Entscheidungsstichwort (Thema)
Wahrscheinlicher Berufsweg und tatsächliche Feststellung. Ermittlung des Vergleichseinkommens für Berufsschadensausgleich. individualisierende und typisierende Ermittlungen
Orientierungssatz
1. Die Feststellung des LSG, der Beschädigte wäre ohne die Schädigung wahrscheinlich Beamter des höheren Dienstes geworden, ist eine tatsächliche Feststellung, an die das BSG nach SGG § 163 gebunden ist, außer wenn in Bezug auf eine solche Feststellung zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht werden. Dem steht nicht entgegen, daß der festgestellte Geschehensablauf hier gerade nicht tatsächlich stattgefunden haben darf und ohne die Schädigung nur mit einiger Wahrscheinlichkeit, nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, stattgefunden haben muß (hypothetischer Berufsweg). Denn nach dem Sinn des SGG § 163 soll das BSG als Revisionsgericht an die Erkenntnisse des Tatsachengerichts gebunden sein, die durch das Sammeln von Tatsachen (Erforschung des Sachverhalts nach SGG § 103 und Beweiswürdigung nach SGG § 128) erlangt worden sind. Um eine solche Erkenntnis handelt es sich auch bei der Feststellung des hypothetischen Berufswegs.
2. Zur Ermittlung des Vergleichseinkommens für einen Beschädigten (hier: ehemaliger Major der Schutzpolizei), der nicht als Laufbahnbeamter, sondern nur als Aufstiegsbeamter wahrscheinlich in den höheren Dienst gelangt wäre.
3. Für die Einordnung in eine der Laufbahngruppen der BVG§30Abs3u4u5DV § 4 Abs 1 darf kein Unterschied gemacht werden, je nachdem, ob der Beschädigte als Laufbahnbeamter oder als Aufstiegsbeamter in eine bestimmte Laufbahngruppe gelangt wäre. Eine "individuelle Differenzierung" innerhalb der einzelnen Laufbahngruppen - also je nachdem, ob es sich um einen Laufbahnbeamten oder einen Aufstiegsbeamten handelt - ist nicht möglich (Anschluß an BSG vom 1970-09-16 10 RV 240/68 = BVBl 1971, 80).
Normenkette
SGG § 163 Fassung: 1953-09-03; BVG § 30 Abs 4; BVG§30Abs3u4u5DV § 2 Abs 1 Fassung: 1977-01-18, § 4 Abs 1 Fassung: 1977-01-18; SGG § 103 Fassung: 1974-07-30, § 128 Fassung: 1953-09-03, § 164 Abs 2 S 3 Fassung: 1974-07-30
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Entscheidung vom 30.10.1979; Aktenzeichen L 4 V 122/78) |
SG Mainz (Entscheidung vom 28.07.1978; Aktenzeichen 15 V 111/77) |
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darum, ob das Vergleichseinkommen des Klägers beim Berufsschadensausgleich nach der Besoldungsgruppe A 11, A 14 oder A 15 des Bundesbesoldungsgesetzes (BBesG) zu berechnen ist.
Nach der Reifeprüfung im Jahre 1934 leistete der Kläger Dienst bei der SS-Verfügungstruppe. 1937 wurde er unter Berufung in das Beamtenverhältnis zum Leutnant der Schutzpolizei ernannt, 1939 wurde er Oberleutnant der Schutzpolizei. Im Jahre 1940 wurde er Beamter auf Lebenszeit. Aufgrund seiner militärischen Leistungen wurde er zum Hauptmann und schließlich zum Major befördert. 1944 wurde er verwundet. Seine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) beträgt 50 vH. Wegen seiner Verwundungen wurde er 1953 für dauernd polizeidienstuntauglich erklärt. Gemäß § 30 Abs 2 Buchst a des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) wurde die MdE 1976 wegen besonderen beruflichen Betroffenseins auf 60 vH erhöht.
In einem Verwaltungsgerichtsverfahren wegen seiner Versorgungsbezüge verpflichtete sich 1967 das damals beklagte Land Berlin durch Vergleich, bei der Regelung der Versorgungsbezüge des Klägers von dessen Rechtsstellung als Hauptmann auszugehen. Seitdem bezieht er Versorgungsbezüge in entsprechender Höhe (Besoldungsgruppe A 11).
Seinen im Jahre 1975 gestellten Antrag auf Berufsschadensausgleich wies der Beklagte zurück: Das Vergleichseinkommen des Klägers sei das eines Beamten des gehobenen Dienstes nach der Besoldungsgruppe A 11 des BBesG. Seine Beamtenversorgungsbezüge errechneten sich aus derselben Besoldungsgruppe des Landes (Bescheid des Versorgungsamts Mainz vom 2. August 1976, Widerspruchsbescheid des Landesversorgungsamts Rheinland-Pfalz vom 6. Juli 1977).
Seine Klage auf Berufsschadensausgleich unter Zugrundelegung der Besoldungsgruppe A 15 hatte keinen Erfolg (Urteil des Sozialgerichts -SG- Mainz vom 28. Juli 1978).
Das Landessozialgericht (LSG) hat der Klage stattgegeben. Es ist nach Beweiserhebung durch Behördenauskünfte zu dem Ergebnis gekommen, der Kläger hätte wahrscheinlich bei gesunder Heimkehr als Aufstiegsbeamter die Besoldungsgruppe A 14 erreicht. Es sei aber anders als bei Laufbahnbeamten unwahrscheinlich, daß er die Besoldungsgruppe A 15 erreicht hätte. Die pauschalierende Regelung des § 4 der Verordnung zu § 30 Abs 3 und 4 BVG vom 11. April 1974 (BGBl I 927) -DVO 1974- und vom 1. Januar 1976 an Verordnung zu § 30 Abs 3 bis 5 BVG vom 18. Januar 1977 (BGBl I 162) -DVO 1977- gebiete es trotzdem, der Berechnung des Berufsschadensausgleichs die Besoldungsgruppe A 15 zugrunde zu legen (Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 30. Oktober 1979).
Mit der von dem LSG zugelassenen Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 30 Abs 3 und 4 BVG sowie des § 4 Abs 1 Buchst d DVO 1977 und des § 14 Abs 1 Nr 4 DVO 1977.
Er beantragt (sinngemäß),
das Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom
30. Oktober 1979 aufzuheben und die Berufung
des Klägers gegen das Urteil des SG Mainz
vom 28. Juli 1978 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die beigeladene Bundesrepublik Deutschland stellt keinen Antrag, meint aber, das LSG habe die Rechtsfrage, deretwegen die Revision zugelassen worden sei, zutreffend entschieden.
Die Beteiligten sind damit einverstanden, daß der Senat ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheidet (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Die Revision ist nicht begründet. Sie ist zurückzuweisen.
Nicht zum Erfolg führen die Einwendungen des Beklagten gegen die Feststellung des LSG, der Kläger wäre ohne die Schädigung wahrscheinlich Beamter des höheren Dienstes geworden. Diese Feststellung ist eine tatsächliche Feststellung, an die das Bundessozialgericht (BSG) nach § 163 SGG gebunden ist, außer wenn in Bezug auf eine solche Feststellung zulässige und begründete Revisionsgründe vorgebracht werden. Dem steht nicht entgegen, daß der festgestellte Geschehensablauf hier gerade nicht tatsächlich stattgefunden haben darf und ohne die Schädigung nur mit einiger Wahrscheinlichkeit, nicht mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, stattgefunden haben muß (hypothetischer Berufsweg). Denn nach dem Sinn des § 163 SGG soll das BSG als Revisionsgericht an die Erkenntnisse des Tatsachengerichts gebunden sein, die durch das Sammeln von Tatsachen (Erforschung des Sachverhalts nach § 103 SGG und Beweiswürdigung nach § 128 SGG erlangt worden sind. Um eine solche Erkenntnis handelt es sich auch bei der Feststellung des hypothetischen Berufswegs.
Als zulässige Revisionsgründe kommen nur Verfahrensrügen in Betracht, die beachtlich sind, wenn außer der verletzten Rechtsnorm die Tatsachen bezeichnet werden, die den Verfahrensmangel ergeben (§ 164 Abs 2 Satz 3 SGG).
Der Vortrag des Beklagten dazu, ob es wahrscheinlich sei, daß der Kläger in den höheren Dienst aufgerückt wäre, stellt keine solche Verfahrensrüge dar. Der Beklagte weist weder auf die Verfahrensnorm hin, die verletzt sein könnte, noch bezeichnet er die Tatsachen, die diese Verletzung ergeben könnten. Aus dem Gesamtzusammenhang seines Vortrags folgt allerdings, daß er die Beweiswürdigung des LSG beanstanden will. Diese Beanstandung könnte aber nur dann als Verfahrensrüge beurteilt werden, wenn dargelegt worden wäre, daß das LSG die Grenzen seines Rechts der freien Beweiswürdigung (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) überschritten habe. Aus den Darlegungen der Revision ergibt sich jedoch nur, daß der Beklagte das Ergebnis der Beweiswürdigung für falsch hält. Es kann offen bleiben, ob die für diese Meinung vorgebrachten Gründe beachtlich sind. Der Beklagte macht nicht geltend, daß das LSG sein Recht zur freien Beweiswürdigung überschritten haben könnte. Der Beklagte trägt insbesondere nicht vor, daß das LSG bei der Beweiswürdigung gegen Denkgesetze verstoßen, daß es das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht gewürdigt oder den Begriff der Wahrscheinlichkeit verkannt habe. Schließlich ist aus dem Vortrag des Beklagten nicht zu entnehmen, daß sich das LSG, nachdem es vier Ministerien gehört hatte, nach § 103 SGG hätte gedrängt fühlen müssen, weitere Auskünfte einzuholen. Nach den eingehenden Ermittlungen zu den Lebensverhältnissen, den Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen konnte er sich ohne Verfahrensverstoß auf die Auskunft des Bundesinnenministers stützen, wonach es berechtigt sei anzunehmen, daß der Kläger das Amt des Oberstleutnants (Besoldungsgruppe A 14) erreicht hätte.
Das angefochtene Urteil ist auch sachlich-rechtlich nicht zu beanstanden. Als Vergleichseinkommen ist bei der Berechnung des Berufsschadensausgleichs des Klägers die Besoldungsgruppe A 15 zugrunde zu legen. Das folgt aus der Feststellung des LSG, daß der zur Zeit des Antrags auf Berufsschadensausgleich über 47 Jahre alte Kläger ohne die Schädigung wahrscheinlich im öffentlichen Dienst tätig wäre (§ 2 Abs 1 Buchst b DVO 1974 = § 2 Abs 1 Nr 2 DVO 1977) und hier als Aufstiegsbeamter in den höheren Dienst (§ 4 Abs 1 Buchst d DVO 1974 = § 4 Abs 1 Nr 4 DVO 1977) gelangt wäre. Das Vergleichseinkommen ist bei Beamten des höheren Dienstes vom vollendeten 47. Lebensjahr an das um den Ortszuschlag erhöhte Grundgehalt der Besoldungsgruppe A 15.
Daß der Kläger nicht als Laufbahnbeamter, sondern nur als Aufstiegsbeamter in den höheren Dienst hätte gelangt sein können und hier wahrscheinlich nur die Besoldungsgruppe A 14 erreicht hätte, ändert daran nichts.
Nach § 2 Abs 1 DVO hat das Gericht den ohne die Beschädigung wahrscheinlich ausgeübten Beruf des Beschädigten "nach seinen Lebensverhältnissen, Kenntnissen und Fähigkeiten und dem bisher betätigten Arbeits- und Ausbildungswillen" zu ermitteln. Hierbei ist (nach Abs 3 Satz 2 dieser Vorschrift) auch ein durch die Schädigung verhinderter Aufstieg im Beruf zu berücksichtigen. Das Ergebnis dieser auf die Besonderheiten des Einzelfalls bezogenen Prüfung - individuelle Prüfung - ist es, den Beschädigten in eine bestimmte Berufsgruppe einzuordnen. Die Berufsgruppen, die für die Einordnung zur Verfügung stehen, hat die Verordnung in den §§ 3 bis 5 aufgeführt. Hierauf weist § 2 Abs 1 DVO ausdrücklich hin.
Mit der Einordnung des Klägers in die Berufsgruppe des § 4 Abs 1 Nr 4 DVO (höherer Dienst) ist die individuelle Prüfung abgeschlossen. Der zweite Schritt zur Ermittlung des Vergleichseinkommens ist durch die Vorschriften, auf die § 2 Abs 1 DVO verweist (§§ 3 bis 5 DVO) vorgezeichnet. Diesen Vorschriften liegen Erfahrungen über den durchschnittlichen Berufserfolg in den einzelnen Berufsgruppen zugrunde (BSG SozR 3640 § 6 Nr 2). Damit ist es im allgemeinen wahrscheinlich, daß der einzelne Beschädigte das Einkommen erzielt hätte, das diese Vorschriften festlegen. Der Verordnungsgeber verzichtet aber darauf, daß dies in jedem Einzelfall wahrscheinlich ist. Zu diesem Verzicht war er durch die gesetzliche Ermächtigung befugt (vgl BSG Urteil vom 27. September 1968, SozR Nr 4 zu § 3 DVO zu § 30 Abs 3 und 4 BVG vom 30. Juli 1964 = SGb 1969, 182 mit zustimmender Anmerkung von Nederle). Nur zugunsten des Beschädigten ist bei nachweislich besonders gutem Berufserfolg eine Abweichung von den verallgemeinernden Regelungen der §§ 3 bis 5 DVO möglich (vgl § 6 DVO). Zu Lasten des Beschädigten ist eine "Herabstufung" wegen eines im Einzelfall wahrscheinlich geringeren Berufserfolges nicht vorgesehen. Das haben der früher für die Kriegsopferversorgung zuständige 8. Senat (in seinem Urteil vom 27. September 1968, aaO) und der erkennende Senat (vgl Urteil vom 16. Dezember 1976 - SozR 3640 § 4 Nr 3 und Urteil vom 16. September 1970 - 10 RV 240/68 -, BVBl 1971, 80) bereits ausdrücklich entschieden.
In dem zuletzt genannten Urteil hat der Senat entschieden, daß für die Einordnung in eine der Laufbahngruppen des § 4 Abs 1 DVO (in der damaligen Fassung) kein Unterschied gemacht werden dürfe, je nachdem, ob der Beschädigte als Laufbahnbeamter oder als Aufstiegsbeamter in eine bestimmte Laufbahngruppe gelangt wäre. Hier hat der Senat auch schon zum Ausdruck gebracht, daß eine "individuelle Differenzierung" innerhalb der einzelnen Laufbahngruppen - also je nachdem, ob es sich um einen Laufbahnbeamten oder einen Aufstiegsbeamten handelt - nicht möglich ist. Diese Ansicht hat, soweit ersichtlich, keinen Widerspruch gefunden. Auch die Beteiligten wenden sich nicht dagegen. Die beigeladene Bundesrepublik schließt sich sogar ausdrücklich dieser Ansicht an.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen