Leitsatz (amtlich)
Zur Frage der Unterbrechung des versicherten Wegs zur Arbeitsstätte durch einen Weg, der unternommen wird, um das Kind der Versicherten während der Arbeitszeit unterzubringen.
Normenkette
RVO § 543 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1942-03-09
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 31. Mai 1960 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Von Rechts wegen.
Gründe
I
Die Klägerin beansprucht Entschädigung für die Folgen eines Unfalls vom 12. Februar 1955.
Über den Hergang des Unfalls enthält das Urteil des Landessozialgerichts (LSG) folgende tatsächlichen Feststellungen:
Die jetzt 34 Jahre alte Klägerin nahm am 13. Januar 1955 bei der Firma M W. GmbH in Wuppertal-Barmen, W.-straße …, eine Tätigkeit als Hilfsarbeiterin auf. Sie ist verheiratet und wohnt mit ihrem Ehemann und Kinde im Hause Färberstraße 23 in Wuppertal-Barmen.
Im Januar 1955 und Anfang Februar 1955 legte die Klägerin ihren täglichen Weg zur Arbeitsstätte bei der Firma Mo. zu Fuß zurück. Dieser Weg führte von der Färber- über die Ster-, Seifen-, Germanen-, Leonhard-, Stahl-, Klingelholl- und Schützenstraße zur Winchenbachstraße . Dies war der kürzeste Weg zwischen ihrer Wohnung und ihrer Arbeitsstätte. Bei Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln hätte die Klägerin einen längeren Weg zurücklegen müssen. Außerdem hätte sie in diesem Falle mehr Zeit für die Zurücklegung ihres Arbeitsweges gebraucht.
Da der Ehemann der Klägerin ebenfalls berufstätig war, brachte die Klägerin im Januar 1955 und Anfang Februar 1955 vor dem Aufsuchen ihrer Arbeitsstelle ihr damals vier Jahre altes Kind zu ihrer Mutter. Die Mutter beaufsichtigte das Kind während der Arbeitszeit der Klägerin bei der Firma M. Nach Arbeitsschluß holte die Klägerin ihr Kind bei der Mutter wieder ab und nahm es mit in ihre eheliche Wohnung. Die Klägerin konnte ihr Kind während ihrer Arbeitszeit nicht in ihrer ehelichen Wohnung lassen.
Die Mutter der Klägerin wohnt auf der S.-straße … in Wuppertal-Barmen. Die Klägerin kam daher auf ihrem Weg zur Arbeitsstätte und von ihrer Arbeitsstätte bei der Firma Mo. unmittelbar am Hause ihrer Mutter vorbei.
Vor den Häusern S.-straße …, … a und … befindet sich ein Vorgarten. Der Weg, der durch diesen Vorgarten führt, ist etwa 5 m lang. Dieser Weg führt zu einer Mitteltreppe, die aus fünf Stufen besteht. Die Entfernung von der obersten Stufe der Mitteltreppe bis zur untersten Stufe der Treppe, die unmittelbar zur Tür des Hauses S.-straße ... führt, beträgt ebenfalls etwa 5 m. Die Haustürtreppe hat vier Stufen. Der Vorgarten der Häuser S.-straße ..., … a und … ist durch eine Mauer vom Bürgersteig getrennt. Der Vorgarten steht im Privateigentum.
Am Morgen des 12. Februar 1955 mußte die Klägerin um 7 Uhr ihre Tätigkeit bei der Firma M aufnehmen. Um rechtzeitig auf der Arbeitsstelle zu sein, hatte sie gegen 6,30 Uhr mit ihrem Kinde ihre eheliche Wohnung auf der Färberstraße verlassen. Sie brachte das Kind in die Wohnung ihrer Mutter, anschließend verließ sie das Haus, in dem ihre Mutter wohnt, um zu ihrer Arbeitsstätte zu gehen. Vor dem Erreichen des Bürgersteiges der Stahlstraße stürzte sie aber um etwa 6,40 Uhr infolge Schneeglätte auf einer Stufe der Mitteltreppe des Vorgartens. Durch den Sturz zog sich die Klägerin eine Unterschenkelfraktur am linken Bein zu.
Die Beklagte lehnte den Entschädigungsanspruch durch Bescheid vom 18. August 1955 mit folgender Begründung ab: Die Klägerin sei vor Erreichen der Straße auf dem Zugang zum Wohnhaus gestürzt. Das Unfallereignis habe sich also während einer eigenwirtschaftlichen Tätigkeit, nämlich dem Wegbringen des Kindes zu ihrer Mutter, ereignet. Im Zeitpunkt des Unfallgeschehens könne ein betrieblicher Zusammenhang nicht anerkannt werden.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin Klage beim Sozialgericht (SG) Düsseldorf erhoben. Zur Begründung hat sie ua vorgetragen, das Wegbringen des Kindes sei eine Vorbedingung für die Erfüllung ihres Arbeitsvertrages gewesen; außerdem habe die Klägerin sich nach Übergabe des Kindes bereits wieder auf dem Weiterweg vom Hause der Mutter zum Betrieb befunden.
Das SG hat durch Urteil vom 25. Juni 1957 die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides verurteilt, den Unfall der Klägerin als Arbeitsunfall anzuerkennen. Zur Begründung ist in dem Urteil ua ausgeführt, der Weg, den die Klägerin wie immer, wenn sie zur Arbeit ging, von ihrer Wohnung über die Wohnung ihrer Mutter zu ihrer Arbeitsstätte zurückgelegt habe, sei in seiner Gesamtheit - einschließlich des geringfügigen Abweichens (Umweg) zur Übergabe des Kleinkindes - als Weg im Sinne des § 543 der Reichsversicherungsordnung (RVO) anzusehen. Die Klägerin habe sich im Zeitpunkt des Unfalls auf dem Weg befunden, den sie zur Erreichung ihrer Arbeitsstätte gehen mußte.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte - fristgerecht - Berufung beim LSG Nordrhein-Westfalen eingelegt.
Durch Urteil vom 31. Mai 1960 hat das LSG unter Änderung des Urteils des SG die Klage abgewiesen und die Revision zugelassen.
Zur Begründung hat das LSG ua ausgeführt: Der unter Versicherungsschutz stehende Arbeitsweg habe mit dem Verlassen des Hauses Färberstraße 23 begonnen, in dem sich die Wohnung der Klägerin befinde, die den Mittelpunkt ihres Lebens bilde. Diesen Weg habe die Klägerin aber unterbrochen, als sie den Bürgersteig der Stahlstraße verließ, um das Kind in die Wohnung der Mutter zu bringen. Von diesem Zeitpunkt an sei die Zielrichtung nicht mehr auf die Arbeitsstätte, sondern auf das Haus der Mutter gerichtet gewesen. Da sie zu derselben Stelle zurückkehren wollte, handele es sich nicht um einen Umweg, sondern um einen Abweg. Dieser habe im wesentlichen dem eigenen persönlichen Bereich der Klägerin gedient. Das Wegbringen des Kindes sei zwar erforderlich gewesen, damit die Klägerin ihre Arbeit verrichten konnte. Die Sorge um das Wohl des Kindes habe aber nicht dem Betrieb, sondern der Klägerin und ihrem Ehemann obgelegen. Das Wegbringen des Kindes habe deshalb mit der Tätigkeit der Klägerin im Betrieb in keinem rechtlich wesentlichen Zusammenhang gestanden. Der Unfall habe sich vor Beendigung des Abweges ereignet und deshalb nicht unter Versicherungsschutz gestanden.
Die Klägerin, der das Urteil des LSG am 5. September 1960 zugegangen ist, hat am 10. September 1960 Revision eingelegt und sie am 27. September 1960 begründet. Sie beantragt,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Düsseldorf zurückzuweisen.
Zur Begründung hat die Klägerin ausgeführt: Die Entscheidung halte sich rein äußerlich im Rahmen des Urteils des Senats vom 16. April 1957 (SozR RVO § 543 aF Nr. 5). In diesem Urteil sei jedoch ausdrücklich ausgeführt, es solle nicht verkannt werden, daß eine übertrieben enge Anwendung dieses Grundsatzes zu Unbilligkeiten führen könne. Das gebe Anlaß, den hier vorliegenden Tatbestand einer lebensnäheren Kontrolle zu unterziehen. Zwischen dem Einkauf von Wurstwaren nach Ende der Arbeit und dem Wegbringen eines Kindes zwecks Versorgung und Betreuung während der Arbeitszeit bestehe ein wesentlicher Unterschied. Das habe der Richter des SG auch klar erkannt. Erst durch die Übergabe des Kindes sei die Klägerin in die Lage versetzt worden, einer Arbeitstätigkeit nachzugehen. Die Unterbrechung des Arbeitsweges sei der Arbeit der Klägerin im Betrieb nicht nur förderlich gewesen, sondern die Klägerin habe ihre Betriebstätigkeit überhaupt nicht ausführen können, wenn sie das Kind nicht untergebracht hätte.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision der Klägerin ist zulässig. Sie hatte jedoch keinen Erfolg.
Gegenüber der Auffassung des LSG, das Wegbringen des Kindes in die Wohnung der Mutter stehe mit der versicherten Arbeitstätigkeit der Klägerin nicht in einem rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang, weist die Revision - an sich zutreffend - darauf hin, daß die Versorgung und Betreuung des Kindes während der Arbeitszeit der Klägerin eine notwendige Voraussetzung dafür gewesen sei, daß die Klägerin zur Arbeit gehen konnte. Das hat das LSG auch nicht verkannt; es hat jedoch ohne Rechtsirrtum die Frage verneint, ob ein Weg, der dem Zweck dient, das Kind an einen Ort zu bringen, wo es während der Arbeitszeit der Klägerin versorgt wird, mit der Tätigkeit im Unternehmen "zusammenhängt" (§ 543 RVO aF).
Die Verpflichtung der Klägerin - und ihres Ehemannes -, für das Kind zu sorgen, hat ihre Wurzel in den familienrechtlichen Beziehungen (vgl. §§ 1616 ff, insbesondere § 1626 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -). Die zu ihrer Erfüllung notwendigen Tätigkeiten gehören dem unversicherten persönlichen Lebensbereich der Klägerin an. Das gilt auch dann, wenn deshalb besondere Maßnahmen erforderlich sind, weil beide Ehegatten zu derselben Zeit berufstätig sein wollen und das Kind noch nicht alt genug ist, um während der Arbeitszeit notfalls auch ohne Aufsicht und Betreuung bleiben zu können. Der Umstand, daß ohne eine ausreichende Betreuung des Kindes eine gleichzeitige Arbeitstätigkeit beider Ehegatten nicht möglich sein würde, reicht - trotz der Bedeutung der Frauenarbeit für die Erfüllung des Arbeitskräftebedarfs der Wirtschaft - für sich allein nicht aus, um einen auch für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung wesentlichen ursächlichen Zusammenhang zwischen einem zu diesem Zweck unternommenen Weg und der versicherten Arbeitstätigkeit zu begründen. Tätigkeiten, die den Zweck haben, die Betreuung eines Kindes während der Arbeitszeit sicherzustellen, stehen vielmehr rechtlich den zahlreichen anderen Verrichtungen gleich, ohne die eine ordnungsmäßige Erfüllung der Verpflichtungen aus dem Arbeitsverhältnis nicht möglich ist, die aber trotzdem dem unversicherten persönlichen Lebensbereich zuzurechnen sind (vgl. zB BSG 7, 255; 9, 222; 11, 267).
Der vorliegende Fall bietet keine Veranlassung, die Frage zu prüfen, welche Bedeutung es für die Rechtslage haben würde, wenn das Unternehmen, um die Beschäftigung von Müttern mit Kleinkindern zu ermöglichen, die Verpflichtung übernimmt, während der Arbeitszeit für eine Betreuung der Kinder zu sorgen.
Das Zurücklegen des Weges, den die Klägerin am Unfalltag von ihrer Wohnung aus angetreten hatte, diente also bis zum Erreichen des Hauses der Mutter insofern einem Zweck, der keinen Versicherungsschutz begründete, als das Kind zur Mutter gebracht werden sollte. Trotzdem stand jedoch, wie das LSG zutreffend angenommen hat, der gesamte Weg von der Wohnung bis zur Arbeitsstätte unter Versicherungsschutz nach § 543 RVO aF; denn der erste Teil des Weges war zugleich auch notwendig, damit die Klägerin die Arbeitsstätte erreichen konnte, und war auch örtlich mit dem Weg zur Arbeitsstätte identisch. Das Zurücklegen dieses Wegteiles stand deshalb auch mit der versicherten Tätigkeit in einem rechtlich wesentlichen Zusammenhang (vgl. BSG 3, 240, 245).
Im Zeitpunkt des Unfalls hatte die Klägerin jedoch in das Zurücklegen des versicherten Weges eine Tätigkeit eingeschoben, die nicht dem Zweck diente, die Arbeitsstätte zu erreichen, sondern vom Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte sowohl örtlich, d. h. hinsichtlich der Zielrichtung, als auch hinsichtlich des Zweckes abgrenzbar ist (vgl. hierzu SozR RVO § 543 aF Nr. 5 und 12). Der Zweck, dem das Zurücklegen dieses eingeschobenen Wegteiles diente, das Kind zur Mutter zu bringen, war, wie dargelegt, nicht geeignet, einen auch rechtlich wesentlichen ursächlichen Zusammenhang mit der versicherten Tätigkeit herzustellen. Die eingeschobene Verrichtung war aber auch nicht so geringfügig, daß sie rechtlich unberücksichtigt bleiben könnte. Der hier zu beurteilende Sachverhalt unterscheidet sich zB von dem Sachverhalt, über den der erkennende Senat durch das Urteil vom 28. Februar 1964 (SozR RVO § 543 aF Nr. 49) zu entscheiden hatte, dadurch, daß die Klägerin nicht nur die Straße überquert oder sonst im Bereich der Straße das Zurücklegen des Weges zur Arbeitsstätte kurz unterbrochen hatte. Um das Kind zur Mutter bringen zu können, mußte die Klägerin vielmehr die Straße verlassen und das verhältnismäßig ausgedehnte Vorgelände der Häuser Stahlstraße 2, 2 a und 4 überqueren, das durch Mauern und Treppen von dem der Öffentlichkeit unbeschränkt zur Verfügung stehenden Straßenbereich deutlich abgegrenzt ist. Dann mußte die Klägerin die Wohnung der Mutter im Hause S.-straße ... aufsuchen, das Haus wieder verlassen und schließlich nochmals das Vorgelände überqueren, um die Straße wieder zu erreichen, auf der sie den Weg zur Arbeitsstätte fortsetzen wollte. Auch wenn zugunsten der Klägerin unterstellt wird, daß die Übergabe des Kindes nur kurze Zeit beansprucht hat, handelt es sich um eine nach Art und Umfang so wesentliche Einschiebung, daß sie rechtlich als eine Unterbrechung des Weges zur Arbeitsstätte zu werten ist, die zur Folge hat, daß während ihrer Dauer auch der Versicherungsschutz unterbrochen war. Diese Unterbrechung war im Zeitpunkt des Unfalls noch nicht beendet, denn die Klägerin hatte den Fußweg der Straße, von dem aus sie zum Hause S.-straße ... abgebogen war, noch nicht wieder erreicht, sondern befand sich noch auf der zu den Hauseingängen S.-straße … a und … führenden Mitteltreppe, die von dem Straßenbereich noch durch ein 5 Meter langes Wegstück des Vorgeländes getrennt ist. Das LSG hat deshalb das Bestehen eines Versicherungsschutzes für den Zeitpunkt des Unfalls im Ergebnis zutreffend verneint.
Die Revision der Klägerin ist unbegründet und muß zurückgewiesen werden.
Die Entscheidung über die außergerichtlichen Kosten des Revisionsverfahrens ergeht auf Grund von § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Fundstellen