzwischen hat auch der erkennende Senat im Urteil vom 19. Dezember 1973 (SozR Nr. 61 zu § 1259 RVO) zu der Frage Stellung genommen, unter welchen Umständen ein Studium, das weder mit einer Hochschul- oder Staatsprüfung noch mit einer Promotion beendet worden ist, im Sinne von § 36 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b AVG dennoch als "abgeschlossen" angesehen werden kann. Er hat dies dann für gerechtfertigt gehalten, wenn zur fraglichen Zeit auf dem in Betracht kommenden Fachgebiet ein selbständiges Studium möglich und als ordnungsmäßiges Studium anerkannt gewesen ist, ohne daß eine Abschlußprüfung oder auch nur die Erteilung eines Abschlußzeugnisses vorgesehen waren, hinsichtlich des Studienablaufes und der Studienzeit gewisse Mindestbedingungen aber doch erfüllt werden mußten. Ein derartiger Ausnahmefall liegt jedoch nach den Feststellungen des LSG, gegen die keine im Sinne des § 164 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) durchgreifenden Verfahrensrügen erhoben worden sind, hier nicht vor. Das LSG konnte sich dabei auf die schriftliche Auskunft des Universitätsarchivs H vom 25. November 1970 stützen und hatte deshalb keinen Anlaß zu weiteren Ermittlungen.

Das Vorbringen des Klägers kann zu keinem anderen Ergebnis führen. Es trifft zwar zu, daß - wie der Kläger immer wieder geltend macht - in § 18 der Durchführungsverordnung zum Schriftleitergesetz vom 19. Dezember 1933 nur ein sechssemestriges Studium der Zeitungswissenschaft verlangt war. Hierauf aber kommt es für die Wertung eines solchen Studiums im Rahmen des § 36 Abs. 1 Nr. 4 AVG nicht entscheidend an. Die Vorschrift des § 18 Abs. 2 der Durchführungsverordnung vom 19. Dezember 1933 hat nur die mögliche Verkürzung der nach § 7 des Schriftleitergesetzes vom 4. Oktober 1933 erforderlichen einjährigen Fachausbildung bei einer Schriftleitung geregelt. Sie sagt nichts darüber, ob in dem Fachgebiet "Zeitungswissenschaft" zur fraglichen Zeit (1924 bis 1932) ein selbständiges Studium überhaupt und unter welchen Bedingungen es möglich und als ordnungsmäßiges Studium anerkannt gewesen ist. Nach der eindeutigen Auskunft des Universitätsarchivs Heidelberg vom 25. November 1970 bildete die Zeitungswissenschaft jedenfalls zu der Zeit, als der Kläger in H studiert hat, nur ein Fachgebiet der philosophischen Fakultät. Das Studium der Zeitungswissenschaft war also damals für sich allein noch kein ordnungsmäßiges Studium. Ob dieses Studium zu späterer Zeit, etwa nach 1932/33 die vorstehend genannten Voraussetzungen erfüllt hat, ist ohne rechtliche Bedeutung. Die Möglichkeit, diese Studienzeit des Klägers als Ausfallzeit zu berücksichtigen, ist daher nicht gegeben.

Da der Kläger andere als Studienabschluß zu wertende Prüfungen nicht abgelegt hat, entfällt somit die Anrechnungsmöglichkeit der gesamten geltend gemachten Studienzeit als Ausfallzeit. Gleiches gilt für die weitere Schulausbildung des Klägers (1921 bis 1924), weil - wie das LSG zu Recht entschieden hat - insoweit die erforderliche Anschlußfrist von fünf Jahren nicht gewahrt ist. Inzwischen ist zwar auf Grund des RRG vom 16. Oktober 1972 (BGBl I, 1965) die Fünfjahresfrist ersatzlos weggefallen; diese Gesetzesänderung gilt aber nur für die nach dem 18. Oktober 1972 eingetretenen Versicherungsfälle (Art. 1 § 2 Nr. 13 a, Art. 6 § 8 Abs. 2 RRG), was im Falle des Klägers nicht zutrifft. Seine Revision muß deshalb als unbegründet zurückgewiesen werden (§ 170 Abs. 1 Satz 1 SGG).

Unter diesen Umständen war auch der am 11. April 1974 erneut gestellte Antrag des Klägers, ihm das Armenrecht zu bewilligen, abzulehnen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1648112

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