Leitsatz (redaktionell)
Die das Wohngebäude eines großstädtischen Miethauses abschließende Tür bildet auch dann die Grenze für den persönlichen Lebensbereich, wenn sie von der Straße her erst über einen nicht abgeschlossenen Hof erreicht werden kann.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 30. Juni 1960 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger W H die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Der Kläger beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Unfalls vom 16. Juli 1958. Die Allgemeine Ortskrankenkasse (AOK) Berlin betreibt die Feststellungen der Unfallentschädigung auf Grund von § 1511 der Reichsversicherungsordnung (RVO).
Über den Hergang des Unfalls enthält das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) Berlin folgende Feststellungen. Der Kläger wohnt in einem Miethaus in Berlin-Lichtenrade, dessen Eingang sich auf der Hofseite befindet. Der Hof ist durch je eine nicht durch ein Tor abgeschlossene Auffahrt an den Seiten des an der Straße gelegenen Hauses erreichbar. Auf dem Hof befindet sich ein Garagengebäude. In einer der Garagen stellte der Kläger das Moped ein, das er für die Wege von und nach seiner Arbeitsstätte benutzte. Gleichzeitig wurde diese Garage auch als Unterstellraum für den Kraftwagen des Hauswirts und für das Motorrad eines anderen nicht im Hause wohnenden Lichtenrader Einwohners benutzt. Am 16. Juli 1958 war der Kläger wie üblich mit seinem Moped von der Arbeitsstätte gekommen und hatte das Rad in die Garage gebracht. Beim Verlassen der Garage kamen ihm Zweifel, ob er den Benzinhahn des Mopeds verschlossen habe. Um sich hiervon zu überzeugen, wollte er noch einmal zurückgehen. Dabei stolperte er über eine Wasserablaufroste in der Garage und zog sich beim Hinfallen einen Oberarmbruch zu, der eine längere stationäre Krankenhausbehandlung erforderlich machte.
Die Berufsgenossenschaft (BG) erkannte zunächst der Krankenkasse gegenüber die stationäre Behandlung des Klägers als berufsgenossenschaftliches Heilverfahren an, lehnte aber schließlich durch Bescheid vom 30. Oktober 1958 den Anspruch auf Entschädigung mit folgender Begründung ab: Der versicherte Weg von der Arbeitsstätte ende mit dem Wiedererreichen des häuslichen Wirkungskreises. Die Garage, in der sich der Unfall ereignet habe, müsse noch dem engeren häuslichen Wirkungskreis zugerechnet werden.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger Klage beim Sozialgericht (SG) Berlin erhoben. Auch die AOK Berlin hat Klage erhoben.
Das SG hat durch Urteil vom 20. Februar 1959 den Bescheid aufgehoben und die Beklagte verurteilt, den Unfall als Wegeunfall anzuerkennen.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte form- und fristgerecht Berufung beim LSG Berlin eingelegt. Das LSG hat durch Urteil vom 30. Juni 1960 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG mit der Maßgabe zurückgewiesen, daß die Beklagte dem Kläger aus Anlaß seines Unfalls die gesetzliche Entschädigung zu gewähren hat. Es hat die Revision zugelassen.
Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Der Weg von der Arbeitsstätte werde durch den häuslichen Bereich des Versicherten begrenzt. Das Reichsversicherungsamt (RVA) sei bemüht gewesen, eine allgemein verständliche und nach objektiven Merkmalen ausgerichtete Grenze zu finden und habe als solche schließlich die Außentür des vom Versicherten bewohnten Gebäudes angenommen (EuM Bd. 47, 413). Das habe auch das Bundessozialgericht (BSG) gebilligt (BSG 2, 239). Man müsse grundsätzlich unterscheiden, ob der Versicherte ein Mehrfamilienhaus bewohne oder ein eigenes Anwesen habe, in dem er mehr oder weniger allein schalte und walte. In letzterem Falle erstrecke sich seine private Sphäre nicht nur auf das eigentliche Wohngebäude, sondern auch auf andere Teile des Anwesens, wie etwa einen Garten, einen Geräteschuppen oder eine zum Anwesen gehörende Garage, die eine Gefahrenquelle darstellten, die dem Versicherten genau vertraut sei und für die er selbst verantwortlich sei. Unter diesem Gesichtspunkt sei auch die Entscheidung des LSG Baden-Württemberg (Breithaupt 1959, 800) zu betrachten, die einen Unfall betreffe, den ein Versicherter im Vorraum einer Waschküche erlitten habe, wo er sein Motorrad abstellen wollte. Die nicht zum eigentlichen Wohngebäude gehörende Waschküche, die gleichzeitig als Abstellraum für das Motorrad benutzt worden sei, sei dem häuslichen Bereich zugerechnet worden, weil sie nach ihrem Zweck der täglichen haus- und eigenwirtschaftlichen Betätigung des Versicherten gedient habe. Im vorliegenden Fall lägen die Verhältnisse aber anders. Der Kläger habe kein eigenes Anwesen, sondern bewohne ein Mehrfamilienhaus, und die Garage habe nicht seiner eigenen Verfügungsgewalt unterstanden und nicht seiner sonstigen haus- und eigenwirtschaftlichen Betätigung gedient, sondern sei gleichzeitig auch als Unterstellraum für den Kraftwagen des Hauswirts und das Motorrad eines anderen nicht im Haus wohnenden Lichtenrader Einwohners benutzt worden. Die damit verbundene ständige Veränderung der Abstellverhältnisse schließe auch den für die Versagung des Versicherungsschutzes im häuslichen Bereich mitentscheidenden Gesichtspunkt aus, daß dieser Bereich eine Gefahrenquelle darstelle, die dem Versicherten genau vertraut und für die er selbst verantwortlich sei. Der Kläger habe deshalb mit dem Betreten der Garage seinen häuslichen Bereich noch nicht erreicht und daher den Heimweg von der Arbeitsstätte noch nicht beendet gehabt. Der Heimweg habe vielmehr erst an der Außentür des Wohngebäudes geendet. Der Umstand, daß der Kläger sich nach dem Abstellen des Mopeds beim Verlassen der Garage noch einmal umgewendet habe, um den Benzinhahn zu kontrollieren, habe dem Weg nicht die Eigenschaft des Heimweges genommen. Das SG habe mit Recht einen Arbeitsunfall angenommen, so daß dem Kläger die beantragte Entschädigung zuzusprechen gewesen sei. Da sich der Urteilstenor des SG-Urteils unzutreffend nur auf Anerkennung des Unfalls als Wegeunfall richte, sei die Berufung gegen das Urteil mit der Maßgabe zurückzuweisen, daß die Beklagte dem Kläger aus Anlaß des Unfalls die gesetzliche Entschädigung zu gewähren hat.
Die Beklagte, die den Empfang dieses Urteils unter dem 12. August 1960 bestätigt hat, hat am 19. August 1960 Revision eingelegt und sie am 29. September 1960 begründet. Sie beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG die Klage abzuweisen,
hilfsweise beantragt sie,
das Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuverweisen.
U. a. vertritt sie mit ausführlicher Begründung die Auffassung, die Garage habe so nahe an der Wohnung gelegen, daß sie ebenso zu dem häuslichen Bereich des Klägers gehört habe wie etwa eine außerhalb des eigentlichen Wohngebäudes befindliche Waschküche. Der gesamte Komplex des Hofes und der an ihm liegenden Gebäude sei eine wirtschaftliche Einheit, wobei auch der Bauernhofcharakter der gesamten Liegenschaft zu berücksichtigen sei. Diese Liegenschaft sei durch die beiden Auffahrten nach der Straße zu deutlich abgegrenzt gewesen.
Der Kläger und die AOK Berlin beantragen übereinstimmend
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II
Die Revision der Beklagten ist zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG - die insoweit auch von der Revision nicht angegriffen worden sind (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -) - hatte der Kläger mit seinem Moped einen nach § 543 aF RVO unter Versicherungsschutz stehenden Weg von der Arbeitsstätte zurückgelegt, als er das Grundstück erreichte, auf dem sich sowohl die Garage, in welcher der Kläger sein Moped einzustellen pflegte, als auch das Wohnhaus befindet, in dem der Kläger eine Mietwohnung im Giebel bewohnt.
Da auch außer Zweifel steht, daß der Unfall Folgen verursacht hat, die nach Art und Dauer einen Anspruch auf Entschädigung begründen können, hängt die Entscheidung über den Entschädigungsanspruch des Klägers ausschließlich davon ab, ob der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls noch "unterwegs" war, d. h. noch den Weg von der Arbeitsstätte zurücklegte.
Wie auch von den Beteiligten nicht verkannt wird, ist in den Fällen, in denen, wie im vorliegenden, die Wohnung das Endziel des Weges von der Arbeit bildet, das Erreichen des häuslichen Wirkungskreises oder persönlichen Lebensbereiches die entscheidende Grenze für das Zurücklegen des versicherten Weges. Dem steht nicht entgegen, daß der Versicherte u. U. auch in diesem Bereich noch Strecken zurücklegen muß, um den Weg zur Arbeit antreten oder nach dem Heimweg endgültig zur beliebigen Verwendung seiner Freizeit übergehen zu können; denn in diesem Bereich treten die ursächlichen Beziehungen, die zwischen dem Zurücklegen einer Wegstrecke und der versicherten Arbeitstätigkeit bestehen, in der Regel gegenüber den ursächlichen Beziehungen zum unversicherten persönlichen Leben als rechtlich unwesentlich in den Hintergrund (vgl. auch das zu einem Unfall innerhalb eines Gebäudes, in dem sich Wohnräume und Betriebsräume befinden, ergangene Urteil des erkennenden Senats vom 29. Januar 1960, BSG 11, 267).
Mit der örtlichen Abgrenzung des hiernach für Beginn und Ende des nach § 543 aF RVO versicherten Weges im Regelfall maßgebenden Bereichs hat sich der Senat im Urteil vom 13. März 1956 (BSG 2, 239) auseinandergesetzt, auf das im einzelnen verwiesen wird. In diesem Urteil, das sich allerdings, wie auch das LSG nicht verkannt hat, auf die Verhältnisse in städtischen Wohnhäusern mit abgeschlossenen Stockwerkswohnungen bezieht, hat der Senat mit ausführlicher Begründung dargelegt, daß der unversicherte häusliche Lebensbereich unter regelmäßigen Verhältnissen nicht schon mit der die Wohnung abschließenden Tür endet, sondern sich auch noch auf das Treppenhaus erstreckt und erst mit dem Durchschreiten der Außenhaustür verlassen wird. Dementsprechend endet andererseits der Weg von der Arbeitsstätte im Regelfall auch erst mit dem Erreichen dieser Tür.
Der vorliegende Fall bietet auch nach der Auffassung des erkennenden Senats in tatsächlicher Beziehung keine Besonderheiten, die zu einer abweichenden Grenzziehung Veranlassung geben. Wie das LSG zutreffend - und insoweit in tatsächlicher Beziehung von der Revision unbeanstandet - ausgeführt hat, handelt es sich nicht um ein landwirtschaftliches Grundstück, das von einer Familie oder familienhaften Gemeinschaft bewohnt und bewirtschaftet wird. Vielmehr sind die Nutzungs- und Verfügungsmöglichkeiten des Klägers außerhalb des eigentlichen Wohnhauses gegenüber den in den üblichen städtischen Miethäusern bestehenden Verhältnissen nicht erweitert. Dazu kommt, daß der Hof über die nicht abgeschlossenen Auffahrten praktisch weitgehend der Öffentlichkeit zugänglich ist und die Gebäude hinter dem Hof nicht nur von den Hausbewohnern zum Einstellen von Kraftfahrzeugen benutzt werden. Auch die Ausführungen der Revision enthalten nach der Auffassung des Senats keine besonderen Gesichtspunkte, die dafür sprechen, daß im vorliegenden Fall der Hof und die hinter ihm liegenden Gebäude dem persönlichen Lebensbereich des Klägers zugerechnet werden müssen. Insbesondere verkennt die Revision, daß die Ausführungen über den Verkehr in den Treppenhäusern großer Miethäuser und den geringen Einfluß der Mieter auf die Zugänge zu Kellern und sonstigen Nebenräumen allenfalls geeignet sind, die Auffassung zu begründen, daß unter derartigen Verhältnissen bereits die Wohnungstür als Grenze des persönlichen Lebensbereiches angesehen werden müsse.
Der Senat stimmt mit dem LSG darin überein, daß auch im hier zu entscheidenden Fall die das Wohngebäude abschließende Haustür die entscheidende Grenze für den persönlichen Lebensbereich des Klägers bildet. Der versicherte Weg des Klägers von der Arbeitsstätte war erst mit dem Erreichen dieser für beendet.
Allerdings war der Kläger im Zeitpunkt des Unfalls nicht in Richtung auf diese Tür unterwegs. Er hatte in das Zurücklegen des restlichen Stücks des Heimwegs insofern eine an sich abgrenzbare Tätigkeit mit anderer Zielrichtung eingeschoben, als er umkehren und nochmals nach dem Benzinhahn sehen wollte. Diese Einschiebung, die ohne den Unfall nur sehr kurze Zeit in Anspruch genommen haben würde, ist jedoch vom LSG mit Recht nicht als eine Unterbrechung des Heimweges gewertet worden, die zur Folge hätte, daß während ihrer Dauer auch der Versicherungsschutz unterbrochen gewesen wäre (vgl. SozR RVO § 543 aF Aa 45 Nr. 49).
Da der Kläger hiernach im Zeitpunkt des Unfalls unter Versicherungsschutz nach § 543 aF RVO stand, hat das LSG mit Recht das Bestehen von Entschädigungsansprüchen bejaht und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Berlin zurückgewiesen. Die Berichtigung des ungenau gefaßten Entscheidungssatzes des Urteils des SG ist verfahrensrechtlich nicht zu beanstanden.
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet und muß zurückgewiesen werden.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 SGG.
Fundstellen