Leitsatz (amtlich)

Einem Versicherten, der sich ständig in den von Polen übernommenen deutschen Ostgebieten aufhält, werden im Geltungsbereich der RVO entrichtete Beiträge zur Rentenversicherung auch nach Inkrafttreten (1972-06-03) des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über die Grundlagen der Normalisierung ihrer gegenseitigen Beziehungen (BGBl 2 1972, 361, 651) nicht erstattet.

 

Normenkette

RVO § 1303 Abs. 1 S. 1 Fassung: 1972-10-16, § 1315 Abs. 1 Fassung: 1960-02-25, § 1317 Fassung: 1960-02-25, § 1323a Fassung: 1965-06-09; BezVtr POL Fassung: 1970-12-07

 

Tenor

Das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 14. November 1974 wird aufgehoben.

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Hamburg vom 7. März 1974 wird zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

Der Rechtsstreit wird darüber geführt, ob dem Kläger ein Anspruch auf Beitragserstattung (§ 1303 Reichsversicherungsordnung - RVO -) zusteht. Der Kläger besitzt die polnische Staatsangehörigkeit; er lebt in S (S). Für ihn wurden in der Zeit von 1959 bis 1970 im wesentlichen wegen seiner Tätigkeit als Koch auf deutschen Seeschiffen insgesamt 33 Monatsbeiträge zur Rentenversicherung der Arbeiter entrichtet.

Auf seinen im Oktober 1972 gestellten Antrag auf Beitragserstattung setzte die Beklagte einen Erstattungsbetrag fest, die Auszahlung lehnte sie jedoch ab. Die Klage hatte in der ersten Instanz keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts - SG - vom 7. März 1974), das Landessozialgericht (LSG) hat ihr jedoch stattgegeben (Urteil vom 14. November 1974). In den Entscheidungsgründen ist ua ausgeführt: Die Beklagte sei verpflichtet, den von ihr festgestellten Erstattungsbetrag auszuzahlen. Mit Inkrafttreten des Vertrages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen (Warschauer Vertrag) am 3. Juni 1972 seien die "ehemals deutschen Ostgebiete jenseits von Oder und Neiße" zum Ausland i. S. des § 1323 a der RVO geworden. Die bisherige Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) gehe zwar dahin, daß die nach dem zweiten Weltkrieg unter polnische Verwaltung geratenen deutschen Ostgebiete völker- und staatsrechtlich nicht Bestandteil Polens seien. An dieser Auffassung könne nicht mehr festgehalten werden. Die in Rede stehenden Gebiete gehörten nun zum polnischen Staatsgebiet, sie seien von der Bundesrepublik Deutschland als Ausland anzusehen. Dies folge aus Art. I des Vertrages; die Oder-Neiße-Linie bilde hiernach die westliche Staatsgrenze der Volksrepublik Polen.

Eine andere Beurteilung ergebe sich auch nicht aus Art. IV des Vertrages. Dort heiße es zwar, daß dieser Vertrag die von den Parteien früher geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen nicht berühre. Dies bedeute jedoch nur, daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands einer friedensvertraglichen Regelung für ganz Deutschland vorzubehalten sei. Dadurch werde nichts daran geändert, daß die Bundesrepublik Deutschland im eigenen Namen eine sie selbst verpflichtende Grenzregelung mit der Volksrepublik Polen vorgenommen habe. Wenn der Kläger aber hiernach im Ausland lebe, müßten ihm die Beiträge erstattet werden. In § 1323 a RVO sei ausdrücklich bestimmt, daß der Beitragserstattung nach § 1303 RVO nicht entgegenstehe, daß sich der Berechtigte im Ausland aufhalte.

Gegen diese Auffassung wendet sich die Beklagte mit der zugelassenen Revision. Sie ist der Meinung, daß die unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete auch weiterhin nicht als Ausland anzusehen seien.

Die Beklagte beantragt sinngemäß,

das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das erstinstanzliche Urteil zurückzuweisen.

Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die Revision führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückweisung der Berufung des Klägers. Das SG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger kein Anspruch auf Beitragserstattung zusteht. Dies folgt schon daraus, daß er sich in Stettin - einer Stadt, die zu den von Polen übernommenen deutschen Ostgebieten gehört - ständig aufhält. Nach der bisherigen Rechtsprechung des BSG sind Beitragserstattungen aus einem Zweig der in der Bundesrepublik Deutschland bestehenden Rentenversicherung in jene Gebiete nicht gestattet. In diesem Zusammenhang verweist der Senat auf seine Entscheidung vom 24. Februar 1965 (BSG 22, 263 = SozR Nr. 3 zu § 1317 RVO). In dem dieser Entscheidung vorangestellten Leitsatz heißt es, daß einer in der SBZ wohnenden Versicherten, die Versicherungszeiten in der Bundesrepublik Deutschland zurückgelegt hatte, aus Anlaß ihrer Heirat jedenfalls dann keine Beiträge von dem Versicherungsträger in der Bundesrepublik zu erstatten seien, wenn sie bereits zur Zeit der Antragstellung in der SBZ gewohnt habe. Dies folge daraus, daß die Träger der Rentenversicherung in der Bundesrepublik Deutschland beim Aufenthalt des Berechtigten außerhalb des Geltungsbereichs der RVO Leistungen nur dann gewähren dürften, wenn dies durch Gesetz oder zwischenstaatliche Abkommen ausdrücklich erlaubt sei. Eine gesetzliche Regelung gebe es zwar für Renten, nicht dagegen für sonstige Regelleistungen, wie z. B. Beitragserstattungen, Rentenabfindungen und Maßnahmen zur Erhaltung, Besserung und Wiederherstellung der Erwerbstätigkeit. Aus diesem Grunde seien Ansprüche, die an sich begründet wären, bei dauerndem Aufenthalt des Berechtigten im Ausland oder in der SBZ nicht zu erfüllen.

Die vorbezeichnete Entscheidung ist in der Folgezeit im Ergebnis nicht in Zweifel gezogen worden, wenn auch das BSG inzwischen von einem Teil der Begründung abgerückt ist. So hat der Große Senat des BSG am 21. Dezember 1971 entschieden, daß einer Berechtigten die Witwenrentenabfindung auch dann in das Ausland zu zahlen sei, wenn es an einer entsprechenden Regelung im übernationalen Recht oder in zwischenstaatlichen Abkommen fehle. Ansprüche aus der deutschen Sozialversicherung seien auch dann zu erfüllen, wenn es sich um Fälle "mit Auslandsberührung" handele (vgl. BSG 33, 280 = SozR Nr. 13 zu § 1303 RVO).

An dem Grundsatz, daß es auf den Wohnsitz des Berechtigten dann entscheidend ankommt, wenn es sich - wie hier - um Fragen nicht des internationalen sondern des interlokalen Sozialversicherungsrechts handelt, hat der Große Senat des BSG jedoch ausdrücklich festgehalten. Unter Hinweis auf die in BSG 3, 290 ff veröffentlichte Entscheidung hat er ua ausgeführt, daß das einheitliche Sozialversicherungsgebiet Deutschlands nach dem zweiten Weltkrieg auseinandergerissen und in mehrere eigenständige Sozialversicherungssysteme aufgespalten worden sei. In den Fällen, in denen diese Aufspaltung eine entscheidende Rolle spiele, habe eine Lösung nur darin gefunden werden können, daß man nunmehr jeden Anspruchsberechtigten als schicksalsmäßig verhaftet mit der Entwicklung des Sozialversicherungsrechts an seinem Wohnsitz angesehen und ihn für die Geltendmachung von Sozialversicherungsansprüchen an die jeweils zuständigen Versicherungsträger verwiesen habe. - Zwar beziehen sich diese Ausführungen auf das Gebiet der DDR. Für die unter polnischer Verwaltung stehenden deutschen Ostgebiete kann jedoch nichts anderes gelten.

Aus dem Gesetz ist zu ersehen, daß der Gesetzgeber sich an dieser Auffassung orientiert hat. Er hat nach Erlaß der vorbezeichneten Entscheidung des BSG vom 24. Februar 1965 durch das Rentenversicherungs-Änderungsgesetz vom 9. Juni 1965 die Vorschrift des § 1323 a in die RVO eingefügt. Dort heißt es, daß der Beitragserstattung nicht entgegenstehe, daß sich der Berechtigte im Ausland aufhalte. Zugleich hat er damit - weil er insoweit keine ausdrückliche gesetzliche Regelung getroffen hat - zu erkennen gegeben, daß hinsichtlich der Gebiete, die, ohne daß sie Ausland sind, außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes liegen, die bisherige Rechtsprechung des BSG nicht beanstandet werde. Der Senat sieht daher keinen Anlaß, diese Rechtsprechung aufzugeben (vgl. zu der Dreiteilung "Geltungsbereich der RVO", "Ausland", Gebiete "außerhalb der RVO" auch das zur Veröffentlichung vorgesehene Urteil des erkennenden Senats vom 30. September 1976 - 4 RJ 87/74 -), auch nicht für den Fall, daß - wie hier - die Beiträge an einen Versicherungsträger der Bundesrepublik entrichtet worden sind; § 1323 a RVO stellt nur auf den Aufenthaltsort ab, nicht dagegen darauf, welcher Versicherungsträger die Beiträge entgegengenommen hat.

Eine Beitragserstattung könnte hiernach nur in Betracht kommen, wenn die deutschen Ostgebiete inzwischen Ausland geworden wären. Der Aufenthalt im Ausland steht - wie bereits dargetan - nach der ausdrücklichen Regelung des § 1323 a RVO der Beitragserstattung nicht entgegen.

Stettin liegt nicht im Ausland, sondern gehört zu den von Polen übernommenen deutschen Ostgebieten. Daran hat sich auch durch das Inkrafttreten des Warschauer Vertrages nichts geändert. Hierzu hat der Senat in dem vorbezeichneten Urteil vom 30. September 1976 ua folgendes ausgeführt: "Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat in dem Beschluß vom 7. Juli 1975 - 1 BvR 274, 209/72, 195, 194, 184/73 und 247/72 (BVerfGE 40, 141, 164, 170) ausgeführt, bestimmend für die Auslegung des Vertrages sei der politisch-geschichtliche Hintergrund und sein Ziel, politische Beziehungen des Bundes zu regeln, indem er einem neuen außenpolitischen Konzept die Bahn bereite und auf dem Gebiet der Ostpolitik eine auf Dauer angelegte, der Entspannung und Friedenssicherung dienende Politik einleiten solle. Der Warschauer Vertrag befaßt sich in Art. I mit "Grenzregelungen" (BVerfGE aaO S. 171). Für das Verständnis der Vereinbarungen in Art. I, worüber der Senat für die gesetzliche Rentenversicherung zu entscheiden hat, ist Art. IV des Vertrages zu berücksichtigen. Danach berührt der Vertrag nicht die von den Parteien früher geschlossenen oder sie betreffenden zweiseitigen oder mehrseitigen internationalen Vereinbarungen. Die Drei Mächte haben in dem Notenwechsel vom 19. November 1970 zum Warschauer Vertrag die Auffassung geteilt, "daß der Vertrag die Rechte und Verantwortlichkeiten der Vier Mächte, wie sie in den bekannten Verträgen und Vereinbarungen ihren Niederschlag gefunden haben, nicht berührt und nicht berühren kann" (BGBl 1972 II 364 bis 368). Zu diesen früheren Vereinbarungen gehört der Deutschlandvertrag vom 26. Mai 1952. In Art. 2 des Deutschlandvertrages haben sich die Drei Mächte "die bisher von ihnen ausgeübten oder innegehabten Rechte und Verantwortlichkeiten in bezug auf Berlin und auf Deutschland als Ganzes einschließlich der Wiedervereinigung Deutschlands und einer friedensvertraglichen Regelung" vorbehalten. In Art. 7 des Deutschlandvertrages haben die Unterzeichnerstaaten erklärt, sie seien "darüber einig, daß ein wesentliches Ziel ihrer gemeinsamen Politik eine zwischen Deutschland und seinen ehemaligen Gegnern frei vereinbarte friedensvertragliche Regelung für ganz Deutschland ist, welche die Grundlage für einen dauerhaften Frieden bilden soll", und "daß die endgültige Festlegung der Grenzen Deutschlands bis zu dieser Regelung aufgeschoben werden muß". Diese früheren Vereinbarungen sind durch Art. IV des Warschauer Vertrages ausdrücklich in den Vertrag hineingenommen worden. Entsprechend dieser vertraglichen Beschränkung konnte die Bundesrepublik Deutschland über den staats- und völkerrechtlichen Status der von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete nicht verfügen. Ihr Vertragspartner konnte sie nicht für befugt halten, Verfügungen zu treffen, die eine friedensvertragliche Regelung vorwegnehmen (vgl. BVerfGE aaO S. 141, 171 bis 175).

Diese Sach- und Rechtslage schließt es aus, Art. I des Warschauer Vertrages so zu verstehen, daß die deutschen Ostgebiete "Ausland" geworden seien.

Der staats- und völkerrechtlichen Lage entspricht die rentenversicherungsrechtliche Lage: Die von Polen übernommenen deutschen Ostgebiete sind durch Art. I des Warschauer Vertrages nicht Ausland im Sinne der §§ 1315 ff RVO mit der Wirkung geworden, daß die Rentenversicherungsträger durch den Warschauer Vertrag verpflichtet worden wären, Renten an die in diesen Gebieten wohnenden Versicherten auszuzahlen. Die durch die Zerreißung des Deutschen Reichs notwendig gewordene "Entwirrung" der rentenversicherungsrechtlichen Beziehungen von Versicherten mit Wohnsitz in jenen Ostgebieten ist durch den Warschauer Vertrag noch nicht bewirkt worden. Der Vertrag enthält nichts, was unmittelbar die gesetzliche Rentenversicherung betrifft. Wie das BVerfG dargelegt hat, folgt aus dem Zweck des Vertrages, das "politische Klima" für weitere Schritte zu schaffen, daß ein übereinstimmender Wille der Vertragspartner, konkrete rechtliche Handlungs- und Verhaltenspflichten - hier auf dem Gebiet der gesetzlichen Rentenversicherung - zu begründen, nur angenommen werden darf, wenn und soweit dies der Vertragstext unzweideutig zum Ausdruck bringt (BVerfG aaO S. 141, 164). Der Warschauer Vertrag hat aber durch Art. III nur die Grundlage für das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen über Renten- und Unfallversicherung vom 9. Oktober 1975 (BGBl 1976 II 393, 396) geschaffen."

Ebenso wie hiernach Rentenzahlungen in die deutschen Ostgebiete ausgeschlossen sind, findet auch eine Beitragserstattung dorthin nicht statt. Auch insoweit ist erst durch das Abkommen vom 9. Oktober 1975, in Kraft getreten am 1. Mai 1976 (BGBl II 463), eine Regelung getroffen worden, dahin nämlich, daß Beiträge in Fällen der vorliegenden Art nicht zu erstatten sind (vgl. Art. 6 Abs. 2 des Abkommens).

Nach alledem ist die Revision der Beklagten in vollem Umfang begründet.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1648928

BSGE, 252

NJW 1977, 1935

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