Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 24. April 1996 und des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 1995 aufgehoben.
Der Bescheid der Beklagten vom 4. November 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 1994 wird abgeändert; die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin ab 1. Dezember 1991 Altersruhegeld unter Berücksichtigung der nach Art 6§ 5 FANG in der Fassung des Art 16 Nr 2 des Rentenreformgesetzes 1992 zu bewertenden Fremdbeitragszeiten zu zahlen.
Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist der monatliche Wert eines Rechts auf Altersruhegeld (ARG) für Bezugszeiten ab 1. Dezember 1991.
Die 1921 in C. … geborene Klägerin ist Verfolgte des Nationalsozialismus iS des § 1 des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Sie wanderte im Jahre 1950 von Rumänien nach Israel aus; seither besitzt sie die israelische Staatsangehörigkeit.
Die Beklagte bewilligte der Klägerin mit Bescheid vom 4. November 1993 ab 1. Dezember 1991 ein Recht auf ARG; bei der Feststellung des monatlichen Wertes dieses Rechtes bewertete sie die Beitragszeiten ua nach Wirtschaftsbereichen gemäß § 22 Abs 1 iVm Anlage 17 des Fremdrentengesetzes (FRG) in der ab 1. Juli 1990 geltenden Fassung; dies führte im Vergleich zu dem Recht, das bis zum 30. Juni 1990 gegolten hatte, zu einem niedrigeren monatlichen Rentenwert. Den Widerspruch gegen diesen Bescheid wies die Beklagte zurück (Widerspruchsbescheid vom 16. August 1994).
Mit der Klage hat die Klägerin die Bewertung der FRG-Zeiten gemäß § 22 FRG in der bis zum 30. Juni 1990 geltenden Fassung begehrt. Das Sozialgericht (SG) Berlin hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 31. August 1995). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin mit Urteil vom 24. April 1996 zurückgewiesen. Es hat im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe keinen Anspruch auf die Bewertung ihrer FRG-Zeiten nach Art 6 § 5 des Fremdrenten- und Auslandsrenten-Neuregelungsgesetzes (FANG). Nach Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 FANG sei Voraussetzung hierfür, daß der Berechtigte bis zum 30. Juni 1990 seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ohne das Beitrittsgebiet genommen habe, was bei der Klägerin jedoch nicht der Fall gewesen sei. Art 4 Abs 1 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit (DISVA) greife nicht ein; die Vorschrift stelle nicht wie Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 FANG auf den Zuzug, sondern auf den Aufenthalt im Vertragsstaat ab.
Die Klägerin hat die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt eine fehlerhafte Auslegung und Anwendung von Art 6 § 4 Abs 3 und Art 6 § 5 FANG iVm § 22 FRG in der ab 1. Juli 1990 geltenden Fassung sowie von § 4 Abs 1 DISVA. Zur Begründung nimmt sie Bezug auf die Entscheidung des Senats vom 29. April 1997 (4 RA 123/95) und weist darauf hin: Ihr müsse Vertrauensschutz gemäß Art 6 § 4 Abs 3 FANG gewährt werden. Jedenfalls sei Art 4 Abs 1 DISVA einschlägig. Die Vorschrift regele, daß israelische Staatsangehörige, die in Israel ihren gewöhnlichen Aufenthalt hätten, auch insoweit den Staatsangehörigen der Bundesrepublik Deutschland gleichgestellt seien, soweit die Entstehung von Ansprüchen auf Leistungen oder die Zahlung von Geldleistungen vom Inlandsaufenthalt abhängig gemacht werde. Die Gleichstellung sei umfassend, wenn israelische Antragsteller über das DISVA grundsätzlich so zu behandeln seien, als wenn sie sich in der Bundesrepublik Deutschland aufhielten, so müsse diese Gleichstellung, wenn sie zwischen den Vertragspartnern gewollt gewesen sei, auch so umfassend sein, daß Sachverhalte, wie sie in der Übergangsvorschrift nach Art 6 § 4 Abs 3 FANG geregelt seien, davon erfaßt würden. Nicht überzeugend sei die reine Wortinterpretation des LSG.
Die Klägerin beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Berlin vom 24. April 1996 und des Sozialgerichts Berlin vom 31. August 1995 aufzuheben und den Bescheid der Beklagten vom 4. November 1993 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. August 1994 abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, die in diesem Bescheid anerkannten Fremdbeitragszeiten nach Art 6 § 5 FANG idF des Art 16 Nr 2 des Rentenreformgesetzes 1992 zu bewerten.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Klägerin ist begründet; die Urteile der Vorinstanzen sind aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des angefochtenen Bescheides (in der Gestalt des Widerspruchsbescheides) zu verurteilen, der Klägerin ab 1. Dezember 1991 ARG unter Berücksichtigung der gemäß Art 6 § 5 FANG zu bewertenden Fremdbeitragszeiten zu zahlen.
1. Der monatliche Wert des Rechts auf Rente bestimmt sich nach den Vorschriften des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG), weil Bezugszeiten ab Dezember 1991 umstritten sind, also Zeiträume vor dem Inkrafttreten des Sechsten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB VI) am 1. Januar 1992; für Bezugszeiten seit Januar 1992 gilt ebenfalls das AVG im Hinblick auf § 300 Abs 2 SGB VI.
Gemäß §§ 31, 32 AVG ist der Jahresbetrag des ARG für jedes anrechnungsfähige Versicherungsjahr 1,5 vH der für den Versicherten maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage, dh der Vomhundertsatz der allgemeinen Bemessungsgrundlage, der dem Verhältnis entspricht, in dem während der zurückgelegten „Beitragszeiten” das Bruttoarbeitsentgelt des Versicherten zu dem durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten der Rentenversicherung gestanden hat. Bei Versicherten, die das Vertreibungsschicksal erlitten haben und deswegen für den Verlust ihrer rentenversicherungsrechtlichen Position im Herkunftsgebiet nach dem FRG entschädigt werden, stehen die im Herkunftsgebiet zurückgelegten Beitragszeiten den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleich (§ 15 Abs 1 Satz 1 FRG). § 22 FRG (aF und nF) bestimmt, welche fingierten Bruttoarbeitsentgelte zur Ermittlung dieser gleichgestellten Beitragszeiten heranzuziehen sind.
2. Die Bruttoarbeitsentgelte, die für die (FRG-)Beitragszeiten die persönliche Bemessungsgrundlage der Klägerin mitbestimmen, sind nicht nach § 22 FRG nF iVm der Anlage 17 hierzu festzustellen. Vielmehr ist die Bewertung dieser Zeiten nach Art 6 § 5 FANG idF des Art 16 Nr 2 des Rentenreformgesetzes (RRG) 1992, also aufgrund insoweit modifizierter Anwendung des FRG nF ohne Anwendung des Branchenmodells vorzunehmen (s zur Begründung dieser Modifizierung BT-Drucks 11/5530 S 67 zu Abschn B). Nach Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 und Art 6 § 5 Abs 1 Satz 1 Buchst b FANG sind den nach §§ 15, 16 FRG anzurechnenden Zeiten noch die – höheren – Bruttoarbeitsentgelte der Tabellen der Anlage 9 oder der Anlage 11 zuzuordnen.
Fälle der vorliegenden Art werden zwar nicht vom Wortlaut des Art 6 § 4 Abs 2 und Abs 3 FANG erfaßt, insoweit liegt jedoch eine – bei verfassungsorientierter Auslegung des Gesetzes – planwidrige Regelungslücke vor. Sie ist durch eine entsprechende Anwendung des Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 FANG zu schließen (vgl hierzu näher: Urteil des Senats vom 29. April 1997 – 4 RA 123/95).
Art 6 § 4 FANG nF enthält das – im Kern verfassungsrechtliche gebotene – Übergangsrecht zu den grundlegenden Änderungen des FRG, die seit Juli 1990 (für Rentenzahlungsansprüche frühestens zum 1. Juli 1990) und beginnend mit Art 16 RRG 1992 eingeleitet worden sind. Die (inzwischen mehrfach geänderte) Vorschrift enthält in ihrem Abs 1 zunächst eine – hier nicht einschlägige – Härteklausel. In Abs 2 und Abs 3 aaO sind die allgemeinen Übergangsbestimmungen, in Abs 3a aaO eine – hier nicht beachtliche – Ergänzung dazu aufgeführt. In Abs 4 aaO wird für den Fall, daß ausnahmsweise die Anwendung des § 22 FRG nF zu einer höheren Rente führt als die Anwendung des Art 6 § 5 FANG (also inhaltlich des alten § 22 FRG), eine Betragsbegrenzung unter bestimmten Voraussetzungen auf den niedrigeren Betrag vorgeschrieben.
Art 6 § 4 Abs 2 und 3 FANG unterscheidet zwischen drei Stufen der Anwendung des FRG: Das „alte” FRG bleibt uneingeschränkt anwendbar, wenn vor dem 1. Juli 1990 ein „Anspruch auf Zahlung” einer Rente bestand (Art 6 § 4 Abs 2 FANG). Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 FANG verweist auf Art 6 § 5 FANG, wonach das Bruttoarbeitsentgelt unter Ausschluß des Branchenmodells zu bestimmen ist (zweite Stufe). Die dritte Stufe besteht in der uneingeschränkten Anwendung der Neufassung des FRG; sie ist vorgesehen, wenn ein Vollrecht auf Rente erstmals nach dem 31. Dezember 1995 entsteht (Art 6 § 4 Abs 3 Satz 3 aaO).
Die Klägerin wird zwar vom Wortlaut dieser Regelungen des Art 6 § 4 FANG nicht erfaßt, jedoch ist Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 (und Satz 2) FANG entsprechend (lückenfüllend) anzuwenden; die Anwendbarkeit der Vorschrift ergibt sich auch aus Art 4 Abs 1 DISVA (3).
Den Gesetzesmaterialien ist kein Hinweis dafür zu entnehmen, das Konzept des Art 6 § 4 FANG ziele darauf ab, vor allem die Mehrzahl der vertriebenen Verfolgten, die im Ausland wohnt, aber auch eine Vielzahl von deutschen Versicherten, die am 30. Juni 1990 ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Ausland (ohne das Beitrittsgebiet und die Vertreibungsgebiete) genommen hatten, von der vertrauensschützenden Übergangsregelung auszunehmen. Durchgängiges Thema der Beratungen war, wie das FRG nach Beendigung der Nachkriegszeit und unter den geänderten Verhältnissen bei den sogenannten Rentenneuzugängen sachgerechter und kostensparender – unter Wahrung von Vertrauensschutz – zu gestalten sei (stellv BT-Drucks 11/5530 S 67 f; BT-Drucks 12/630 S 15). An keiner Stelle wird deutlich, es sei auch nur ansatzweise erwogen worden, den vertriebenen Verfolgten und den anderen Anwartschaftsrechtsinhabern im Ausland mit bereits aus dem FRG erworbenen Rechtsvorteilen solle ein geringerer Vertrauensschutz in der Übergangszeit bis Ende 1995 gewährt werden als den Anwartschaftsrechtsinhabern, die sich gewöhnlich in Deutschland aufhielten. Der Stichtag diente vielmehr ausschließlich dazu, die rechtliche Grenze zwischen den Personen zu markieren, die bereits aufgrund der räumlichen Anwendbarkeit des FRG Rechtsvorteile hieraus erlangt hatten, und denjenigen, die erst nach dem Stichtag durch Zuzug in das „alte” Bundesgebiet unter den (räumlichen) Anwendungsbereich des FRG gelangten und sich dann gewöhnlich hier aufhielten.
Vor diesem Hintergrund ist die planwidrige Lückenhaftigkeit der Vertrauensschutzregelung des Art 6 § 4 Abs 2 und Abs 3 FANG deutlich. Es lag – wie ausgeführt – nicht im Konzept des am 18. Dezember 1989 beschlossenen RRG 1992, vor allem die vertriebenen Verfolgten im Ausland dazu aufzufordern, bis Ende Juni 1990 in das damalige Bundesgebiet zu ziehen oder – in aller Regel – eine Wertminderung ihrer bereits erworbenen Rechtspositionen ohne vertrauensschützende Übergangsregelung hinzunehmen. Es gibt vielmehr keinen Hinweis darauf, daß die Rechtsstellung der Anwartschaftsrechtsinhaber mit Wohnsitz im Ausland und bereits erlangten Rechtsvorteilen aus dem FRG überhaupt bedacht worden ist. Da keine verfassungsrechtlich haltbare Alternative aufgezeigt oder sonst ersichtlich ist, daß diese Lücke anders geschlossen werden könnte als durch entsprechende Anwendung des Art 6 § 4 Abs 3 Satz 1 und 2 FANG, hätte die Beklagte diese Vorschriften im Falle der Klägerin entsprechend anwenden müssen.
3. Dieses Ergebnis folgt hier auch aus Art 4 Abs 1 DISVA, einem zweiseitigen völkerrechtlichen Vertrag. Danach gelten (soweit das Abkommen nichts anderes bestimmt) die Rechtsvorschriften eines Vertragsstaates, nach denen die Entstehung von Ansprüchen auf Leistungen oder die Gewährung von Leistungen oder die Zahlung von Geldleistungen vom Inlandsaufenthalt abhängig ist, nicht für die in Art 3 Abs 1 DISVA genannten Personen, die sich im Gebiet des anderen Vertragsstaates aufhalten. Nach dieser Vorschrift wäre die Klägerin als Staatsangehörige Israels mit ständigem Aufenthalt in Israel wie ein im – „alten” – Bundesgebiet wohnender deutscher Versicherter zu behandeln. Nach Nr 3 Buchst a Spiegelstrich 2 des Schlußprotokolls zum DISVA bestand zwischen den Vertragsparteien insoweit Einverständnis, daß Art 4 Abs 1 DISVA nicht die deutschen Rechtsvorschriften über Leistungen aus Versicherungszeiten berührt, die nicht nach Bundesrecht zurückgelegt sind. Damit wird allerdings nur klargestellt, daß zB FRG-Zeiten bei einem in Israel lebenden israelischen Staatsbürger nach denselben Vorschriften rechtliche Bedeutung haben, die für einen versicherten deutschen Staatsbürger gelten, der sich in Israel oder in einem anderen Staat gewöhnlich aufhält.
Nach alledem war der Bescheid der Beklagten rechtswidrig, soweit die Anwendung vertrauensschützenden Übergangsrechts, nämlich diejenige des Art 6 § 5 FANG, abgelehnt worden ist. Die Revision hat daher Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen