Leitsatz (amtlich)
Zur Bedeutung der nach VuVO § 11 ausgestellten Bescheinigungen.
Leitsatz (redaktionell)
Verfahren nach VuVO § 11 - Bindungswirkung - neuer Verwaltungsakt:
1. Die im Verfahren nach VuVO § 11 abgegebenen Erklärungen und Bescheinigungen sind Verwaltungsakte, die unter SGG § 77 fallen.
2. Die Bindungswirkung erstreckt sich sowohl auf die anerkannte Versicherungszeit als auch auf die dabei etwa vorgenommene Einstufung in Leistungsgruppen.
3. Der Versicherungsträger kann zugunsten des Versicherten einen neuen Verwaltungsakt erlassen, sogar ausschließlich zu dem Zweck, um den Rechtsweg erneut zu eröffnen.
Normenkette
FRG § 22 Anl 1 Buchst. B Fassung: 1960-02-25; VuVO § 11 Abs. 2 Fassung: 1960-03-03; SGG § 77
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 12. August 1968 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die im Jahre 1906 geborene Klägerin war ua vom 23. Juni bis 31. Juli 1950 bei der Handwerkskammer in Mecklenburg als Büroangestellte und vom 1. August 1950 bis 31. August 1961 bei der Sozialversicherungskasse in S als Verwaltungsangestellte beschäftigt gewesen.
Am 10. März 1965 bescheinigte ihr die Beklagte nach § 11 der Versicherungsunterlagen-Verordnung (VuVO) vom 3. März 1960, daß diese Zeiten aufgrund des Fremdrentengesetzes (FRG) vom 25. Februar 1960 (BGBl I 93) anrechenbare Versicherungszeiten seien. Zugleich stufte die Beklagte die Klägerin für die Zeit ihrer Tätigkeit bei der Handwerkskammer in die Leistungsgruppe (LG) B 5 der Anlage 1 zu § 22 FRG und für die übrige Zeit ihrer Beschäftigung in S in die LG B 4 ein. Hiergegen wandte sich die Klägerin mit einem Schreiben vom 8. April 1965 und begehrte für die Zeit vom 23. Juni bis 31. Juli 1950 Einstufung in die LG B 4 und für die übrige Zeit in die LG B 3. Diesem Antrag entsprach die Beklagte mit Schreiben und Bescheinigung vom 22. Juni 1965, die am selben Tag ohne Rechtsmittelbelehrung als einfacher Brief zur Post gegeben wurden.
Durch Bescheid vom 24. November 1966 wurde der Klägerin vorgezogenes Altersruhegeld bewilligt. Dabei hatte die Beklagte der Rentenberechnung ua die in der Bescheinigung vom 22. Juni 1965 aufgeführten Versicherungszeiten und die der darin vorgenommenen Einstufung entsprechenden Bruttoarbeitsentgelts der Anlage 11 zu § 22 FRG zugrunde gelegt.
Hiergegen erhob die Klägerin Klage mit dem Antrage, die Beklagte in Abänderung des Bescheides vom 24. November 1966 zu verurteilen, die Zeit vom Oktober 1954 bis August 1961, während der sie als Rentenprüferin tätig gewesen sei, der LG B 2 zuzuordnen und ihre Rente dementsprechend neu zu berechnen. Diese Klage hat das Sozialgericht (SG) Duisburg durch Urteil vom 14. Dezember 1967 abgewiesen, weil die Beklagte die Klägerin richtig eingestuft habe. Diese habe ihre Tätigkeit bei der Sozialversicherungskasse ohne Vorkenntnisse begonnen und sei schon nach vier Jahren Rentenprüferin geworden. Dabei hätte es sich zwar um eine verantwortliche Tätigkeit gehandelt, jedoch habe die Klägerin keinerlei Dispositionsbefugnis gehabt, wie es für eine Einstufung in die LG B 2 erforderlich sei.
Daraufhin legte die Klägerin Berufung ein. Sie sei in der streitigen Zeit vom 1. Oktober 1954 bis 31. August 1961 in eigener Verantwortung und selbständig tätig gewesen. Als damalige Rentenprüferin sei sie einer Buchhalterin bzw. Korrespondentin gleichzustellen. Da sie damals bereits über 45 Jahre alt gewesen sei, gehöre sie entsprechend dem Berufsgruppenverzeichnis der LG B 2 in diese. Daß sie in ihrem früheren Schreiben vom 8. April 1965 die Einstufung in die LG B 3 beantragt habe, beruhe auf einem Versehen.
Das Landessozialgericht (LSG) Nordrhein-Westfalen hat die Berufung durch Urteil vom 12. August 1968, auf das im einzelnen Bezug genommen wird, zurückgewiesen. Das SG habe die Klage im Ergebnis zu Recht abgewiesen. Dabei könne offen bleiben, in welche LG die Klägerin für die streitige Zeit gehöre. Aufgrund des früheren Verfahrens nach § 11 VuVO stehe ihre Einstufung bereits bindend fest (§ 77 des Sozialgerichtsgesetzes - SGG -). Die Bescheinigung vom 22. Juni 1965 sei ein Verwaltungsakt, der nach Ablauf der Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG formell unanfechtbar geworden sei, da für ihn eine förmliche Zustellung nicht vorgeschrieben sei. Damit sei zugleich die Streitfrage der Eingruppierung der Klägerin für den genannten Zeitraum endgültig entschieden.
Das LSG hat in seinem Urteil die Revision nach § 162 Abs. 1 Nr. 1 SGG zugelassen. Die Klägerin hat dieses Rechtsmittel eingelegt mit dem Antrage,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils und des Urteils des SG Duisburg vom 14. Dezember 1967 sowie des Bescheides vom 24. November 1966 die Beklagte zu verurteilen, die Zeit vom 1. Oktober 1954 bis 31. August 1961 der LG B 2 zuzuordnen und das Altersruhegeld entsprechend neu zu berechnen.
Gerügt wird eine unrichtige Anwendung des § 77 SGG. Die Bescheinigung vom 22. Juni 1965 sei kein Verwaltungsakt. Auch im übrigen könne der Auffassung des LSG nicht gefolgt werden.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II
Die Revision der Klägerin ist nicht begründet.
Zunächst ist das LSG zu Recht davon ausgegangen, daß es sich bei den von den Versicherungsträgern im Verfahren zur Wiederherstellung von Versicherungsunterlagen nach § 11 VuVO abgegebenen Erklärungen und Bescheinigungen um Verwaltungsakte handelt. Der entgegenstehenden Auffassung der Revision kann nicht gefolgt werden. Verwaltungsakt ist jede Maßnahme, die ein Verwaltungsträger als eine einseitige Tätigkeit hoheitlicher Art zur Regelung eines Einzelfalles auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts mit unmittelbarer Rechtswirkung trifft. Damit fallen die Bescheinigungen vom 10. März und 22. Juni 1965 ohne weiteres unter § 77 SGG. Daß sie an der dort normierten Bindungswirkung teilnehmen, bestätigt überdies der durch Art. 1 Nr. 4 der VO zur Änderung der VuVO vom 22. Dezember 1965 (BGBl I 2139) eingefügte Absatz 3 des § 11 VuVO. Danach binden die vom hierfür zuständigen Versicherungsträger hergestellten oder wiederhergestellten Versicherungsunterlagen diesen im gleichen Umfang wie jeden anderen Versicherungsträger, der später die Leistung festzustellen hat. Da sich die Bindungswirkung somit sogar auf Dritte erstreckt, muß sie um so mehr für die am Verfahren nach § 11 VuVO Beteiligten gelten. Sie bezieht sich sowohl auf die anerkannte Versicherungszeit als auch auf die dabei etwa vorgenommene Einstufung in Leistungsgruppen. Schließlich ist dem LSG auch darin zu folgen, daß die genannten Bescheide formell unanfechtbar geworden sind, nachdem die Klägerin innerhalb der Jahresfrist des § 66 Abs. 2 SGG dagegen nichts unternommen hat. Auf die entsprechenden Ausführungen im angefochtenen Urteil wird verwiesen.
Das LSG hat jedoch nicht beachtet, wie die Revision weiter an sich sinngemäß mit Recht geltend macht, daß die bindende Wirkung der Bescheinigungen vom 10. März 1965 und 22. Juni 1965 nicht bedeutete, daß sie für die Beklagte nunmehr völlig unabänderlich waren. Diese war nicht gehindert, von ihrer bisherigen Auffassung abzuweichen und als zuständiger Versicherungsträger später zugunsten der Klägerin eine andere, für sie bessere Regelung bei der Berechnung der Rente vorzunehmen. Selbst wenn aber die Beklagte dazu nicht bereit war, konnte sie doch wenigstens ihre bisherige Ansicht unter Berücksichtigung neuer Ermittlungsergebnisse oder bisher nicht erörterter Gesichtspunkte rechtlicher oder tatsächlicher Art auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen und die Klägerin erneut bescheiden mit der Folge, daß damit ein neuer Verwaltungsakt vorlag, der im Klagewege angefochten werden konnte (BSG 10, 248; 13, 86). Denn in der Sozialgerichtsbarkeit kann ganz allgemein auch beim Vorliegen eines bindend gewordenen Verwaltungsakts auf einen sachgerechten Antrag hin ein neuer Verwaltungsakt in der Sache ergehen, wenn der Betroffene dadurch nicht weiter belastet wird. Unter diesen Voraussetzungen kann die Verwaltung einen neuen Verwaltungsakt sogar ausschließlich zu dem Zweck erlassen, um den Rechtsweg erneut zu eröffnen und die Rechtmäßigkeit der von ihr bereits einmal ausgesprochenen Rechtsfolge der Nachprüfung durch die Gerichte zuzuführen (BSG 18, 22).
Gleichwohl hat das LSG im Ergebnis zu Recht entschieden, daß die Frage der Einstufung der Klägerin bereits endgültig geregelt ist. Die Beklagte hat keine Erklärungen abgegeben, die als Verwaltungsakt im zuvor erwähnten Sinne angesehen werden können, mit dem sie die Streitfrage sachlich neu geprüft hätte, um sie nochmals zu entscheiden und damit den Rechtsweg wieder zu eröffnen. Dies trifft insbesondere nicht für den vom LSG im Tatbestand seines Urteils in Bezug genommenen Schriftsatz vom 19. Januar 1967 zu, der als Prozeßerklärung vom Senat frei auszulegen ist (vgl. ua Baumbach/Lauterbach § 550 der Zivilprozeßordnung, Anm. 2 C). Mit ihm hat die Beklagte lediglich ihr bisheriges Verhalten bei der Rentenberechnung im Prozeß rechtfertigen wollen. Außerdem hat sie dabei auch noch darauf hingewiesen, daß der Klägerin die Bescheinigung vom 22. Juni 1965 erteilt worden sei und sie dagegen keine Einwendungen erhoben habe. Ein solches Verhalten eines Versicherungsträgers kann nicht als ein Verwaltungsakt gewertet werden, durch den der Rechtsweg neu eröffnet worden wäre (BSG 10, 218, 221). Ebensowenig kann darin ein Verzicht auf die Bindungswirkung nach § 77 SGG gesehen werden, sofern ein solcher überhaupt zulässig sein sollte (vgl. dazu auch BSG 13, 181). Damit kann dahingestellt bleiben, ob, wie die Revision meint, die Beklagte sich nicht auf die Bindungswirkung ihrer früheren Bescheinigung berufen hat. Ein Verzicht auf die Rechtsfolgen des § 77 SGG liegt jedenfalls nicht vor.
Somit kann die Revision keinen Erfolg haben, da, wie das LSG im Ergebnis zu Recht entschieden hat, auf Grund der Bindungswirkung der Bescheinigung vom 22. Juni 1965 die darin ausgesprochene Bewertung der Zeit vom 1. Oktober 1954 bis zum 31. August 1961 nicht nochmals nachgeprüft werden kann.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen